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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Ungeachtet der glücklichen Bildung seiner felsigen Küste will der Handel dieses Lan¬
des nicht recht gedeihen und selbst die alte Hansestadt Reval hat trotz des Fleißes
ihrer Bürger alle Mühe, die frühere Bedeutung zu behaupten. Kurlands zahl¬
reiche Städte und Flecken haben es zu einem selbständigen Bürgerthum nicht
gebracht, sie haben mehr oder minder einen ländlichen Charakter und sind be¬
züglich ihres Erwerbs hauptsächlich auf den Adel und die wohlhabende Bauer¬
schaft angewiesen. Von Juden überschwemmt, die bis vor kurzem die Provinz
nicht verlassen durften, wurden sie durch diese niedergehalten: nur die kleine
aber rührige Hafenstadt Libau (14,000 Einwohner) behauptet eine gewisse
Selbständigkeit und ihre Bewohner rühmen sich gern, nicht Kurländer, son¬
dern "Libauer" zu sein. Der Schwerpunkt des gesammten baltischen Bürger-
thums liegt in Livland, das zwei Städte aufzuweisen hat, deren hervorragende
Bedeutung durch alle drei Lande hin bereitwillig anerkannt wird: das reiche und
stolze Riga und die Universität Dorpat, den Heerd der deutschen Wissenschaft und
eines höheren geistigen Lebens an der Ostsee, die gefriedete Stätte, an welcher sich
die Söhne der sonst vielfach von einander gesonderten Provinzen im Dienst der
Muse begegnen. Erst 66 Jahre alt, hat die dorpater Hochschule eine reiche,
mannigfaltige Vergangenheit. Ihre erste Gründung datirt freilich aus den Zeiten
Gustav Adolfs, der 1632 den Grund zu einer schwedischen uinv<zrsitÄ8 liteiÄrum
gelegt hat. Aber ein ungünstiger Stern hatte über dieser Schöpfung des
großen Schwedenkönigs gewaltet; kaum acclimatisirt und gemäß den Bedürf¬
nissen der deutschen Bewohner des Landes modificirt, war die junge Hochschule
schon 1699 vor dem Ungestüm der heranrückenden Russen nach Pernau ge¬
flüchtet, -- die rauhen Stürme des nordischen Krieges bliesen ihr das Lebens¬
licht vollends aus, und als Peter der Große Livland seinem Scepter unter¬
worfen hatte, war die Gesammtheit der pernauer Professoren und die Mehr¬
zahl der Studirenden über das Meer nach Schweden geflüchtet.

Die in der Capitulation von 1710 ausbedungene Wiederherstellung einer
"teutschen Academie" konnte trotz aller Bemühungen der livl. Ritterschaft erst
beim Beginn des 19. Jahrhunderts ins Werk gerichtet werden. Während
des gesammten 18. Jahrh, war academische Bildung für den Liv-, Est- und
Kurländer nur aus Deutschland zu holen; die Tradition der von den Ostsec-
provinzialen vornehmlich besuchten Universitäten Königsberg, Jena und Göt-
tingen weiß noch heute von der wilden Lebenslust und unverwüstlichen Frische
der blonden Söhne des Nordens zu erzählen, die sich hierin ganzen Schaaren
sammelten, aber freilich aus dem Fechtboden und in der Kneipe heimischer waren,
als in den stillen Sälen der Wissenschaft. Der tolle jenaer Auszug von
1792 hatte Dahl und Schwartz, zwei "Männer aus dem Lande Livland" zu
Führern gehabt, die Klinge eines livländischen Pastorensohns hat dem leid"
ziger Fuchs Göthe eine Wunde geschlagen und der Uebermuth der Kurlands


Ungeachtet der glücklichen Bildung seiner felsigen Küste will der Handel dieses Lan¬
des nicht recht gedeihen und selbst die alte Hansestadt Reval hat trotz des Fleißes
ihrer Bürger alle Mühe, die frühere Bedeutung zu behaupten. Kurlands zahl¬
reiche Städte und Flecken haben es zu einem selbständigen Bürgerthum nicht
gebracht, sie haben mehr oder minder einen ländlichen Charakter und sind be¬
züglich ihres Erwerbs hauptsächlich auf den Adel und die wohlhabende Bauer¬
schaft angewiesen. Von Juden überschwemmt, die bis vor kurzem die Provinz
nicht verlassen durften, wurden sie durch diese niedergehalten: nur die kleine
aber rührige Hafenstadt Libau (14,000 Einwohner) behauptet eine gewisse
Selbständigkeit und ihre Bewohner rühmen sich gern, nicht Kurländer, son¬
dern „Libauer" zu sein. Der Schwerpunkt des gesammten baltischen Bürger-
thums liegt in Livland, das zwei Städte aufzuweisen hat, deren hervorragende
Bedeutung durch alle drei Lande hin bereitwillig anerkannt wird: das reiche und
stolze Riga und die Universität Dorpat, den Heerd der deutschen Wissenschaft und
eines höheren geistigen Lebens an der Ostsee, die gefriedete Stätte, an welcher sich
die Söhne der sonst vielfach von einander gesonderten Provinzen im Dienst der
Muse begegnen. Erst 66 Jahre alt, hat die dorpater Hochschule eine reiche,
mannigfaltige Vergangenheit. Ihre erste Gründung datirt freilich aus den Zeiten
Gustav Adolfs, der 1632 den Grund zu einer schwedischen uinv<zrsitÄ8 liteiÄrum
gelegt hat. Aber ein ungünstiger Stern hatte über dieser Schöpfung des
großen Schwedenkönigs gewaltet; kaum acclimatisirt und gemäß den Bedürf¬
nissen der deutschen Bewohner des Landes modificirt, war die junge Hochschule
schon 1699 vor dem Ungestüm der heranrückenden Russen nach Pernau ge¬
flüchtet, — die rauhen Stürme des nordischen Krieges bliesen ihr das Lebens¬
licht vollends aus, und als Peter der Große Livland seinem Scepter unter¬
worfen hatte, war die Gesammtheit der pernauer Professoren und die Mehr¬
zahl der Studirenden über das Meer nach Schweden geflüchtet.

Die in der Capitulation von 1710 ausbedungene Wiederherstellung einer
„teutschen Academie" konnte trotz aller Bemühungen der livl. Ritterschaft erst
beim Beginn des 19. Jahrhunderts ins Werk gerichtet werden. Während
des gesammten 18. Jahrh, war academische Bildung für den Liv-, Est- und
Kurländer nur aus Deutschland zu holen; die Tradition der von den Ostsec-
provinzialen vornehmlich besuchten Universitäten Königsberg, Jena und Göt-
tingen weiß noch heute von der wilden Lebenslust und unverwüstlichen Frische
der blonden Söhne des Nordens zu erzählen, die sich hierin ganzen Schaaren
sammelten, aber freilich aus dem Fechtboden und in der Kneipe heimischer waren,
als in den stillen Sälen der Wissenschaft. Der tolle jenaer Auszug von
1792 hatte Dahl und Schwartz, zwei „Männer aus dem Lande Livland" zu
Führern gehabt, die Klinge eines livländischen Pastorensohns hat dem leid"
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[0330] Ungeachtet der glücklichen Bildung seiner felsigen Küste will der Handel dieses Lan¬ des nicht recht gedeihen und selbst die alte Hansestadt Reval hat trotz des Fleißes ihrer Bürger alle Mühe, die frühere Bedeutung zu behaupten. Kurlands zahl¬ reiche Städte und Flecken haben es zu einem selbständigen Bürgerthum nicht gebracht, sie haben mehr oder minder einen ländlichen Charakter und sind be¬ züglich ihres Erwerbs hauptsächlich auf den Adel und die wohlhabende Bauer¬ schaft angewiesen. Von Juden überschwemmt, die bis vor kurzem die Provinz nicht verlassen durften, wurden sie durch diese niedergehalten: nur die kleine aber rührige Hafenstadt Libau (14,000 Einwohner) behauptet eine gewisse Selbständigkeit und ihre Bewohner rühmen sich gern, nicht Kurländer, son¬ dern „Libauer" zu sein. Der Schwerpunkt des gesammten baltischen Bürger- thums liegt in Livland, das zwei Städte aufzuweisen hat, deren hervorragende Bedeutung durch alle drei Lande hin bereitwillig anerkannt wird: das reiche und stolze Riga und die Universität Dorpat, den Heerd der deutschen Wissenschaft und eines höheren geistigen Lebens an der Ostsee, die gefriedete Stätte, an welcher sich die Söhne der sonst vielfach von einander gesonderten Provinzen im Dienst der Muse begegnen. Erst 66 Jahre alt, hat die dorpater Hochschule eine reiche, mannigfaltige Vergangenheit. Ihre erste Gründung datirt freilich aus den Zeiten Gustav Adolfs, der 1632 den Grund zu einer schwedischen uinv<zrsitÄ8 liteiÄrum gelegt hat. Aber ein ungünstiger Stern hatte über dieser Schöpfung des großen Schwedenkönigs gewaltet; kaum acclimatisirt und gemäß den Bedürf¬ nissen der deutschen Bewohner des Landes modificirt, war die junge Hochschule schon 1699 vor dem Ungestüm der heranrückenden Russen nach Pernau ge¬ flüchtet, — die rauhen Stürme des nordischen Krieges bliesen ihr das Lebens¬ licht vollends aus, und als Peter der Große Livland seinem Scepter unter¬ worfen hatte, war die Gesammtheit der pernauer Professoren und die Mehr¬ zahl der Studirenden über das Meer nach Schweden geflüchtet. Die in der Capitulation von 1710 ausbedungene Wiederherstellung einer „teutschen Academie" konnte trotz aller Bemühungen der livl. Ritterschaft erst beim Beginn des 19. Jahrhunderts ins Werk gerichtet werden. Während des gesammten 18. Jahrh, war academische Bildung für den Liv-, Est- und Kurländer nur aus Deutschland zu holen; die Tradition der von den Ostsec- provinzialen vornehmlich besuchten Universitäten Königsberg, Jena und Göt- tingen weiß noch heute von der wilden Lebenslust und unverwüstlichen Frische der blonden Söhne des Nordens zu erzählen, die sich hierin ganzen Schaaren sammelten, aber freilich aus dem Fechtboden und in der Kneipe heimischer waren, als in den stillen Sälen der Wissenschaft. Der tolle jenaer Auszug von 1792 hatte Dahl und Schwartz, zwei „Männer aus dem Lande Livland" zu Führern gehabt, die Klinge eines livländischen Pastorensohns hat dem leid" ziger Fuchs Göthe eine Wunde geschlagen und der Uebermuth der Kurlands

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/330>, abgerufen am 27.09.2024.