Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

soll noch heute in Göttingen sprichwörtlich sein. Wohl wurde auf diese Weise
wenigstens der Zusammenhang der Colonie mit dem Mutterlande wirksam
erhalten, -- aber der Mangel einer einheimischen Stätte der Wissenschaft
machte sich doch vielfach geltend. Nur reiche Edelleute, Kaufherrn und Beamte
konnten ihre Söhne über das Meer senden, die mittelmäßigen Söhne des Glücks
mußten sich mit dem begnügen, was sich auf dem Lyceo zu Riga, auf der re-
valer Dom- und Nitterschule oder der rigaer Stadtschule erlernen ließ. Die
Mehrzahl der Aerzte, Prediger und Advokaten wanderte aus Deutschland ein,
die studirten Söhne des Landes waren durch den jahrelangen Aufenthalt im
Auslande häusig der Mmath entfremdet. Am schwersten litt der lettische
und chemische Bauer, dessen Prediger häusig ins Amt traten, ohne ein Wort
von ihrer Sprache zu verstehen. Die Noth war so groß, daß jedes Subject,
das vorgab, "auf Universitäten gewesen zu sein", für anstellungfähig galt
und es nach des livländischen Topographen Hupel (l782) Bericht häufig Ad-
vokaten gab, "die nichts als eine Profession erlernt", Aerzte, "die auf der Uni-
versität blos die Theologie betrieben", Prediger, "die vielleicht alles, nur keine
theologischen Collegien gehört haben, mehrere Sprachen zwar, nur von den beiden
Grundsprachen kein Wort verstehen". Diesem "betrübten" Zustande wurde erst
im Jahre 1802 durch Begründung der dorpater Hochschule ein Ende gemacht.

Im Herzen der drei baltischen Lande gelegen, von einer freundlichen
Landschaft umgeben, aus deren Mitte die alte Domruine herausragt, war die
kleine Embachstadt zur Aufnahme einer deutschen Universität wie geschaffen.
Die ersten Lehrer derselben waren fast sämmtlich Einwanderer aus Norddeutschland,
nur zum Theil Männer Von wirklicher Wissenschaftlichkeit, der Mehrzahl nach Ge¬
lehrte, deren Lehrtalent ebenso zweifelhaft erschien, als ihr Forschungseifer, --
aber des Jubels über die neue Errungenschaft war kein Ende und ein Jahrzehnt
lang nahm das ganze Land an den Leiden und Freuden ihrer alma, mater
einen fast kindlichen Antheil. Von dem humanen Sinn Alexanders I. beson¬
ders begünstigt, erwuchs die junge Pflanzschule rasch zu fröhlichem Gedeihen;
frei wie die Wissenschaft selbst war auch ihr Jünger und schon der eine Um-
stand, daß Liv- und Estländer, rigischc Bürgersöhne und kurische Barone. Enkel
a't-patrizischer Geschlechter und Söhne bäurischer "Halbdeutscher" Gelegenheit
Zu brüderlichem Verkehr fanden und während der schönsten Jahre ihres Lebens
v°n einem Bande umschlossen gewesen waren, dessen Kraft sich oft durch das
Kauze spätere Leben bewährte, war von unermeßlichen Werth. Das baltische
Bürgerthum, dessen materielle Stütze der Reichthum des rigaer Handels aus¬
gemacht hatte, gewann an der Universität einen geistigen Halt und Hebel, an
der Wissenschaft eine Waffe gegen die Uebermacht des Adels; dieser selbst
fand Gelegenheit zu erhöhter ^ Werthschätzung und gesteigerter Theilnahme für
die Bildung der Zeit. Der Edelmann entwöhnte sich davon, seine Erben ihre


42 *

soll noch heute in Göttingen sprichwörtlich sein. Wohl wurde auf diese Weise
wenigstens der Zusammenhang der Colonie mit dem Mutterlande wirksam
erhalten, — aber der Mangel einer einheimischen Stätte der Wissenschaft
machte sich doch vielfach geltend. Nur reiche Edelleute, Kaufherrn und Beamte
konnten ihre Söhne über das Meer senden, die mittelmäßigen Söhne des Glücks
mußten sich mit dem begnügen, was sich auf dem Lyceo zu Riga, auf der re-
valer Dom- und Nitterschule oder der rigaer Stadtschule erlernen ließ. Die
Mehrzahl der Aerzte, Prediger und Advokaten wanderte aus Deutschland ein,
die studirten Söhne des Landes waren durch den jahrelangen Aufenthalt im
Auslande häusig der Mmath entfremdet. Am schwersten litt der lettische
und chemische Bauer, dessen Prediger häusig ins Amt traten, ohne ein Wort
von ihrer Sprache zu verstehen. Die Noth war so groß, daß jedes Subject,
das vorgab, „auf Universitäten gewesen zu sein", für anstellungfähig galt
und es nach des livländischen Topographen Hupel (l782) Bericht häufig Ad-
vokaten gab, „die nichts als eine Profession erlernt", Aerzte, „die auf der Uni-
versität blos die Theologie betrieben", Prediger, „die vielleicht alles, nur keine
theologischen Collegien gehört haben, mehrere Sprachen zwar, nur von den beiden
Grundsprachen kein Wort verstehen". Diesem „betrübten" Zustande wurde erst
im Jahre 1802 durch Begründung der dorpater Hochschule ein Ende gemacht.

Im Herzen der drei baltischen Lande gelegen, von einer freundlichen
Landschaft umgeben, aus deren Mitte die alte Domruine herausragt, war die
kleine Embachstadt zur Aufnahme einer deutschen Universität wie geschaffen.
Die ersten Lehrer derselben waren fast sämmtlich Einwanderer aus Norddeutschland,
nur zum Theil Männer Von wirklicher Wissenschaftlichkeit, der Mehrzahl nach Ge¬
lehrte, deren Lehrtalent ebenso zweifelhaft erschien, als ihr Forschungseifer, --
aber des Jubels über die neue Errungenschaft war kein Ende und ein Jahrzehnt
lang nahm das ganze Land an den Leiden und Freuden ihrer alma, mater
einen fast kindlichen Antheil. Von dem humanen Sinn Alexanders I. beson¬
ders begünstigt, erwuchs die junge Pflanzschule rasch zu fröhlichem Gedeihen;
frei wie die Wissenschaft selbst war auch ihr Jünger und schon der eine Um-
stand, daß Liv- und Estländer, rigischc Bürgersöhne und kurische Barone. Enkel
a't-patrizischer Geschlechter und Söhne bäurischer „Halbdeutscher" Gelegenheit
Zu brüderlichem Verkehr fanden und während der schönsten Jahre ihres Lebens
v°n einem Bande umschlossen gewesen waren, dessen Kraft sich oft durch das
Kauze spätere Leben bewährte, war von unermeßlichen Werth. Das baltische
Bürgerthum, dessen materielle Stütze der Reichthum des rigaer Handels aus¬
gemacht hatte, gewann an der Universität einen geistigen Halt und Hebel, an
der Wissenschaft eine Waffe gegen die Uebermacht des Adels; dieser selbst
fand Gelegenheit zu erhöhter ^ Werthschätzung und gesteigerter Theilnahme für
die Bildung der Zeit. Der Edelmann entwöhnte sich davon, seine Erben ihre


42 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0331" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192092"/>
            <p xml:id="ID_907" prev="#ID_906"> soll noch heute in Göttingen sprichwörtlich sein. Wohl wurde auf diese Weise<lb/>
wenigstens der Zusammenhang der Colonie mit dem Mutterlande wirksam<lb/>
erhalten, &#x2014; aber der Mangel einer einheimischen Stätte der Wissenschaft<lb/>
machte sich doch vielfach geltend. Nur reiche Edelleute, Kaufherrn und Beamte<lb/>
konnten ihre Söhne über das Meer senden, die mittelmäßigen Söhne des Glücks<lb/>
mußten sich mit dem begnügen, was sich auf dem Lyceo zu Riga, auf der re-<lb/>
valer Dom- und Nitterschule oder der rigaer Stadtschule erlernen ließ. Die<lb/>
Mehrzahl der Aerzte, Prediger und Advokaten wanderte aus Deutschland ein,<lb/>
die studirten Söhne des Landes waren durch den jahrelangen Aufenthalt im<lb/>
Auslande häusig der Mmath entfremdet. Am schwersten litt der lettische<lb/>
und chemische Bauer, dessen Prediger häusig ins Amt traten, ohne ein Wort<lb/>
von ihrer Sprache zu verstehen. Die Noth war so groß, daß jedes Subject,<lb/>
das vorgab, &#x201E;auf Universitäten gewesen zu sein", für anstellungfähig galt<lb/>
und es nach des livländischen Topographen Hupel (l782) Bericht häufig Ad-<lb/>
vokaten gab, &#x201E;die nichts als eine Profession erlernt", Aerzte, &#x201E;die auf der Uni-<lb/>
versität blos die Theologie betrieben", Prediger, &#x201E;die vielleicht alles, nur keine<lb/>
theologischen Collegien gehört haben, mehrere Sprachen zwar, nur von den beiden<lb/>
Grundsprachen kein Wort verstehen". Diesem &#x201E;betrübten" Zustande wurde erst<lb/>
im Jahre 1802 durch Begründung der dorpater Hochschule ein Ende gemacht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_908" next="#ID_909"> Im Herzen der drei baltischen Lande gelegen, von einer freundlichen<lb/>
Landschaft umgeben, aus deren Mitte die alte Domruine herausragt, war die<lb/>
kleine Embachstadt zur Aufnahme einer deutschen Universität wie geschaffen.<lb/>
Die ersten Lehrer derselben waren fast sämmtlich Einwanderer aus Norddeutschland,<lb/>
nur zum Theil Männer Von wirklicher Wissenschaftlichkeit, der Mehrzahl nach Ge¬<lb/>
lehrte, deren Lehrtalent ebenso zweifelhaft erschien, als ihr Forschungseifer, --<lb/>
aber des Jubels über die neue Errungenschaft war kein Ende und ein Jahrzehnt<lb/>
lang nahm das ganze Land an den Leiden und Freuden ihrer alma, mater<lb/>
einen fast kindlichen Antheil. Von dem humanen Sinn Alexanders I. beson¬<lb/>
ders begünstigt, erwuchs die junge Pflanzschule rasch zu fröhlichem Gedeihen;<lb/>
frei wie die Wissenschaft selbst war auch ihr Jünger und schon der eine Um-<lb/>
stand, daß Liv- und Estländer, rigischc Bürgersöhne und kurische Barone. Enkel<lb/>
a't-patrizischer Geschlechter und Söhne bäurischer &#x201E;Halbdeutscher" Gelegenheit<lb/>
Zu brüderlichem Verkehr fanden und während der schönsten Jahre ihres Lebens<lb/>
v°n einem Bande umschlossen gewesen waren, dessen Kraft sich oft durch das<lb/>
Kauze spätere Leben bewährte, war von unermeßlichen Werth. Das baltische<lb/>
Bürgerthum, dessen materielle Stütze der Reichthum des rigaer Handels aus¬<lb/>
gemacht hatte, gewann an der Universität einen geistigen Halt und Hebel, an<lb/>
der Wissenschaft eine Waffe gegen die Uebermacht des Adels; dieser selbst<lb/>
fand Gelegenheit zu erhöhter ^ Werthschätzung und gesteigerter Theilnahme für<lb/>
die Bildung der Zeit. Der Edelmann entwöhnte sich davon, seine Erben ihre</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 42 *</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0331] soll noch heute in Göttingen sprichwörtlich sein. Wohl wurde auf diese Weise wenigstens der Zusammenhang der Colonie mit dem Mutterlande wirksam erhalten, — aber der Mangel einer einheimischen Stätte der Wissenschaft machte sich doch vielfach geltend. Nur reiche Edelleute, Kaufherrn und Beamte konnten ihre Söhne über das Meer senden, die mittelmäßigen Söhne des Glücks mußten sich mit dem begnügen, was sich auf dem Lyceo zu Riga, auf der re- valer Dom- und Nitterschule oder der rigaer Stadtschule erlernen ließ. Die Mehrzahl der Aerzte, Prediger und Advokaten wanderte aus Deutschland ein, die studirten Söhne des Landes waren durch den jahrelangen Aufenthalt im Auslande häusig der Mmath entfremdet. Am schwersten litt der lettische und chemische Bauer, dessen Prediger häusig ins Amt traten, ohne ein Wort von ihrer Sprache zu verstehen. Die Noth war so groß, daß jedes Subject, das vorgab, „auf Universitäten gewesen zu sein", für anstellungfähig galt und es nach des livländischen Topographen Hupel (l782) Bericht häufig Ad- vokaten gab, „die nichts als eine Profession erlernt", Aerzte, „die auf der Uni- versität blos die Theologie betrieben", Prediger, „die vielleicht alles, nur keine theologischen Collegien gehört haben, mehrere Sprachen zwar, nur von den beiden Grundsprachen kein Wort verstehen". Diesem „betrübten" Zustande wurde erst im Jahre 1802 durch Begründung der dorpater Hochschule ein Ende gemacht. Im Herzen der drei baltischen Lande gelegen, von einer freundlichen Landschaft umgeben, aus deren Mitte die alte Domruine herausragt, war die kleine Embachstadt zur Aufnahme einer deutschen Universität wie geschaffen. Die ersten Lehrer derselben waren fast sämmtlich Einwanderer aus Norddeutschland, nur zum Theil Männer Von wirklicher Wissenschaftlichkeit, der Mehrzahl nach Ge¬ lehrte, deren Lehrtalent ebenso zweifelhaft erschien, als ihr Forschungseifer, -- aber des Jubels über die neue Errungenschaft war kein Ende und ein Jahrzehnt lang nahm das ganze Land an den Leiden und Freuden ihrer alma, mater einen fast kindlichen Antheil. Von dem humanen Sinn Alexanders I. beson¬ ders begünstigt, erwuchs die junge Pflanzschule rasch zu fröhlichem Gedeihen; frei wie die Wissenschaft selbst war auch ihr Jünger und schon der eine Um- stand, daß Liv- und Estländer, rigischc Bürgersöhne und kurische Barone. Enkel a't-patrizischer Geschlechter und Söhne bäurischer „Halbdeutscher" Gelegenheit Zu brüderlichem Verkehr fanden und während der schönsten Jahre ihres Lebens v°n einem Bande umschlossen gewesen waren, dessen Kraft sich oft durch das Kauze spätere Leben bewährte, war von unermeßlichen Werth. Das baltische Bürgerthum, dessen materielle Stütze der Reichthum des rigaer Handels aus¬ gemacht hatte, gewann an der Universität einen geistigen Halt und Hebel, an der Wissenschaft eine Waffe gegen die Uebermacht des Adels; dieser selbst fand Gelegenheit zu erhöhter ^ Werthschätzung und gesteigerter Theilnahme für die Bildung der Zeit. Der Edelmann entwöhnte sich davon, seine Erben ihre 42 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/331
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/331>, abgerufen am 27.09.2024.