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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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die Idee einer der slavisch-russischen verwandten selbständigen lettischen Cultur ge¬
schwärmt; die Unterrichtssprache in den baltischen Gymnasien soll nicht das
Deutsche sein, der gebildete Leite oder Este nicht mehr zum Deutschen werden
-- im Bunde mit den Nüssen sollen sich die Urbewohner der Ostseeküste eman-
cipiren und zu einer eignen Civilisation aufschwingen. Um den Klagen über
den gänzlichen Mangel russischer Unterrichtsanstalten in den Ostseeprovinzen ein
Ende zu machen, wurde neuerdings die Begründung eines besonderen russischen
Gymnasiums zu Riga angeordnet; diese Maßregel ist in Moskau höchst un¬
günstig aufgenommen worden -- denn nicht auf die Schöpfung russischer, son¬
dern aus die Vernichtung deutscher Schulanstalten ist es abgesehen. "Die Deutschen
in Liv-, Est- und Kurland", so heißt es. "spielen dieselbe Rolle, wie die Polen
in Litthauen. Sie müssen beseitigt werben, weil sie eine selbständige aristokra¬
tische Cultur repräsentiren und die Letten und Ehlen in diese hineinziehen.
Des demokratischen Rußland Aufgabe ist, mit Hilfe des Gemeindebesitzes auch
hier die herrschende Klasse zu stürzen und eine neue demokratische und specifisch
russische Ordnung der Dinge zu begründen." -- Je nach ihrem wahren Werth
und ihrer Bedeutung für das deutsche Element an der Ostsee werbe" die ver¬
schiedenen Institutionen desselben angefeindet und verketzert; während die Most.
Ztg. (die erst seit der polnischen Frage mit den Demokraten gemeinsame Sache
macht und auch bezüglich des Gemeindebesitzes von der Siawophilcntheorie ab¬
weichende Ansichten hat, sich aber mit viel Geschick der herrschenden Strömung,
insoweit diese von ihr unabhängig ist. zu accomodiren weiß) von den specifi¬
schen Adclsprivilcgicu mit gewisser Zurückhaltung spricht und die Abschaffung
feudaler Ungeheuerlichkeiten (wie z. B. des adligen Güterbesitzrechtö) nur un¬
gern gesehen hat. verfolgt sie alle diejenigen Einrichtungen, welche dem gesamm-
ten Lande zu Gute kommen u"d für Nesriltatc der deutschen Entwicklung im
modernen Sinne gelten können, mit entschiedener, unerbittlicher Feindschaft, --
nichts aber so erbittert, wie die dorpatcr Universität. Die russische Demokratie
sieht diese Hochschule mit Recht als die festeste Burg der deutschen Bildung
nud des Protestantismus an und scheut darum kein Mittel, um dieselbe schlei¬
fen oder doch in eine Nnssisicalionsanstalt verwandeln zu lassen. Genau ebenso
verhält es sich mit der lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen. scheut man
sich auch im Jahrhundert der Toleranz und Aufklärung. Dragonaden im Stil
Ludwigs XIV. zu verlangen, so fehlt es doch nicht an versteckten und verkapp¬
ten Angriffen gegen ihren Fortbestand und ihre Freiheit. Unbekümmert um
die offenkundige Thatsache, daß die griechisch-orthodoxen Letten und Ehlen nichts
sehnlicher wünschen, als von dem Zwang, der sie an diese Gemeinschaft bindet,
frei zu werden, verkündet man mit kecker Stirn, die griechische Kirche in Liv-
land werde aufs schwerste bedrückt und von dem Fanatismus lutherischer
Geistlichen bedrängt; im Interesse des Reichs sei es nothwendig, die politische


Grenzboten IV. 1867- 48

die Idee einer der slavisch-russischen verwandten selbständigen lettischen Cultur ge¬
schwärmt; die Unterrichtssprache in den baltischen Gymnasien soll nicht das
Deutsche sein, der gebildete Leite oder Este nicht mehr zum Deutschen werden
— im Bunde mit den Nüssen sollen sich die Urbewohner der Ostseeküste eman-
cipiren und zu einer eignen Civilisation aufschwingen. Um den Klagen über
den gänzlichen Mangel russischer Unterrichtsanstalten in den Ostseeprovinzen ein
Ende zu machen, wurde neuerdings die Begründung eines besonderen russischen
Gymnasiums zu Riga angeordnet; diese Maßregel ist in Moskau höchst un¬
günstig aufgenommen worden — denn nicht auf die Schöpfung russischer, son¬
dern aus die Vernichtung deutscher Schulanstalten ist es abgesehen. „Die Deutschen
in Liv-, Est- und Kurland", so heißt es. „spielen dieselbe Rolle, wie die Polen
in Litthauen. Sie müssen beseitigt werben, weil sie eine selbständige aristokra¬
tische Cultur repräsentiren und die Letten und Ehlen in diese hineinziehen.
Des demokratischen Rußland Aufgabe ist, mit Hilfe des Gemeindebesitzes auch
hier die herrschende Klasse zu stürzen und eine neue demokratische und specifisch
russische Ordnung der Dinge zu begründen." — Je nach ihrem wahren Werth
und ihrer Bedeutung für das deutsche Element an der Ostsee werbe» die ver¬
schiedenen Institutionen desselben angefeindet und verketzert; während die Most.
Ztg. (die erst seit der polnischen Frage mit den Demokraten gemeinsame Sache
macht und auch bezüglich des Gemeindebesitzes von der Siawophilcntheorie ab¬
weichende Ansichten hat, sich aber mit viel Geschick der herrschenden Strömung,
insoweit diese von ihr unabhängig ist. zu accomodiren weiß) von den specifi¬
schen Adclsprivilcgicu mit gewisser Zurückhaltung spricht und die Abschaffung
feudaler Ungeheuerlichkeiten (wie z. B. des adligen Güterbesitzrechtö) nur un¬
gern gesehen hat. verfolgt sie alle diejenigen Einrichtungen, welche dem gesamm-
ten Lande zu Gute kommen u»d für Nesriltatc der deutschen Entwicklung im
modernen Sinne gelten können, mit entschiedener, unerbittlicher Feindschaft, —
nichts aber so erbittert, wie die dorpatcr Universität. Die russische Demokratie
sieht diese Hochschule mit Recht als die festeste Burg der deutschen Bildung
nud des Protestantismus an und scheut darum kein Mittel, um dieselbe schlei¬
fen oder doch in eine Nnssisicalionsanstalt verwandeln zu lassen. Genau ebenso
verhält es sich mit der lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen. scheut man
sich auch im Jahrhundert der Toleranz und Aufklärung. Dragonaden im Stil
Ludwigs XIV. zu verlangen, so fehlt es doch nicht an versteckten und verkapp¬
ten Angriffen gegen ihren Fortbestand und ihre Freiheit. Unbekümmert um
die offenkundige Thatsache, daß die griechisch-orthodoxen Letten und Ehlen nichts
sehnlicher wünschen, als von dem Zwang, der sie an diese Gemeinschaft bindet,
frei zu werden, verkündet man mit kecker Stirn, die griechische Kirche in Liv-
land werde aufs schwerste bedrückt und von dem Fanatismus lutherischer
Geistlichen bedrängt; im Interesse des Reichs sei es nothwendig, die politische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/377>, abgerufen am 27.09.2024.