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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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dieser entwickelt er sich nicht aus sich heraus, sondern erfährt nur Umgestal¬
tungen entweder durch blinde chemische und physikalische Kräfte oder durch die
bewußte Thätigkeit des Menschen, Geben wir der Erde in anderem als blos
figürlichen Sinne ein Leben, so gerathen wir aus dem wissenschaftlichen Bereich
heraus in das Gebiet der Phantasie und werden Speculationc", wie sie uns
Fechner oder richtiger, wie sie uns dessen Doppelgänger, der liebenswürdige
Humorist Miscs, in seinem "Zendavesta" vortrug, nicht mehr für aben¬
teuerlich halten dürfen. Und ebensowenig können wir zugeben, daß jene An¬
schauung von der Individualität der Erde, die uns nach Ritter lehren soll,
daß letztere ein Inbegriff höchster Zweckmäßigkeit und Schönheit, daß sie durch
die göttliche Vorsehung zur Erziehungsanstalt für die Menschheit eingerichtet ist,
das Ziel sein kann, welchem die Geographie zuzustreben hat. Die Wissenschaft
bedarf, wie Lap^"ce ohne irgendwelche Frivolität gesagt hat, der Hypothese der
göttlichen Vorsehung nicht. Sie überläßt es der Theologie, deren Rathschlusse
zu ergründen. Möglich, daß jene "Anschauung" jenseits der Welt uns vor¬
behalten ist. Die Wissenschaft hat nach ihr nicht zu streben, hat sich auf die
Erklärung der Dinge' ans diesseitigen Ursachen zu beschränken.

Ziehen wir diese Tendenzen Ritters von seinen Ausführungen ab und
nehmen wir an, das. was er über die Charaktcrcigenthümlichtcit Europas sagt,
wäre figürlich gemeint, so ist seine Erklärung der Weltstellung dieses Erdtheils
eine der glänzendsten und geistvollsten Abhandlungen, die auf diesem Gebiet
existiren. Einige Auszüge, bei denen der Leser sich unsere obigen Abweichun¬
gen gegenwärtig halten wolle, werden dies empfinden lassen.

Europa ist aus sehr verschiedenen Gründen geworden, was es heute ist.
Es ist ärmer und karger, aber ebenmäßiger ausgestattet, als die übrigen Theile
der alten Welt. Es ist kein Land der überraschenden Wunder, der schroffen
Contraste, der außerordentlichen Naturerscheinungen. Es hat keine Paradiese,
aber auch leine Wüsten wie Asien mit seinen noch ungemessenen Hochländern,
seinen kolossalen Stromsystcmen, seinen zahlreichen Völkerschaaren, mit seiner
indischen Welt, der Gcwürzfüllc des Südens, den Eiscinödcn Sibiriens. Es
unterscheidet sich in ähnlicher Weise von Afrika und Amerika durch geringern
Reichthum und schwächere Gegensätze in seiner Natur. Die Nordenden und
Südenden sind zwar verschieden genug, aber der Mensch kann sich beiden assi-
miliren. Wir Deutsche erfreuen uns ebenso an norwegischer wie an süd¬
italienischer Landschaft. Derselbe Ackerbau reicht, indem der Golfstrom die Luft
im Norden wärmt, vom Gestade des Mittelmeeres bis zum weißen Meere.
Bei Altcngaard, auf dem 70" N. B., gibt es noch Fichtenwälder und Birken¬
haine, während in gleichen astronomischen Breiten in Asien, an den Mündun¬
gen des Jenisei und der Kvlyma kein Baum mehr wächst. Dort zu Altengaard
blüht noch der Kirschbaum, reist noch die Erdbeere, und an der Mündung der


dieser entwickelt er sich nicht aus sich heraus, sondern erfährt nur Umgestal¬
tungen entweder durch blinde chemische und physikalische Kräfte oder durch die
bewußte Thätigkeit des Menschen, Geben wir der Erde in anderem als blos
figürlichen Sinne ein Leben, so gerathen wir aus dem wissenschaftlichen Bereich
heraus in das Gebiet der Phantasie und werden Speculationc», wie sie uns
Fechner oder richtiger, wie sie uns dessen Doppelgänger, der liebenswürdige
Humorist Miscs, in seinem „Zendavesta" vortrug, nicht mehr für aben¬
teuerlich halten dürfen. Und ebensowenig können wir zugeben, daß jene An¬
schauung von der Individualität der Erde, die uns nach Ritter lehren soll,
daß letztere ein Inbegriff höchster Zweckmäßigkeit und Schönheit, daß sie durch
die göttliche Vorsehung zur Erziehungsanstalt für die Menschheit eingerichtet ist,
das Ziel sein kann, welchem die Geographie zuzustreben hat. Die Wissenschaft
bedarf, wie Lap^«ce ohne irgendwelche Frivolität gesagt hat, der Hypothese der
göttlichen Vorsehung nicht. Sie überläßt es der Theologie, deren Rathschlusse
zu ergründen. Möglich, daß jene „Anschauung" jenseits der Welt uns vor¬
behalten ist. Die Wissenschaft hat nach ihr nicht zu streben, hat sich auf die
Erklärung der Dinge' ans diesseitigen Ursachen zu beschränken.

Ziehen wir diese Tendenzen Ritters von seinen Ausführungen ab und
nehmen wir an, das. was er über die Charaktcrcigenthümlichtcit Europas sagt,
wäre figürlich gemeint, so ist seine Erklärung der Weltstellung dieses Erdtheils
eine der glänzendsten und geistvollsten Abhandlungen, die auf diesem Gebiet
existiren. Einige Auszüge, bei denen der Leser sich unsere obigen Abweichun¬
gen gegenwärtig halten wolle, werden dies empfinden lassen.

Europa ist aus sehr verschiedenen Gründen geworden, was es heute ist.
Es ist ärmer und karger, aber ebenmäßiger ausgestattet, als die übrigen Theile
der alten Welt. Es ist kein Land der überraschenden Wunder, der schroffen
Contraste, der außerordentlichen Naturerscheinungen. Es hat keine Paradiese,
aber auch leine Wüsten wie Asien mit seinen noch ungemessenen Hochländern,
seinen kolossalen Stromsystcmen, seinen zahlreichen Völkerschaaren, mit seiner
indischen Welt, der Gcwürzfüllc des Südens, den Eiscinödcn Sibiriens. Es
unterscheidet sich in ähnlicher Weise von Afrika und Amerika durch geringern
Reichthum und schwächere Gegensätze in seiner Natur. Die Nordenden und
Südenden sind zwar verschieden genug, aber der Mensch kann sich beiden assi-
miliren. Wir Deutsche erfreuen uns ebenso an norwegischer wie an süd¬
italienischer Landschaft. Derselbe Ackerbau reicht, indem der Golfstrom die Luft
im Norden wärmt, vom Gestade des Mittelmeeres bis zum weißen Meere.
Bei Altcngaard, auf dem 70" N. B., gibt es noch Fichtenwälder und Birken¬
haine, während in gleichen astronomischen Breiten in Asien, an den Mündun¬
gen des Jenisei und der Kvlyma kein Baum mehr wächst. Dort zu Altengaard
blüht noch der Kirschbaum, reist noch die Erdbeere, und an der Mündung der


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[0512] dieser entwickelt er sich nicht aus sich heraus, sondern erfährt nur Umgestal¬ tungen entweder durch blinde chemische und physikalische Kräfte oder durch die bewußte Thätigkeit des Menschen, Geben wir der Erde in anderem als blos figürlichen Sinne ein Leben, so gerathen wir aus dem wissenschaftlichen Bereich heraus in das Gebiet der Phantasie und werden Speculationc», wie sie uns Fechner oder richtiger, wie sie uns dessen Doppelgänger, der liebenswürdige Humorist Miscs, in seinem „Zendavesta" vortrug, nicht mehr für aben¬ teuerlich halten dürfen. Und ebensowenig können wir zugeben, daß jene An¬ schauung von der Individualität der Erde, die uns nach Ritter lehren soll, daß letztere ein Inbegriff höchster Zweckmäßigkeit und Schönheit, daß sie durch die göttliche Vorsehung zur Erziehungsanstalt für die Menschheit eingerichtet ist, das Ziel sein kann, welchem die Geographie zuzustreben hat. Die Wissenschaft bedarf, wie Lap^«ce ohne irgendwelche Frivolität gesagt hat, der Hypothese der göttlichen Vorsehung nicht. Sie überläßt es der Theologie, deren Rathschlusse zu ergründen. Möglich, daß jene „Anschauung" jenseits der Welt uns vor¬ behalten ist. Die Wissenschaft hat nach ihr nicht zu streben, hat sich auf die Erklärung der Dinge' ans diesseitigen Ursachen zu beschränken. Ziehen wir diese Tendenzen Ritters von seinen Ausführungen ab und nehmen wir an, das. was er über die Charaktcrcigenthümlichtcit Europas sagt, wäre figürlich gemeint, so ist seine Erklärung der Weltstellung dieses Erdtheils eine der glänzendsten und geistvollsten Abhandlungen, die auf diesem Gebiet existiren. Einige Auszüge, bei denen der Leser sich unsere obigen Abweichun¬ gen gegenwärtig halten wolle, werden dies empfinden lassen. Europa ist aus sehr verschiedenen Gründen geworden, was es heute ist. Es ist ärmer und karger, aber ebenmäßiger ausgestattet, als die übrigen Theile der alten Welt. Es ist kein Land der überraschenden Wunder, der schroffen Contraste, der außerordentlichen Naturerscheinungen. Es hat keine Paradiese, aber auch leine Wüsten wie Asien mit seinen noch ungemessenen Hochländern, seinen kolossalen Stromsystcmen, seinen zahlreichen Völkerschaaren, mit seiner indischen Welt, der Gcwürzfüllc des Südens, den Eiscinödcn Sibiriens. Es unterscheidet sich in ähnlicher Weise von Afrika und Amerika durch geringern Reichthum und schwächere Gegensätze in seiner Natur. Die Nordenden und Südenden sind zwar verschieden genug, aber der Mensch kann sich beiden assi- miliren. Wir Deutsche erfreuen uns ebenso an norwegischer wie an süd¬ italienischer Landschaft. Derselbe Ackerbau reicht, indem der Golfstrom die Luft im Norden wärmt, vom Gestade des Mittelmeeres bis zum weißen Meere. Bei Altcngaard, auf dem 70" N. B., gibt es noch Fichtenwälder und Birken¬ haine, während in gleichen astronomischen Breiten in Asien, an den Mündun¬ gen des Jenisei und der Kvlyma kein Baum mehr wächst. Dort zu Altengaard blüht noch der Kirschbaum, reist noch die Erdbeere, und an der Mündung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/512>, abgerufen am 27.09.2024.