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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Finnland, wie in Liv-, Est-, Kurland und in Litthauen und Galizien
entbrennt heute ein leidenschaftlich bewegter und doch von dem übrigen Europa
kaum beachteter Streit darüber, ob die Herrschaft dem das Culturelement reprä-
sentirenden, numerisch schwächern Herrscherstamm oder der plebejen Majorität
gebührt, die von jenem empfangen, was sie an Schätzen sittlicher und geistiger
Cultur besitzt. Noch läßt sich nicht absehen, wann die Lösung dieses Streits
eintreten, wem der Sieg zufallen wird, -- ja, es darf zweifelhaft erscheinen, wer
den entscheidenden Wahrspruch fällen wird, seit der berufene Richter so entschieden
für den einen der Kämpfer Partei genommen, daß die Appellation an ein hö¬
heres Forum auf die Dauer nicht ausbleiben kann.

Jedes der drei Culturgebiete, von denen hier die Rede ist, hat sein eigenes
Hinterland, auf welches es sich, wenn nicht politisch, so doch geistig und mo¬
ralisch stützt; wie Finnland eine skandinavische, ist Litthauen eine polnische, Liv-
Est-Kurland eine deutsche Colonie. Aber die Beziehungen zwischen Vorposten
und Hauptarmee sind nicht überall die gleichen. Während die Wechselwirkungen
zwischen Mutterland und Colonie, nördlich vom finnischen Meerbusen und süd¬
lich vom Njemen außerordentlich lebhafte sind, die Theilnahme für die Vor¬
gänge in Finnland im Leben Schwedens eine mindestens ebenso große Rolle
spielt, wie das Interesse an Dänemark, während Polen und polnische Litthauer
sich seit Jahrhunderten als ein auf ewig verbundenes Brudervolk ansehen, ist
das alte livländische Ordensland, der Boden, auf dem vier Jahrhunderte lang
deutsches Blut geflossen, um dem heiligen Reiche einen wichtigen Vorposten für
seine nordöstlichen Marken zu erhalten, im Gedächtniß des deutschen Volkes
erloschen, die Erinnerung an die einstige Verbindung der Fürsten dieses Landes
mit den Gcbietigern von Marienburg und den deutschen Kaisern zum Mythus
eingeschrumpft, über welchen wohl noch einzelne Schriftgelehrte Bescheid
wissen, mit dem das Bewußtsein der Nation aber längst nichts mehr zu schaf¬
fen hat. Für den Elsasser, der vergessen hat, daß er jemals etwas anderes als
Franzose gewesen, steigen periodisch noch immer patriotische Phrasen zum Him¬
mel, die "meerumschlungenen" Herzogtümer an der Elbe sind durch Jahrzehnte
Gegenstand eines nationalen Cultus gewesen, das Land, das zwischen der Na-
rowa und dem Njeman liegt und an Sprache, Recht und Glauben seiner Väter
trotz dreihundertjähriger Trennung noch heute mit unerschütterlicher, kampser¬
probter Treue festhält, es ist aus den Reihen des Lebens gestrichen und wird
wenn überhaupt nur noch als "Prügelknabe" berücksichtigt, an welchem der
deutsche Liberalismus gelegentlich seine Fechterkünste übt. -- Allerdings haben
die Bewohner der baltischen Küste mit dem Gedanken an eine Wiederherstellung
der seit drei Jahrhunderten zerrissenen Bande, welche sie an das römische Reich
deutscher Nation fesselten, seit unvordenklicher Zeit abgeschlossen, wollen sie heute
nichts anderes sein als treue Bürger des Staates, dem ihre Heimath eingefügt


Finnland, wie in Liv-, Est-, Kurland und in Litthauen und Galizien
entbrennt heute ein leidenschaftlich bewegter und doch von dem übrigen Europa
kaum beachteter Streit darüber, ob die Herrschaft dem das Culturelement reprä-
sentirenden, numerisch schwächern Herrscherstamm oder der plebejen Majorität
gebührt, die von jenem empfangen, was sie an Schätzen sittlicher und geistiger
Cultur besitzt. Noch läßt sich nicht absehen, wann die Lösung dieses Streits
eintreten, wem der Sieg zufallen wird, — ja, es darf zweifelhaft erscheinen, wer
den entscheidenden Wahrspruch fällen wird, seit der berufene Richter so entschieden
für den einen der Kämpfer Partei genommen, daß die Appellation an ein hö¬
heres Forum auf die Dauer nicht ausbleiben kann.

Jedes der drei Culturgebiete, von denen hier die Rede ist, hat sein eigenes
Hinterland, auf welches es sich, wenn nicht politisch, so doch geistig und mo¬
ralisch stützt; wie Finnland eine skandinavische, ist Litthauen eine polnische, Liv-
Est-Kurland eine deutsche Colonie. Aber die Beziehungen zwischen Vorposten
und Hauptarmee sind nicht überall die gleichen. Während die Wechselwirkungen
zwischen Mutterland und Colonie, nördlich vom finnischen Meerbusen und süd¬
lich vom Njemen außerordentlich lebhafte sind, die Theilnahme für die Vor¬
gänge in Finnland im Leben Schwedens eine mindestens ebenso große Rolle
spielt, wie das Interesse an Dänemark, während Polen und polnische Litthauer
sich seit Jahrhunderten als ein auf ewig verbundenes Brudervolk ansehen, ist
das alte livländische Ordensland, der Boden, auf dem vier Jahrhunderte lang
deutsches Blut geflossen, um dem heiligen Reiche einen wichtigen Vorposten für
seine nordöstlichen Marken zu erhalten, im Gedächtniß des deutschen Volkes
erloschen, die Erinnerung an die einstige Verbindung der Fürsten dieses Landes
mit den Gcbietigern von Marienburg und den deutschen Kaisern zum Mythus
eingeschrumpft, über welchen wohl noch einzelne Schriftgelehrte Bescheid
wissen, mit dem das Bewußtsein der Nation aber längst nichts mehr zu schaf¬
fen hat. Für den Elsasser, der vergessen hat, daß er jemals etwas anderes als
Franzose gewesen, steigen periodisch noch immer patriotische Phrasen zum Him¬
mel, die „meerumschlungenen" Herzogtümer an der Elbe sind durch Jahrzehnte
Gegenstand eines nationalen Cultus gewesen, das Land, das zwischen der Na-
rowa und dem Njeman liegt und an Sprache, Recht und Glauben seiner Väter
trotz dreihundertjähriger Trennung noch heute mit unerschütterlicher, kampser¬
probter Treue festhält, es ist aus den Reihen des Lebens gestrichen und wird
wenn überhaupt nur noch als „Prügelknabe" berücksichtigt, an welchem der
deutsche Liberalismus gelegentlich seine Fechterkünste übt. — Allerdings haben
die Bewohner der baltischen Küste mit dem Gedanken an eine Wiederherstellung
der seit drei Jahrhunderten zerrissenen Bande, welche sie an das römische Reich
deutscher Nation fesselten, seit unvordenklicher Zeit abgeschlossen, wollen sie heute
nichts anderes sein als treue Bürger des Staates, dem ihre Heimath eingefügt


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[0170] Finnland, wie in Liv-, Est-, Kurland und in Litthauen und Galizien entbrennt heute ein leidenschaftlich bewegter und doch von dem übrigen Europa kaum beachteter Streit darüber, ob die Herrschaft dem das Culturelement reprä- sentirenden, numerisch schwächern Herrscherstamm oder der plebejen Majorität gebührt, die von jenem empfangen, was sie an Schätzen sittlicher und geistiger Cultur besitzt. Noch läßt sich nicht absehen, wann die Lösung dieses Streits eintreten, wem der Sieg zufallen wird, — ja, es darf zweifelhaft erscheinen, wer den entscheidenden Wahrspruch fällen wird, seit der berufene Richter so entschieden für den einen der Kämpfer Partei genommen, daß die Appellation an ein hö¬ heres Forum auf die Dauer nicht ausbleiben kann. Jedes der drei Culturgebiete, von denen hier die Rede ist, hat sein eigenes Hinterland, auf welches es sich, wenn nicht politisch, so doch geistig und mo¬ ralisch stützt; wie Finnland eine skandinavische, ist Litthauen eine polnische, Liv- Est-Kurland eine deutsche Colonie. Aber die Beziehungen zwischen Vorposten und Hauptarmee sind nicht überall die gleichen. Während die Wechselwirkungen zwischen Mutterland und Colonie, nördlich vom finnischen Meerbusen und süd¬ lich vom Njemen außerordentlich lebhafte sind, die Theilnahme für die Vor¬ gänge in Finnland im Leben Schwedens eine mindestens ebenso große Rolle spielt, wie das Interesse an Dänemark, während Polen und polnische Litthauer sich seit Jahrhunderten als ein auf ewig verbundenes Brudervolk ansehen, ist das alte livländische Ordensland, der Boden, auf dem vier Jahrhunderte lang deutsches Blut geflossen, um dem heiligen Reiche einen wichtigen Vorposten für seine nordöstlichen Marken zu erhalten, im Gedächtniß des deutschen Volkes erloschen, die Erinnerung an die einstige Verbindung der Fürsten dieses Landes mit den Gcbietigern von Marienburg und den deutschen Kaisern zum Mythus eingeschrumpft, über welchen wohl noch einzelne Schriftgelehrte Bescheid wissen, mit dem das Bewußtsein der Nation aber längst nichts mehr zu schaf¬ fen hat. Für den Elsasser, der vergessen hat, daß er jemals etwas anderes als Franzose gewesen, steigen periodisch noch immer patriotische Phrasen zum Him¬ mel, die „meerumschlungenen" Herzogtümer an der Elbe sind durch Jahrzehnte Gegenstand eines nationalen Cultus gewesen, das Land, das zwischen der Na- rowa und dem Njeman liegt und an Sprache, Recht und Glauben seiner Väter trotz dreihundertjähriger Trennung noch heute mit unerschütterlicher, kampser¬ probter Treue festhält, es ist aus den Reihen des Lebens gestrichen und wird wenn überhaupt nur noch als „Prügelknabe" berücksichtigt, an welchem der deutsche Liberalismus gelegentlich seine Fechterkünste übt. — Allerdings haben die Bewohner der baltischen Küste mit dem Gedanken an eine Wiederherstellung der seit drei Jahrhunderten zerrissenen Bande, welche sie an das römische Reich deutscher Nation fesselten, seit unvordenklicher Zeit abgeschlossen, wollen sie heute nichts anderes sein als treue Bürger des Staates, dem ihre Heimath eingefügt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/170>, abgerufen am 27.09.2024.