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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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gewissem Sinne schärfer ausgebildet worden als in Deutschland. Im Norden
haben schwedische, im Süden polnische Einflüsse prävalirt; hier hat die Rauheit
des Klimas, dort die größere Fruchtbarkeit des Bodens entscheidend auf den Cha¬
rakter der Bewohner und die Physiognomie der Landschaft eingewirkt. In Est¬
land haben die Schweden sechzig Jahre länger geherrscht wie in Livland, die
Insel Oesel war durch ein halbes Jahrhundert in dänischen Händen, das liv-
ländische Festland hat lange Zeit hindurch polnisches Regiment erdulden müssen,
Kurland endlich ist nie schwedisch und nie polnisch gewesen und hat seine Selb¬
ständigkeit achtzig Jahre später in russische Hände niedergelegt als das Land
nördlich von der Dura -- kein Wunder, daß von einer streng geschlossenen,
einheitlichen Entwickelung nicht die Rede sein konnte, daß die verschiedenen ge¬
schichtlichen Factoren, welche in den einzelnen Territorien zur Geltung kamen,
nachhaltige Spuren hinterließen, -- daß die Menschen verschieden geartet sind und
erst allmählich die Solidarität ihrer Interessen verstehen und die Unterschiede aus¬
gleichen lernen, durch welche sie getrennt und auseinandergerissen worden sind.

Beginnen wir mit dem südlichsten der drei Lande, mit Kurland, dem
schmalen langgestreckten alten Herzogthum, das im Westen die äußerste Spitze
Ostpreußens berührt und im Osten einem Keil gleich, zwischen Litthauen und Pol-
nisch-Livland eingeklemmt ist. Durch keine Bergwand, keinen Höhenzug zer¬
rissen, nur von zahlreichen kleinen Flüssen durchzogen, sorgfältig bebaut und ihre
fleißigen Bewohner reichlich nährend, dehnen sich die weiten fruchtbaren Ebenen
von der südlichen Abdachung der Dura bis an die morastigen Ufer des Nje-
man, der die Grenze Litthauens und die Herrschaft eines andern Culturgediets
bezeichnet. Daß die Ansiedlung eine nach Jahrhunderten zählende ist, und daß
tiefer Frieden seit Generationen geherrscht hat, sieht der kundige Reisende auf
den ersten Blick; die Nordspitze des Landes und den schmalen östlichen Aus¬
läufer abgerechnet, der sich der Dura entlang zum bloßen Streifen zuspitzt,
herrscht allenthalben das Kornfeld vor, die ungeheuren Tannenwälder, die der
Landschaft Liv- und Estlands ihr melancholisch-düsteres Gepräge geben, sie sind
hier längst verschwunden oder doch zu beschränkten, sorgfältig gepflegten Forsten
und Gehegen zusammengeschrumpft, die Wohl noch dem flüchtigen Hasen und dem
scheuen Reh eine Zuflucht gewähren, aus denen der zottige Bär und der hung¬
rige Wolf aber seit Menschengedenken gewichen sind. Endlose Roggen-, Wei¬
zen- und Gerstenfelder wechseln mit fetten Wiesen, nur ausnahmsweise steckt
ein wüst gebliebener Moorhügel sein moosbedecktes Haupt empor, um den
ewig jagdlustigen Sohn des Landes zu einer "Skrauja" einzuladen. Rechts
und links von der breiten Heerstraße, die die alte Residenzstadt Mitau mit den
Häfen der Westküste (Libau und Windau) und den zahlreichen kleinen Städten
und Flecken des Unterlandes (so heißt dieser gesegnete Landstrich, zwischen dem
39° und 43° östlicher Länge) verbindet, sehen spitze, meist grün angestrichene


gewissem Sinne schärfer ausgebildet worden als in Deutschland. Im Norden
haben schwedische, im Süden polnische Einflüsse prävalirt; hier hat die Rauheit
des Klimas, dort die größere Fruchtbarkeit des Bodens entscheidend auf den Cha¬
rakter der Bewohner und die Physiognomie der Landschaft eingewirkt. In Est¬
land haben die Schweden sechzig Jahre länger geherrscht wie in Livland, die
Insel Oesel war durch ein halbes Jahrhundert in dänischen Händen, das liv-
ländische Festland hat lange Zeit hindurch polnisches Regiment erdulden müssen,
Kurland endlich ist nie schwedisch und nie polnisch gewesen und hat seine Selb¬
ständigkeit achtzig Jahre später in russische Hände niedergelegt als das Land
nördlich von der Dura — kein Wunder, daß von einer streng geschlossenen,
einheitlichen Entwickelung nicht die Rede sein konnte, daß die verschiedenen ge¬
schichtlichen Factoren, welche in den einzelnen Territorien zur Geltung kamen,
nachhaltige Spuren hinterließen, — daß die Menschen verschieden geartet sind und
erst allmählich die Solidarität ihrer Interessen verstehen und die Unterschiede aus¬
gleichen lernen, durch welche sie getrennt und auseinandergerissen worden sind.

Beginnen wir mit dem südlichsten der drei Lande, mit Kurland, dem
schmalen langgestreckten alten Herzogthum, das im Westen die äußerste Spitze
Ostpreußens berührt und im Osten einem Keil gleich, zwischen Litthauen und Pol-
nisch-Livland eingeklemmt ist. Durch keine Bergwand, keinen Höhenzug zer¬
rissen, nur von zahlreichen kleinen Flüssen durchzogen, sorgfältig bebaut und ihre
fleißigen Bewohner reichlich nährend, dehnen sich die weiten fruchtbaren Ebenen
von der südlichen Abdachung der Dura bis an die morastigen Ufer des Nje-
man, der die Grenze Litthauens und die Herrschaft eines andern Culturgediets
bezeichnet. Daß die Ansiedlung eine nach Jahrhunderten zählende ist, und daß
tiefer Frieden seit Generationen geherrscht hat, sieht der kundige Reisende auf
den ersten Blick; die Nordspitze des Landes und den schmalen östlichen Aus¬
läufer abgerechnet, der sich der Dura entlang zum bloßen Streifen zuspitzt,
herrscht allenthalben das Kornfeld vor, die ungeheuren Tannenwälder, die der
Landschaft Liv- und Estlands ihr melancholisch-düsteres Gepräge geben, sie sind
hier längst verschwunden oder doch zu beschränkten, sorgfältig gepflegten Forsten
und Gehegen zusammengeschrumpft, die Wohl noch dem flüchtigen Hasen und dem
scheuen Reh eine Zuflucht gewähren, aus denen der zottige Bär und der hung¬
rige Wolf aber seit Menschengedenken gewichen sind. Endlose Roggen-, Wei¬
zen- und Gerstenfelder wechseln mit fetten Wiesen, nur ausnahmsweise steckt
ein wüst gebliebener Moorhügel sein moosbedecktes Haupt empor, um den
ewig jagdlustigen Sohn des Landes zu einer „Skrauja" einzuladen. Rechts
und links von der breiten Heerstraße, die die alte Residenzstadt Mitau mit den
Häfen der Westküste (Libau und Windau) und den zahlreichen kleinen Städten
und Flecken des Unterlandes (so heißt dieser gesegnete Landstrich, zwischen dem
39° und 43° östlicher Länge) verbindet, sehen spitze, meist grün angestrichene


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/212>, abgerufen am 27.09.2024.