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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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besten Jahre in der Armee verbringen zu lassen, wer darauf ausging, eine
Landescarriöre zu machen, d. h. einen adligen Richterposten zu bekleiden oder
als Landrath und Landmarschall Politik zu treiben, mußte "in Dorpat" ge¬
wesen sein, und dem Junker, der die Schulbank direct mit dem Sattel ver¬
tauscht hatte, um von diesem aus die väterlichen Fluren schlecht und recht zu
verwalten, konnte es Passiren, daß er über die Achsel angesehen und bei Seite
geschoben wurde, wenn der Nachbar in dem Pastor einen Studiengesähr-
ten erkannte und mit dem vertraulichen "Du" begrüßte, das jeder Commilitone
zu fordern ein Recht hat. Mit der Zunahme der Zahl der studirten Leute
steigerten sich die Bildungsansprüche, das Land war bezüglich seiner geistigen
Bedürfnisse nicht mehr auf die Dienste derer angewiesen, die der Zufall an die
Ostseeküste verschlug. Die Prediger brachten jetzt eine gründliche Kenntniß von
Land und Leuten in das Amt mit, denn sie waren der Mehrzahl nach Landes¬
kinder, die die Anschauungen und Sprache des Landmanns von Jugend auf
kannten, das heimische Recht, bis dahin eine nur wenigen Auserlesenen be¬
kannte Geheimlehre, die mühsam aus verstaubten Folianten zusammengesucht
werden mußte, wurde zum Rang einer selbständigen Wissenschaft erhoben und
systematisch verarbeitet. Handbücher und Zeitschriften ließen sich angelegen sein,
den überkommenen Rechtsstoff zu säubern und zu sichten, es gab bald kein Ge¬
richt rühr, das nicht ein oder mehrere rechtskundige Glieder gezählt hätte.
Neben den beträchtlich vermehrten öffentlichen Lehranstalten entstanden von
süchtigen einheimischen Fachmännern geleitete Privatschulen, die gelehrte Bil¬
dung und ihre Vertreter waren wohlfeiler und dadurch für größere Kreise zu¬
gänglich geworden. Schon während der zwanziger Jahre fanden sich neben den
aus Deutschland eingewanderten Professoren einzelne Inländer, welche den aca-
demischen Purpur erwarben; war die Zahl der productiven Elemente unter
denselben auch nicht übergroß, so wußten sie als fleißige Docenten und gesin¬
nungstüchtige Patrioten ihrem Vaterlande wichtige Dienste zu erweisen.

In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nach der Julirevolution soll¬
ten sie Gelegenheit haben, das zu beweisen. Durch revolutionäre Vorgänge
auf deutschen Universitäten mißtrauisch geworden, sah das streng-militärische
Regiment des Kaisers Nikolaus die academische Freiheit der Embachhochschule
schon seit lange als eine gefährliche Anomalie an; daß Professoren und Stu¬
denten einander als Commilitonen betrachteten, daß die vorgeschriebene Uniform
wenn überhaupt nur nachlässig getragen und von der studirenden Jugend
durch selbstgeschaffene Abzeichen erhebt wurde, daß die Lehr- und Hörfreiheit
jeder Controlle entbehrte, der Senat sich selbst'ergänzte und daß der academische
Brauch Lehrern wie Schülern für ein heiligeres Gesetz galt, als das "Aller¬
höchst" bestätigte Reglement für die Studirenden, mußte dem damaligen Unter¬
richtsminister Grafen Uwarow als unzulässige Verletzung von Ordnung und


besten Jahre in der Armee verbringen zu lassen, wer darauf ausging, eine
Landescarriöre zu machen, d. h. einen adligen Richterposten zu bekleiden oder
als Landrath und Landmarschall Politik zu treiben, mußte „in Dorpat" ge¬
wesen sein, und dem Junker, der die Schulbank direct mit dem Sattel ver¬
tauscht hatte, um von diesem aus die väterlichen Fluren schlecht und recht zu
verwalten, konnte es Passiren, daß er über die Achsel angesehen und bei Seite
geschoben wurde, wenn der Nachbar in dem Pastor einen Studiengesähr-
ten erkannte und mit dem vertraulichen „Du" begrüßte, das jeder Commilitone
zu fordern ein Recht hat. Mit der Zunahme der Zahl der studirten Leute
steigerten sich die Bildungsansprüche, das Land war bezüglich seiner geistigen
Bedürfnisse nicht mehr auf die Dienste derer angewiesen, die der Zufall an die
Ostseeküste verschlug. Die Prediger brachten jetzt eine gründliche Kenntniß von
Land und Leuten in das Amt mit, denn sie waren der Mehrzahl nach Landes¬
kinder, die die Anschauungen und Sprache des Landmanns von Jugend auf
kannten, das heimische Recht, bis dahin eine nur wenigen Auserlesenen be¬
kannte Geheimlehre, die mühsam aus verstaubten Folianten zusammengesucht
werden mußte, wurde zum Rang einer selbständigen Wissenschaft erhoben und
systematisch verarbeitet. Handbücher und Zeitschriften ließen sich angelegen sein,
den überkommenen Rechtsstoff zu säubern und zu sichten, es gab bald kein Ge¬
richt rühr, das nicht ein oder mehrere rechtskundige Glieder gezählt hätte.
Neben den beträchtlich vermehrten öffentlichen Lehranstalten entstanden von
süchtigen einheimischen Fachmännern geleitete Privatschulen, die gelehrte Bil¬
dung und ihre Vertreter waren wohlfeiler und dadurch für größere Kreise zu¬
gänglich geworden. Schon während der zwanziger Jahre fanden sich neben den
aus Deutschland eingewanderten Professoren einzelne Inländer, welche den aca-
demischen Purpur erwarben; war die Zahl der productiven Elemente unter
denselben auch nicht übergroß, so wußten sie als fleißige Docenten und gesin¬
nungstüchtige Patrioten ihrem Vaterlande wichtige Dienste zu erweisen.

In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nach der Julirevolution soll¬
ten sie Gelegenheit haben, das zu beweisen. Durch revolutionäre Vorgänge
auf deutschen Universitäten mißtrauisch geworden, sah das streng-militärische
Regiment des Kaisers Nikolaus die academische Freiheit der Embachhochschule
schon seit lange als eine gefährliche Anomalie an; daß Professoren und Stu¬
denten einander als Commilitonen betrachteten, daß die vorgeschriebene Uniform
wenn überhaupt nur nachlässig getragen und von der studirenden Jugend
durch selbstgeschaffene Abzeichen erhebt wurde, daß die Lehr- und Hörfreiheit
jeder Controlle entbehrte, der Senat sich selbst'ergänzte und daß der academische
Brauch Lehrern wie Schülern für ein heiligeres Gesetz galt, als das „Aller¬
höchst" bestätigte Reglement für die Studirenden, mußte dem damaligen Unter¬
richtsminister Grafen Uwarow als unzulässige Verletzung von Ordnung und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/332>, abgerufen am 27.09.2024.