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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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fast allen übrigen Beziehungen jedes eigenthümliche Gepräge einbüßen kann,
davon sind gerade die Letten und Ehlen ein treffendes Beispiel. Durch Luther-
thum und Herrenhutismusist die Substanz ihrer geistigen Bedürfnisse in
deutsche Form gegossen, in deutsche Rechtsbegriffe haben sie sich seit Jahr¬
hunderten hineingelebt, ihre ganze Literatur besteht aus Nachbildungen und
Uebersetzungen deutscher Producte. Was bleibt übrig? -- etwa noch Volks¬
lieder, Hochzeitsgebräuche, ein eigenthümlicher Umspann, Pflug oder Dreschflegel?
Aber alle diese Ueberreste aus dem Kindheitsleben der Völker schwinden von
Tag zu Tage und man könnte behaupten: die Germanisimng der Letten und
Wen, weit davon entfernt ein Problem zu sein, sei längst schon vollendete
Thatsache. Zwar die Sprachen sind noch übrig; aber selbst diese würden das
einheitliche Bewußtsein der verschiedenen Bevölkerungsschichtcn, das Gefühl
ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit kaum beeinträchtigen können, wenn
nicht ein anderes hindernd dazwischen träte -- etwas, das nicht nationaler,
sondern socialer Natur ist. Die Kluft zwischen dem leibeigenen Bauern und
den übrigen Ständen des Landes war einst schauerlich tief und breit aus¬
griffen; sie hat durch die Arbeit eines ganzen Jahrhunderts noch immer nicht
in genügender Weise ausgefüllt werden können; je mehr dies geschieht, desto
ohnmächtiger werden alle bisherigen Gegensähe, auch der Sprachen, werden."

Auf das Verhältniß der verschiedenen, Liv-, Est-, Kurland bewohnenden Na¬
tionalitäten und die Versuche zu einheitlicher Verschmelzung aller derselben, wer¬
den wir in der Folge näher einzugehen mannigfache Gelegenheit haben. Hier
kommt es nur daraus an, dasselbe in so weit zu berühren, als zur Charakteri¬
stik der Physiognomie von Land und Leuten an der Ostsee nothwendig ist. Um
das Land und seine Bewohner wirklich kennen zu lernen, dürfen wir aber nicht
bei dem allgemeinen Begriffe "die Ostseeprovinzen" stehen bleiben, ist es viel¬
mehr nothwendig, daß wir in die einzelnen Landschaften und Kreise einkehren.
Der Particularismus, den die Einwanderer des 12. und 13. Jahrhunderts in
die neue Heimath mit hinüber nahmen, hat sich in der Colonie ebenso erhalten,
une im Mutterlande, ja er ist durch die Verschiedenheit der Geschicke, durch welche
die einzelnen Theile des Landes im Lauf der Jahrhunderte gegangen sind, in



') Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit tiefster Verkommenheit polrttschcr
und kirchlicher Zustände auf dem flachen Lande kamen die Herrnhuter nach Livland, um zur
SMlichm Erw-ckunq der Letten und Este" beizutragen. Da sie sich der Volkseigcnthümlichte.t
accommodiric" und'den damals leibeigenen Letten und Ehlen Antheil an der knchlichcn Ge-
"'"nde-verwallung einräumte", deren Erwählten geistliche Ehrenämter ertheilten, und auf diese
Weise ein kirchliches Selfgovernment begründeten, gewannen sie binnen kurzem ungeheuern
Einfluß und zählen sie. trotz des Gegensatzes in welchen sie neuerdings zu der Gerstirchkert
Mreten. noch heute Tausende von Anhängern in Livlnnd, Um die Aoltsbildung und die
Besserung der Sitten haben die "Brüder" sich namentlich im 18. Jahrhundert entschiedene
Verdienste erworben.
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fast allen übrigen Beziehungen jedes eigenthümliche Gepräge einbüßen kann,
davon sind gerade die Letten und Ehlen ein treffendes Beispiel. Durch Luther-
thum und Herrenhutismusist die Substanz ihrer geistigen Bedürfnisse in
deutsche Form gegossen, in deutsche Rechtsbegriffe haben sie sich seit Jahr¬
hunderten hineingelebt, ihre ganze Literatur besteht aus Nachbildungen und
Uebersetzungen deutscher Producte. Was bleibt übrig? — etwa noch Volks¬
lieder, Hochzeitsgebräuche, ein eigenthümlicher Umspann, Pflug oder Dreschflegel?
Aber alle diese Ueberreste aus dem Kindheitsleben der Völker schwinden von
Tag zu Tage und man könnte behaupten: die Germanisimng der Letten und
Wen, weit davon entfernt ein Problem zu sein, sei längst schon vollendete
Thatsache. Zwar die Sprachen sind noch übrig; aber selbst diese würden das
einheitliche Bewußtsein der verschiedenen Bevölkerungsschichtcn, das Gefühl
ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit kaum beeinträchtigen können, wenn
nicht ein anderes hindernd dazwischen träte — etwas, das nicht nationaler,
sondern socialer Natur ist. Die Kluft zwischen dem leibeigenen Bauern und
den übrigen Ständen des Landes war einst schauerlich tief und breit aus¬
griffen; sie hat durch die Arbeit eines ganzen Jahrhunderts noch immer nicht
in genügender Weise ausgefüllt werden können; je mehr dies geschieht, desto
ohnmächtiger werden alle bisherigen Gegensähe, auch der Sprachen, werden."

Auf das Verhältniß der verschiedenen, Liv-, Est-, Kurland bewohnenden Na¬
tionalitäten und die Versuche zu einheitlicher Verschmelzung aller derselben, wer¬
den wir in der Folge näher einzugehen mannigfache Gelegenheit haben. Hier
kommt es nur daraus an, dasselbe in so weit zu berühren, als zur Charakteri¬
stik der Physiognomie von Land und Leuten an der Ostsee nothwendig ist. Um
das Land und seine Bewohner wirklich kennen zu lernen, dürfen wir aber nicht
bei dem allgemeinen Begriffe „die Ostseeprovinzen" stehen bleiben, ist es viel¬
mehr nothwendig, daß wir in die einzelnen Landschaften und Kreise einkehren.
Der Particularismus, den die Einwanderer des 12. und 13. Jahrhunderts in
die neue Heimath mit hinüber nahmen, hat sich in der Colonie ebenso erhalten,
une im Mutterlande, ja er ist durch die Verschiedenheit der Geschicke, durch welche
die einzelnen Theile des Landes im Lauf der Jahrhunderte gegangen sind, in



') Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit tiefster Verkommenheit polrttschcr
und kirchlicher Zustände auf dem flachen Lande kamen die Herrnhuter nach Livland, um zur
SMlichm Erw-ckunq der Letten und Este» beizutragen. Da sie sich der Volkseigcnthümlichte.t
accommodiric» und'den damals leibeigenen Letten und Ehlen Antheil an der knchlichcn Ge-
"'"nde-verwallung einräumte», deren Erwählten geistliche Ehrenämter ertheilten, und auf diese
Weise ein kirchliches Selfgovernment begründeten, gewannen sie binnen kurzem ungeheuern
Einfluß und zählen sie. trotz des Gegensatzes in welchen sie neuerdings zu der Gerstirchkert
Mreten. noch heute Tausende von Anhängern in Livlnnd, Um die Aoltsbildung und die
Besserung der Sitten haben die „Brüder" sich namentlich im 18. Jahrhundert entschiedene
Verdienste erworben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/211>, abgerufen am 27.09.2024.