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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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lieben und bürgerlichen Tugend und Tüchtigkeit treu geblieben ist, deren sich der
französische Mittelstand einst mit Recht rühmen durfte und deren Vorbilder er
in den Gliedern der Dynastie Louis Philipp's verehrte und zum guten Theil
noch heute verehrt. Daß es mit dem Glauben an die Lebensfähigkeit eines
auf diese Schicht der Gesellschaft gegründeten Systems aber immer noch sehr
schwach bestellt ist, das hat seinen guten Grund. Ihr Sturz steht aus den letzten
Blättern der französischen Volksgeschichte geschrieben, und die zwanzig Jahre,
die seit demselben verstrichen sind, haben die öffentliche Sittlichkeit so tief her¬
untergebracht, den Volksgeist so vollständig von Maß und Selbstbescheidung
entwöhnt, daß eine aus Compromisse gegründete Regierungsform kaum irgendwo
in Europa so geringe Chancen zu haben scheint, als in dem Frankreich des
zweiten December. Zieht man in Erwägung, daß auch das letzte Mittel, um
eine Nation zur Kundgebung ihres Willens und zur Besinnung auf sich selbst
zu bestimmen, jenes Lutkrage umvorsel, welches den Radicalen alter Schule
für das allein zulässige Fundament freiheitlicher Zustände galt, daß auch dieses
verbraucht ist und daß die Freunde der Freiheit und eines auf die Principien
des Rechts und der Moral gegründeten Staatswesens auf niemand weniger
rechnen dürfen, als auf den gemeinen Mann, der längst gelernt hat, daß Brod
und Spiele besser schmecken und ergötzlicher sind, als politische Versammlungen,
-- so wird man es durchaus erklärlich finden, wenn der Frage nach dem, was
zunächst aus Frankreich werden soll, starres Schweigen begegnet, mag sie gerichtet
sein an.wen sie wolle. Jenen selbstvertrauenden Leichtsinn, mit welchem man
früher händereibend zuschaute, wenn eine verhaßte Regierung sich zu Grunde
richtete, man findet ihn in dem heutigen Frankreich nicht mehr.

Diese Unsicherheit über die Zukunft ist es, die ein wirklich energisches
Eintreten derOpposition gegen den Krieg und dieKriegsagitation hemmt und lähmt.
Unter dem gegenwärtigen Regime in wahrhaft liberalem Sinne zu reformiren und
das Volk um große erhabene Ziele zu versammeln, hält die Bourgeoisie für unmög¬
lich; mit dem Tage des Sturzes dieses Regimes sieht sie sich aber am Ende ihrer
eignen Weisheit; möge sie greifen, wozu sie wolle, jede Staatsform ist schon
einmal dagewesen und hat sich abgenutzt und zwar bevor die Gesellschaft in
den Zustand ihrer heutigen Zerrüttung gerathen war! Das Geschlecht, welches
sie vorfindet, scheint zu nichts zu brauchen zu sein, die freiheitlichen Institutio¬
nen, welche demselben als Aequivalent für den vermißten Kriegsruhm geboten
werden sollen, haben darum auch für diejenigen, welche sie für sich selbst wohl
zu -benutzen wüßten, wenig Reiz. Anders steht es mit dem Kriege; gerade daß
die Chancen eines solchen sich minder genau berechnen lassen, als die des Frie¬
dens, hat sür diejenigen, welche über den gegenwärtigen Volkszustand nur all'
zu klar sind, etwas Verlockendes. Der Donner der Schlachten kann die gist-
erfüllie Atmosphäre, welche über der Nation liegt, reinigen, unberechenbare


lieben und bürgerlichen Tugend und Tüchtigkeit treu geblieben ist, deren sich der
französische Mittelstand einst mit Recht rühmen durfte und deren Vorbilder er
in den Gliedern der Dynastie Louis Philipp's verehrte und zum guten Theil
noch heute verehrt. Daß es mit dem Glauben an die Lebensfähigkeit eines
auf diese Schicht der Gesellschaft gegründeten Systems aber immer noch sehr
schwach bestellt ist, das hat seinen guten Grund. Ihr Sturz steht aus den letzten
Blättern der französischen Volksgeschichte geschrieben, und die zwanzig Jahre,
die seit demselben verstrichen sind, haben die öffentliche Sittlichkeit so tief her¬
untergebracht, den Volksgeist so vollständig von Maß und Selbstbescheidung
entwöhnt, daß eine aus Compromisse gegründete Regierungsform kaum irgendwo
in Europa so geringe Chancen zu haben scheint, als in dem Frankreich des
zweiten December. Zieht man in Erwägung, daß auch das letzte Mittel, um
eine Nation zur Kundgebung ihres Willens und zur Besinnung auf sich selbst
zu bestimmen, jenes Lutkrage umvorsel, welches den Radicalen alter Schule
für das allein zulässige Fundament freiheitlicher Zustände galt, daß auch dieses
verbraucht ist und daß die Freunde der Freiheit und eines auf die Principien
des Rechts und der Moral gegründeten Staatswesens auf niemand weniger
rechnen dürfen, als auf den gemeinen Mann, der längst gelernt hat, daß Brod
und Spiele besser schmecken und ergötzlicher sind, als politische Versammlungen,
— so wird man es durchaus erklärlich finden, wenn der Frage nach dem, was
zunächst aus Frankreich werden soll, starres Schweigen begegnet, mag sie gerichtet
sein an.wen sie wolle. Jenen selbstvertrauenden Leichtsinn, mit welchem man
früher händereibend zuschaute, wenn eine verhaßte Regierung sich zu Grunde
richtete, man findet ihn in dem heutigen Frankreich nicht mehr.

Diese Unsicherheit über die Zukunft ist es, die ein wirklich energisches
Eintreten derOpposition gegen den Krieg und dieKriegsagitation hemmt und lähmt.
Unter dem gegenwärtigen Regime in wahrhaft liberalem Sinne zu reformiren und
das Volk um große erhabene Ziele zu versammeln, hält die Bourgeoisie für unmög¬
lich; mit dem Tage des Sturzes dieses Regimes sieht sie sich aber am Ende ihrer
eignen Weisheit; möge sie greifen, wozu sie wolle, jede Staatsform ist schon
einmal dagewesen und hat sich abgenutzt und zwar bevor die Gesellschaft in
den Zustand ihrer heutigen Zerrüttung gerathen war! Das Geschlecht, welches
sie vorfindet, scheint zu nichts zu brauchen zu sein, die freiheitlichen Institutio¬
nen, welche demselben als Aequivalent für den vermißten Kriegsruhm geboten
werden sollen, haben darum auch für diejenigen, welche sie für sich selbst wohl
zu -benutzen wüßten, wenig Reiz. Anders steht es mit dem Kriege; gerade daß
die Chancen eines solchen sich minder genau berechnen lassen, als die des Frie¬
dens, hat sür diejenigen, welche über den gegenwärtigen Volkszustand nur all'
zu klar sind, etwas Verlockendes. Der Donner der Schlachten kann die gist-
erfüllie Atmosphäre, welche über der Nation liegt, reinigen, unberechenbare


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/162>, abgerufen am 27.09.2024.