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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Zeitungstisch und mehreren Kartentischen, die Frauen sind auf Hausbesuche be¬
schränkt, wenn nicht etwa ein mit Hilfe der adeligen Nachbarn ermöglichter
Fastnachtsball die Raume des Clubs auch ihnen erschließt oder eine durchrei¬
sende Schauspielergesellschaft Jung und Alt um ihre Produktionen versammelt.
Die großen Entfernungen, welche diese Landstädte von einander trennen, und
der vollständige Mangel an Eisenbahnen bedingen es, daß dieselben auch in der
Gegenwart ungleich isolirter sind, als deutsche Städte von entsprechender Größe
und Bedeutung. Bezüglich ihrer geistigen Bedürfnisse ausschließlich auf die
Bücher und Zeitschriften angewiesen, welche in den Provinzialstädten erscheinen
oder dem Geschmack derselben entsprechen, erhalten die baltischen Kleinstädter
die moderne Bildung erst aus zweiter Hand; nur was in Riga, Dorpat, Reval
oder Mitau Aufsehen erregt, dringt in diese stillen Oasen deutschen Bürger-
thums, höhere Autoritäten, als die, welche in der Landesstadt den Ton ange¬
ben, kennt man im Innern der Provinz kaum. Bei der Armuth des äußeren
Lebens spielt die Lektüre eine ungleich größere Rolle als in den Mittelpunkten
der Kultur. Die empfangenen Eindrücke wirken nachhaltiger, die Empfänglich¬
keit ist frischer und läuft nicht Gefahr, durch steten Wechsel verflacht zu werden,
das Gemüthsleben ist reicher und tiefer entwickelt, als im Westen, wo die Men¬
schen dichter bei einander wohnen und der Einzelne kaum in die Wagschaale
fällt. Während des endlosen Winters, der Wald und Feld mit dichter Schnee¬
decke verhüllt und die kleinste Reise mit Schwierigkeiten umgiebt, von denen
der Bewohner des mittleren Europa kaum eine Vorstellung hat, sind die Ge¬
bildeten unter den Kleinstädtern und Landbewohnern der baltischen Küste ledig¬
lich auf die Bücher und Musikalien, welche der Buchhändler der nächsten
großen Stadt für sie ausgesucht hat, -- und auf sich selbst angewiesen. Der
Cultus unserer großen Dichter und Componisten wird darum mit einer Wärme
und Innigkeit getrieben, die aus dem Gefühl entspringt, daß das Leben ohne
die Gaben dieser Unsterblichen in der That nur ein halbes wäre. Leute, die
in ihrem Leben nie ein Orchester oder Streichquartett gehört haben, denen ein¬
zelne rigaer Aufführungen des Don Carlos oder der Iphigenia die größten
künstlerischen Erinnerungen des Lebens sind, schöpfen hier aus mittelmäßigen
Clavierbearbeitungen Beethovenscher Symphonien oder zerlesenen Exemplaren
alter Göthecmsgaben die höchsten Erbauungen und sie werden nicht müde,
ihre Herzen immer wieder an Schöpfungen zu erwärmen, die an den Stät¬
ten ihrer Entstehung kaum mehr beachtet sind, weil man sie bis zum Ueber-
druß gehört oder gesehen hat. Während die bildende Kunst fast nur dem
Namen nach existirt und man die großen Maler und Bildhauer bloß aus Bü-
chern kennt, ist der Sinn für Musik allgemein geweckt und ausgebildet, und die
gelegentlichen Besuche, welche ein aus Gliedern des rigaer Orchesters beste¬
hendes Streichquartett neuerdings in den kleinen Städten Liv- und Kur-


Zeitungstisch und mehreren Kartentischen, die Frauen sind auf Hausbesuche be¬
schränkt, wenn nicht etwa ein mit Hilfe der adeligen Nachbarn ermöglichter
Fastnachtsball die Raume des Clubs auch ihnen erschließt oder eine durchrei¬
sende Schauspielergesellschaft Jung und Alt um ihre Produktionen versammelt.
Die großen Entfernungen, welche diese Landstädte von einander trennen, und
der vollständige Mangel an Eisenbahnen bedingen es, daß dieselben auch in der
Gegenwart ungleich isolirter sind, als deutsche Städte von entsprechender Größe
und Bedeutung. Bezüglich ihrer geistigen Bedürfnisse ausschließlich auf die
Bücher und Zeitschriften angewiesen, welche in den Provinzialstädten erscheinen
oder dem Geschmack derselben entsprechen, erhalten die baltischen Kleinstädter
die moderne Bildung erst aus zweiter Hand; nur was in Riga, Dorpat, Reval
oder Mitau Aufsehen erregt, dringt in diese stillen Oasen deutschen Bürger-
thums, höhere Autoritäten, als die, welche in der Landesstadt den Ton ange¬
ben, kennt man im Innern der Provinz kaum. Bei der Armuth des äußeren
Lebens spielt die Lektüre eine ungleich größere Rolle als in den Mittelpunkten
der Kultur. Die empfangenen Eindrücke wirken nachhaltiger, die Empfänglich¬
keit ist frischer und läuft nicht Gefahr, durch steten Wechsel verflacht zu werden,
das Gemüthsleben ist reicher und tiefer entwickelt, als im Westen, wo die Men¬
schen dichter bei einander wohnen und der Einzelne kaum in die Wagschaale
fällt. Während des endlosen Winters, der Wald und Feld mit dichter Schnee¬
decke verhüllt und die kleinste Reise mit Schwierigkeiten umgiebt, von denen
der Bewohner des mittleren Europa kaum eine Vorstellung hat, sind die Ge¬
bildeten unter den Kleinstädtern und Landbewohnern der baltischen Küste ledig¬
lich auf die Bücher und Musikalien, welche der Buchhändler der nächsten
großen Stadt für sie ausgesucht hat, — und auf sich selbst angewiesen. Der
Cultus unserer großen Dichter und Componisten wird darum mit einer Wärme
und Innigkeit getrieben, die aus dem Gefühl entspringt, daß das Leben ohne
die Gaben dieser Unsterblichen in der That nur ein halbes wäre. Leute, die
in ihrem Leben nie ein Orchester oder Streichquartett gehört haben, denen ein¬
zelne rigaer Aufführungen des Don Carlos oder der Iphigenia die größten
künstlerischen Erinnerungen des Lebens sind, schöpfen hier aus mittelmäßigen
Clavierbearbeitungen Beethovenscher Symphonien oder zerlesenen Exemplaren
alter Göthecmsgaben die höchsten Erbauungen und sie werden nicht müde,
ihre Herzen immer wieder an Schöpfungen zu erwärmen, die an den Stät¬
ten ihrer Entstehung kaum mehr beachtet sind, weil man sie bis zum Ueber-
druß gehört oder gesehen hat. Während die bildende Kunst fast nur dem
Namen nach existirt und man die großen Maler und Bildhauer bloß aus Bü-
chern kennt, ist der Sinn für Musik allgemein geweckt und ausgebildet, und die
gelegentlichen Besuche, welche ein aus Gliedern des rigaer Orchesters beste¬
hendes Streichquartett neuerdings in den kleinen Städten Liv- und Kur-


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[0342] Zeitungstisch und mehreren Kartentischen, die Frauen sind auf Hausbesuche be¬ schränkt, wenn nicht etwa ein mit Hilfe der adeligen Nachbarn ermöglichter Fastnachtsball die Raume des Clubs auch ihnen erschließt oder eine durchrei¬ sende Schauspielergesellschaft Jung und Alt um ihre Produktionen versammelt. Die großen Entfernungen, welche diese Landstädte von einander trennen, und der vollständige Mangel an Eisenbahnen bedingen es, daß dieselben auch in der Gegenwart ungleich isolirter sind, als deutsche Städte von entsprechender Größe und Bedeutung. Bezüglich ihrer geistigen Bedürfnisse ausschließlich auf die Bücher und Zeitschriften angewiesen, welche in den Provinzialstädten erscheinen oder dem Geschmack derselben entsprechen, erhalten die baltischen Kleinstädter die moderne Bildung erst aus zweiter Hand; nur was in Riga, Dorpat, Reval oder Mitau Aufsehen erregt, dringt in diese stillen Oasen deutschen Bürger- thums, höhere Autoritäten, als die, welche in der Landesstadt den Ton ange¬ ben, kennt man im Innern der Provinz kaum. Bei der Armuth des äußeren Lebens spielt die Lektüre eine ungleich größere Rolle als in den Mittelpunkten der Kultur. Die empfangenen Eindrücke wirken nachhaltiger, die Empfänglich¬ keit ist frischer und läuft nicht Gefahr, durch steten Wechsel verflacht zu werden, das Gemüthsleben ist reicher und tiefer entwickelt, als im Westen, wo die Men¬ schen dichter bei einander wohnen und der Einzelne kaum in die Wagschaale fällt. Während des endlosen Winters, der Wald und Feld mit dichter Schnee¬ decke verhüllt und die kleinste Reise mit Schwierigkeiten umgiebt, von denen der Bewohner des mittleren Europa kaum eine Vorstellung hat, sind die Ge¬ bildeten unter den Kleinstädtern und Landbewohnern der baltischen Küste ledig¬ lich auf die Bücher und Musikalien, welche der Buchhändler der nächsten großen Stadt für sie ausgesucht hat, — und auf sich selbst angewiesen. Der Cultus unserer großen Dichter und Componisten wird darum mit einer Wärme und Innigkeit getrieben, die aus dem Gefühl entspringt, daß das Leben ohne die Gaben dieser Unsterblichen in der That nur ein halbes wäre. Leute, die in ihrem Leben nie ein Orchester oder Streichquartett gehört haben, denen ein¬ zelne rigaer Aufführungen des Don Carlos oder der Iphigenia die größten künstlerischen Erinnerungen des Lebens sind, schöpfen hier aus mittelmäßigen Clavierbearbeitungen Beethovenscher Symphonien oder zerlesenen Exemplaren alter Göthecmsgaben die höchsten Erbauungen und sie werden nicht müde, ihre Herzen immer wieder an Schöpfungen zu erwärmen, die an den Stät¬ ten ihrer Entstehung kaum mehr beachtet sind, weil man sie bis zum Ueber- druß gehört oder gesehen hat. Während die bildende Kunst fast nur dem Namen nach existirt und man die großen Maler und Bildhauer bloß aus Bü- chern kennt, ist der Sinn für Musik allgemein geweckt und ausgebildet, und die gelegentlichen Besuche, welche ein aus Gliedern des rigaer Orchesters beste¬ hendes Streichquartett neuerdings in den kleinen Städten Liv- und Kur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/342>, abgerufen am 27.09.2024.