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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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genommen und von geistlichen Beisitzern war nicht einmal die Rede. Die
Armuth war so allgemein, daß der Adel auf demselben Landtage beschloß. De-
putirte zur Vermeidung öfterer allgemeinerer Versammlungen zu wählen, "dieses
Mal sei die Ritter- und Landschaft um des armen Vaterlandes Noth gern ge¬
kommen." Wie es unter solchen Umständen um den gemeinen Mann, zumal
um den Bauern'beschaffen sein mußte, braucht nicht weiter ausgeführt zu wer¬
den, das entsetzliche Bild der livländischen Bauerncxistenz in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts zu entwerfen, sträubt sich die Feder des Enkels. In
elende Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammengepfercht, fristete der
Bauer ein Dasein, das längst aufgehört hatte, auf Menschenwürde Anspruch
zu machen. Regelmäßig trat im Herbst Völlerei. im Frühjahr Hungersnoth ein,
zu den Leistungen, welche er dem Herrn schuldete, mußte der Sclave mit der
Peitsche des Frohnvogts getrieben werden, Branntweinpest und Ruthenstrafe,
die schrecklichen "Geschwister der Leibeigenschaft", waren die Pole, zwischen denen
sich die Axe seines Lebens drehte. Dazu kamen die Schwierigkeiten eines un¬
holden Klima's, das nur vier Sommermonate kennt, dessen endlose Winter das
Wetterglas gefrieren machen, das rings die weiten Ebenen mit fußhohen Schnee¬
massen überzieht, die zuweilen undurchdringlich werden und den Bewohner der
ländlichen Einöde zu tagelangem Müßiggang, dämmernden Halbschlaf in rau¬
chige Hütter verurtheilen. Zuständen dieser Art anders als allmählich abzu¬
helfen, lag außer dem Bereiche des Möglichen. Fromme Wünsche für öftere
Visitationen, fleißigere Kirchenvorsteher, geordnetere Schulverhältnisse begegnen
uns in den Landtagsactcn des gesammten Vierteljahrhundcrts, welches der
"LoruMts" folgte, während es mit der Verwirklichung derselben nicht vorwärts
ging. Selbst mit dem Zusammentritt der Landtage, der rechtlichen Organe der
Landeswünsche, welche regelmäßig zu Berathungen des Landrathscollegiums mei
dem Generalsuperintendenten und demgemäß zu Versuchen einer Abhilfe führten,
hatte es in jener Zeit große Schwierigkeiten. Im Jahre 1726 war die Land¬
tagsversammlung ausgesetzt worden, weil Mcnschikow eine solche ohne Befra¬
gung des geheimen Conseils nicht zulassen zu können glaubte, von 1730 bis
1740 fand gleichfalls eine Art Interregnum statt, weil das Reichsjustizcollegium
sich erst darüber unterrichten wollte, welche die gesetzlichen Gründe zur Einbe¬
rufung solcher Versammlungen seien, wem die Initiative zu denselben gebühre
u. s. w. 1734 erhielt der General-Directeur Völkersahm den Auftrag zu "son-
diren" ob ein Landtag "nachgegeben" werden würde, erst 173S kommt die Ant¬
wort, man müßte erst "an Hof" berichten; aus ähnlichen Gründen trat die
Ritterschaft von 1750--67 kein einziges Mal zusammen, denn es verlautete im
Jahre 17S4 etwas von "bedenklichen Umständen, welche den größten Vorrechten
Gefahr bringen könnten." Neben diesen äußeren Verhältnissen, die hemmend
einwirkten, war die materielle Noth, welche auf allen Ständen lastete, der Haupt-


genommen und von geistlichen Beisitzern war nicht einmal die Rede. Die
Armuth war so allgemein, daß der Adel auf demselben Landtage beschloß. De-
putirte zur Vermeidung öfterer allgemeinerer Versammlungen zu wählen, „dieses
Mal sei die Ritter- und Landschaft um des armen Vaterlandes Noth gern ge¬
kommen." Wie es unter solchen Umständen um den gemeinen Mann, zumal
um den Bauern'beschaffen sein mußte, braucht nicht weiter ausgeführt zu wer¬
den, das entsetzliche Bild der livländischen Bauerncxistenz in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts zu entwerfen, sträubt sich die Feder des Enkels. In
elende Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammengepfercht, fristete der
Bauer ein Dasein, das längst aufgehört hatte, auf Menschenwürde Anspruch
zu machen. Regelmäßig trat im Herbst Völlerei. im Frühjahr Hungersnoth ein,
zu den Leistungen, welche er dem Herrn schuldete, mußte der Sclave mit der
Peitsche des Frohnvogts getrieben werden, Branntweinpest und Ruthenstrafe,
die schrecklichen „Geschwister der Leibeigenschaft", waren die Pole, zwischen denen
sich die Axe seines Lebens drehte. Dazu kamen die Schwierigkeiten eines un¬
holden Klima's, das nur vier Sommermonate kennt, dessen endlose Winter das
Wetterglas gefrieren machen, das rings die weiten Ebenen mit fußhohen Schnee¬
massen überzieht, die zuweilen undurchdringlich werden und den Bewohner der
ländlichen Einöde zu tagelangem Müßiggang, dämmernden Halbschlaf in rau¬
chige Hütter verurtheilen. Zuständen dieser Art anders als allmählich abzu¬
helfen, lag außer dem Bereiche des Möglichen. Fromme Wünsche für öftere
Visitationen, fleißigere Kirchenvorsteher, geordnetere Schulverhältnisse begegnen
uns in den Landtagsactcn des gesammten Vierteljahrhundcrts, welches der
„LoruMts" folgte, während es mit der Verwirklichung derselben nicht vorwärts
ging. Selbst mit dem Zusammentritt der Landtage, der rechtlichen Organe der
Landeswünsche, welche regelmäßig zu Berathungen des Landrathscollegiums mei
dem Generalsuperintendenten und demgemäß zu Versuchen einer Abhilfe führten,
hatte es in jener Zeit große Schwierigkeiten. Im Jahre 1726 war die Land¬
tagsversammlung ausgesetzt worden, weil Mcnschikow eine solche ohne Befra¬
gung des geheimen Conseils nicht zulassen zu können glaubte, von 1730 bis
1740 fand gleichfalls eine Art Interregnum statt, weil das Reichsjustizcollegium
sich erst darüber unterrichten wollte, welche die gesetzlichen Gründe zur Einbe¬
rufung solcher Versammlungen seien, wem die Initiative zu denselben gebühre
u. s. w. 1734 erhielt der General-Directeur Völkersahm den Auftrag zu „son-
diren" ob ein Landtag „nachgegeben" werden würde, erst 173S kommt die Ant¬
wort, man müßte erst „an Hof" berichten; aus ähnlichen Gründen trat die
Ritterschaft von 1750—67 kein einziges Mal zusammen, denn es verlautete im
Jahre 17S4 etwas von „bedenklichen Umständen, welche den größten Vorrechten
Gefahr bringen könnten." Neben diesen äußeren Verhältnissen, die hemmend
einwirkten, war die materielle Noth, welche auf allen Ständen lastete, der Haupt-


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[0183] genommen und von geistlichen Beisitzern war nicht einmal die Rede. Die Armuth war so allgemein, daß der Adel auf demselben Landtage beschloß. De- putirte zur Vermeidung öfterer allgemeinerer Versammlungen zu wählen, „dieses Mal sei die Ritter- und Landschaft um des armen Vaterlandes Noth gern ge¬ kommen." Wie es unter solchen Umständen um den gemeinen Mann, zumal um den Bauern'beschaffen sein mußte, braucht nicht weiter ausgeführt zu wer¬ den, das entsetzliche Bild der livländischen Bauerncxistenz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu entwerfen, sträubt sich die Feder des Enkels. In elende Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammengepfercht, fristete der Bauer ein Dasein, das längst aufgehört hatte, auf Menschenwürde Anspruch zu machen. Regelmäßig trat im Herbst Völlerei. im Frühjahr Hungersnoth ein, zu den Leistungen, welche er dem Herrn schuldete, mußte der Sclave mit der Peitsche des Frohnvogts getrieben werden, Branntweinpest und Ruthenstrafe, die schrecklichen „Geschwister der Leibeigenschaft", waren die Pole, zwischen denen sich die Axe seines Lebens drehte. Dazu kamen die Schwierigkeiten eines un¬ holden Klima's, das nur vier Sommermonate kennt, dessen endlose Winter das Wetterglas gefrieren machen, das rings die weiten Ebenen mit fußhohen Schnee¬ massen überzieht, die zuweilen undurchdringlich werden und den Bewohner der ländlichen Einöde zu tagelangem Müßiggang, dämmernden Halbschlaf in rau¬ chige Hütter verurtheilen. Zuständen dieser Art anders als allmählich abzu¬ helfen, lag außer dem Bereiche des Möglichen. Fromme Wünsche für öftere Visitationen, fleißigere Kirchenvorsteher, geordnetere Schulverhältnisse begegnen uns in den Landtagsactcn des gesammten Vierteljahrhundcrts, welches der „LoruMts" folgte, während es mit der Verwirklichung derselben nicht vorwärts ging. Selbst mit dem Zusammentritt der Landtage, der rechtlichen Organe der Landeswünsche, welche regelmäßig zu Berathungen des Landrathscollegiums mei dem Generalsuperintendenten und demgemäß zu Versuchen einer Abhilfe führten, hatte es in jener Zeit große Schwierigkeiten. Im Jahre 1726 war die Land¬ tagsversammlung ausgesetzt worden, weil Mcnschikow eine solche ohne Befra¬ gung des geheimen Conseils nicht zulassen zu können glaubte, von 1730 bis 1740 fand gleichfalls eine Art Interregnum statt, weil das Reichsjustizcollegium sich erst darüber unterrichten wollte, welche die gesetzlichen Gründe zur Einbe¬ rufung solcher Versammlungen seien, wem die Initiative zu denselben gebühre u. s. w. 1734 erhielt der General-Directeur Völkersahm den Auftrag zu „son- diren" ob ein Landtag „nachgegeben" werden würde, erst 173S kommt die Ant¬ wort, man müßte erst „an Hof" berichten; aus ähnlichen Gründen trat die Ritterschaft von 1750—67 kein einziges Mal zusammen, denn es verlautete im Jahre 17S4 etwas von „bedenklichen Umständen, welche den größten Vorrechten Gefahr bringen könnten." Neben diesen äußeren Verhältnissen, die hemmend einwirkten, war die materielle Noth, welche auf allen Ständen lastete, der Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/183>, abgerufen am 27.09.2024.