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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Abschaffung der deutschen Sprache u. s. w. verlangten. Der schwerfällige Or¬
ganismus der alten ständisch gegliederten und einander gegenseitig entfremdeten
städtischen und ritterschaftlichen Korporationen war einer raschen Erledigung
und energischen Behandlung der brennenden Fragen von vornherein ungünstig;
als der. General-Gouverneur im Herbst 1864 Deputirte aller Ritterschaften und
Städte einberief, um von ihnen die Grundlagen einer neuen Gerichtsverfassung
und Prvceßordnung berathen zu lassen, begann ein nicht endenwollender Hader
über das Maß der Concessionen, welche man gegenseitig von einander forderte,
und es bedürfte der ganzen Wucht energischen Drucks von Außen, damit eine
Art von Resultat erzielt wurde.

Die inneren Schwierigkeiten, deren Ueberwindung es bei diesen Reform¬
versuchen galt, waren aber in der That größer, als auswärtige Beobachter und
Kritiker meinen mochten, die Grenze zwischen bloßen Standesprärogativen
und werthvollen Privilegien der Autonomie im einzelnen Falle außerordentlich
schwer festzustellen. Nach altem tractatenmäßigen Recht wählt der Adel unter
vezichungsweiser Concurrenz der Bauergemeinden die Richter für das flache
Land, während die städtischen Richter von den Magistraten angestellt werden.
Nach den Prinzipien modernen Staatsrechts gebührt das Recht zur Richterer-
mnnung allein dem Staat und müssen dieselben Gerichte für alle Staatsglieder
ohne Unterschied des Standes competent sein. Zum Opfer jener ständischen
Gerichte und zur Herstellung allgemeiner Bezirksgerichte war man auch in den
Ostseeprovinzen bereit, -- alle Parteien aber wünschten das Recht zur Richter¬
wahl der Bevölkerung zu erhalten, um das La"d gegen den Eindrang fremder,
mit den örtlichen Verhältnissen unbekannter oder denselben feindlicher Beamten
zu schützen. War es aber wahrscheinlich, daß die Regierung diesen Wünschen
Rechnung tragen würde? Hatten die Conservativen ganz Unrecht, wenn sie
behaupteten, sobald der Adel auf sein Privilegium zur Richterwahl verzichte
und dasselbe mit den übrigen Ständen zu theilen Miene mache, werde der
Staat als sein Erbe eintreten, da von einem allgemeinen Wahlrecht der Lan-
desbewohner nichts in den Privilegien und Tractaten zu finden sei. Und selbst
wenn das nicht geschähe -- in welcher Weise sollte das allgemeine Wahlrecht
getheilt und ausgeübt werden? Sollte der Bauer, der besondere Schützling
der Regierung, an demselben Theil nehmen? Wenn er früher seine Gemeinde¬
richter und die Assessoren der Kreisgcrichte gewählt hatte, so war das leicht zu
bewerkstelligen gewesen. Wie aber sollten 900.000 Bauern darüber consultirt wer¬
den, wen sie zum Präsidenten oder Assessor des Hofgerichts wünschten? Bei dem
Mangel eines gemeinsamen ständischen Organs (auf dem livländischen Landtage ist
neben der Ritterschaft nur die Stadt Riga vertreten) hätte es selbst mit einem
von Edelleuten und städtischen Bürgern gemeinsam exerzirtcn Wahlrecht große
Schwierigkeiten gehabt. -- Aehnlich stand es aus einer Anzahl anderer Gebiete.


Abschaffung der deutschen Sprache u. s. w. verlangten. Der schwerfällige Or¬
ganismus der alten ständisch gegliederten und einander gegenseitig entfremdeten
städtischen und ritterschaftlichen Korporationen war einer raschen Erledigung
und energischen Behandlung der brennenden Fragen von vornherein ungünstig;
als der. General-Gouverneur im Herbst 1864 Deputirte aller Ritterschaften und
Städte einberief, um von ihnen die Grundlagen einer neuen Gerichtsverfassung
und Prvceßordnung berathen zu lassen, begann ein nicht endenwollender Hader
über das Maß der Concessionen, welche man gegenseitig von einander forderte,
und es bedürfte der ganzen Wucht energischen Drucks von Außen, damit eine
Art von Resultat erzielt wurde.

Die inneren Schwierigkeiten, deren Ueberwindung es bei diesen Reform¬
versuchen galt, waren aber in der That größer, als auswärtige Beobachter und
Kritiker meinen mochten, die Grenze zwischen bloßen Standesprärogativen
und werthvollen Privilegien der Autonomie im einzelnen Falle außerordentlich
schwer festzustellen. Nach altem tractatenmäßigen Recht wählt der Adel unter
vezichungsweiser Concurrenz der Bauergemeinden die Richter für das flache
Land, während die städtischen Richter von den Magistraten angestellt werden.
Nach den Prinzipien modernen Staatsrechts gebührt das Recht zur Richterer-
mnnung allein dem Staat und müssen dieselben Gerichte für alle Staatsglieder
ohne Unterschied des Standes competent sein. Zum Opfer jener ständischen
Gerichte und zur Herstellung allgemeiner Bezirksgerichte war man auch in den
Ostseeprovinzen bereit, — alle Parteien aber wünschten das Recht zur Richter¬
wahl der Bevölkerung zu erhalten, um das La»d gegen den Eindrang fremder,
mit den örtlichen Verhältnissen unbekannter oder denselben feindlicher Beamten
zu schützen. War es aber wahrscheinlich, daß die Regierung diesen Wünschen
Rechnung tragen würde? Hatten die Conservativen ganz Unrecht, wenn sie
behaupteten, sobald der Adel auf sein Privilegium zur Richterwahl verzichte
und dasselbe mit den übrigen Ständen zu theilen Miene mache, werde der
Staat als sein Erbe eintreten, da von einem allgemeinen Wahlrecht der Lan-
desbewohner nichts in den Privilegien und Tractaten zu finden sei. Und selbst
wenn das nicht geschähe — in welcher Weise sollte das allgemeine Wahlrecht
getheilt und ausgeübt werden? Sollte der Bauer, der besondere Schützling
der Regierung, an demselben Theil nehmen? Wenn er früher seine Gemeinde¬
richter und die Assessoren der Kreisgcrichte gewählt hatte, so war das leicht zu
bewerkstelligen gewesen. Wie aber sollten 900.000 Bauern darüber consultirt wer¬
den, wen sie zum Präsidenten oder Assessor des Hofgerichts wünschten? Bei dem
Mangel eines gemeinsamen ständischen Organs (auf dem livländischen Landtage ist
neben der Ritterschaft nur die Stadt Riga vertreten) hätte es selbst mit einem
von Edelleuten und städtischen Bürgern gemeinsam exerzirtcn Wahlrecht große
Schwierigkeiten gehabt. — Aehnlich stand es aus einer Anzahl anderer Gebiete.


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[0372] Abschaffung der deutschen Sprache u. s. w. verlangten. Der schwerfällige Or¬ ganismus der alten ständisch gegliederten und einander gegenseitig entfremdeten städtischen und ritterschaftlichen Korporationen war einer raschen Erledigung und energischen Behandlung der brennenden Fragen von vornherein ungünstig; als der. General-Gouverneur im Herbst 1864 Deputirte aller Ritterschaften und Städte einberief, um von ihnen die Grundlagen einer neuen Gerichtsverfassung und Prvceßordnung berathen zu lassen, begann ein nicht endenwollender Hader über das Maß der Concessionen, welche man gegenseitig von einander forderte, und es bedürfte der ganzen Wucht energischen Drucks von Außen, damit eine Art von Resultat erzielt wurde. Die inneren Schwierigkeiten, deren Ueberwindung es bei diesen Reform¬ versuchen galt, waren aber in der That größer, als auswärtige Beobachter und Kritiker meinen mochten, die Grenze zwischen bloßen Standesprärogativen und werthvollen Privilegien der Autonomie im einzelnen Falle außerordentlich schwer festzustellen. Nach altem tractatenmäßigen Recht wählt der Adel unter vezichungsweiser Concurrenz der Bauergemeinden die Richter für das flache Land, während die städtischen Richter von den Magistraten angestellt werden. Nach den Prinzipien modernen Staatsrechts gebührt das Recht zur Richterer- mnnung allein dem Staat und müssen dieselben Gerichte für alle Staatsglieder ohne Unterschied des Standes competent sein. Zum Opfer jener ständischen Gerichte und zur Herstellung allgemeiner Bezirksgerichte war man auch in den Ostseeprovinzen bereit, — alle Parteien aber wünschten das Recht zur Richter¬ wahl der Bevölkerung zu erhalten, um das La»d gegen den Eindrang fremder, mit den örtlichen Verhältnissen unbekannter oder denselben feindlicher Beamten zu schützen. War es aber wahrscheinlich, daß die Regierung diesen Wünschen Rechnung tragen würde? Hatten die Conservativen ganz Unrecht, wenn sie behaupteten, sobald der Adel auf sein Privilegium zur Richterwahl verzichte und dasselbe mit den übrigen Ständen zu theilen Miene mache, werde der Staat als sein Erbe eintreten, da von einem allgemeinen Wahlrecht der Lan- desbewohner nichts in den Privilegien und Tractaten zu finden sei. Und selbst wenn das nicht geschähe — in welcher Weise sollte das allgemeine Wahlrecht getheilt und ausgeübt werden? Sollte der Bauer, der besondere Schützling der Regierung, an demselben Theil nehmen? Wenn er früher seine Gemeinde¬ richter und die Assessoren der Kreisgcrichte gewählt hatte, so war das leicht zu bewerkstelligen gewesen. Wie aber sollten 900.000 Bauern darüber consultirt wer¬ den, wen sie zum Präsidenten oder Assessor des Hofgerichts wünschten? Bei dem Mangel eines gemeinsamen ständischen Organs (auf dem livländischen Landtage ist neben der Ritterschaft nur die Stadt Riga vertreten) hätte es selbst mit einem von Edelleuten und städtischen Bürgern gemeinsam exerzirtcn Wahlrecht große Schwierigkeiten gehabt. — Aehnlich stand es aus einer Anzahl anderer Gebiete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/372>, abgerufen am 27.09.2024.