Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

paßt hier gar Manches nicht für unsern Agitator. Zum Beispiel, wenn man S. 193
liest: "Eine Täuschung ist es, daß, wenn das Volk nur erst das allgemeine
Stimmrecht haben werde, es seine Freunde wählen, und diese seine Lage ver¬
bessern würden. Diese angeblichen Freunde des Volkes, die Demagogen und
Volksschmeichler, benutzen das Volk, um sich selbst zu heben ; seine Lage zu bessern
haben sie nicht die Einsicht und meist auch gar nicht den Willen." Indeß der¬
gleichen überschlägt man und nimmt sich nur den Honig aus der Wabe, und
solcher Honig findet sich in der Schrift reichlich genug.

Nachdem Stahl die liberale Partei in seiner Art charakterisirt hat. sagt er:
"Das constitutionelle System in diesem Sinne entspricht ganz specifisch und
vollständig dem Interesse der Bourgeoisie, wie kein anderes. Sie er¬
reicht durch dasselbe ihr zweifaches Ziel! einerseits macht sie den König sich dienst¬
bar, andrerseits erhält sie sich dennoch am König zugleich eines der stärksten
Bollwerke gegen den nachdringenden pvuplö."

"Mit Beseitigung der Obergewalt des Königs (durch Einführung der par¬
lamentarischen Negierung all dem Recht der Budgetvermeigerung und der
Ministeranklage) ist jedoch das Ziel der liberalen Partei, die Herrschaft des
Mittelstandes, noch nicht völlig erreicht. Dazu ist noch erforderlich die Be¬
seitigung oder Gleichstellung der höhern Classen über demselben, die Beseitigung
aller Institutionen, deren Dignität überragende Stellungen begründet, Ab¬
schaffung der Rechte des Aldels und alles dessen, was eine Stetigkeit des Be¬
sitzes und der Macht in den bestimmten Familien und einer bestimmten Classe
herbeiführt." -- "Dies sind die Mittel und Einrichtungen, welche die liberale
Partei nach der einen Seite entwickelt, zur Erringung der Obergewalt über den
König, zur Beseitigung aller höhern gesellschaftlichen Elemente über der B ougevisie.
Aber die liberale Partei entwickelt in gleichem Maße ihre Mittel und Einrichtungen
auch nach einer andern Seite. Nämlich, um die große Volksmasse fern zu halten,
sie nicht mit eindringen zu lassen in die Burg der Herrschaft, die sie dem
Königthum und der alten Gesellschaft abgerungen. Dazu bewegt sie theils die
Besorgniß -- sie fürchtet an dieser bestimmten Classe die Roheit, Leidenschaft
und Unordnung, und damit die Störung der befriedigten Existenz, in deren
Besitz sie ist und die sie durch die Staatsreformcn erhöhen, nicht gefährden
will -- theils das natürliche Selbstgefühl des Reichthums und der Bildung
gegenüber dem Mangel. Ihre Mittel und Einrichtungen beruhen nach dieser
Seite hin zum größten Theil auf einem einzigen und einfachen Grundsatze:
überall das Vermögen zur Bedingung des politischen Vollrechts
zu machen. Dahin gehört vor Allem der Census für die Volksvertretung,
für die Gemeindevertretung, für das Schwurgericht; dahin das Erfordernis; der
Bewaffnung und Uniformirung auf eigne Kosten für die Nationalgarde, dahin
die Kautionen und Stempel für Zeitungen und Journale. Dadurch ist alle


paßt hier gar Manches nicht für unsern Agitator. Zum Beispiel, wenn man S. 193
liest: „Eine Täuschung ist es, daß, wenn das Volk nur erst das allgemeine
Stimmrecht haben werde, es seine Freunde wählen, und diese seine Lage ver¬
bessern würden. Diese angeblichen Freunde des Volkes, die Demagogen und
Volksschmeichler, benutzen das Volk, um sich selbst zu heben ; seine Lage zu bessern
haben sie nicht die Einsicht und meist auch gar nicht den Willen." Indeß der¬
gleichen überschlägt man und nimmt sich nur den Honig aus der Wabe, und
solcher Honig findet sich in der Schrift reichlich genug.

Nachdem Stahl die liberale Partei in seiner Art charakterisirt hat. sagt er:
„Das constitutionelle System in diesem Sinne entspricht ganz specifisch und
vollständig dem Interesse der Bourgeoisie, wie kein anderes. Sie er¬
reicht durch dasselbe ihr zweifaches Ziel! einerseits macht sie den König sich dienst¬
bar, andrerseits erhält sie sich dennoch am König zugleich eines der stärksten
Bollwerke gegen den nachdringenden pvuplö."

„Mit Beseitigung der Obergewalt des Königs (durch Einführung der par¬
lamentarischen Negierung all dem Recht der Budgetvermeigerung und der
Ministeranklage) ist jedoch das Ziel der liberalen Partei, die Herrschaft des
Mittelstandes, noch nicht völlig erreicht. Dazu ist noch erforderlich die Be¬
seitigung oder Gleichstellung der höhern Classen über demselben, die Beseitigung
aller Institutionen, deren Dignität überragende Stellungen begründet, Ab¬
schaffung der Rechte des Aldels und alles dessen, was eine Stetigkeit des Be¬
sitzes und der Macht in den bestimmten Familien und einer bestimmten Classe
herbeiführt." — „Dies sind die Mittel und Einrichtungen, welche die liberale
Partei nach der einen Seite entwickelt, zur Erringung der Obergewalt über den
König, zur Beseitigung aller höhern gesellschaftlichen Elemente über der B ougevisie.
Aber die liberale Partei entwickelt in gleichem Maße ihre Mittel und Einrichtungen
auch nach einer andern Seite. Nämlich, um die große Volksmasse fern zu halten,
sie nicht mit eindringen zu lassen in die Burg der Herrschaft, die sie dem
Königthum und der alten Gesellschaft abgerungen. Dazu bewegt sie theils die
Besorgniß — sie fürchtet an dieser bestimmten Classe die Roheit, Leidenschaft
und Unordnung, und damit die Störung der befriedigten Existenz, in deren
Besitz sie ist und die sie durch die Staatsreformcn erhöhen, nicht gefährden
will — theils das natürliche Selbstgefühl des Reichthums und der Bildung
gegenüber dem Mangel. Ihre Mittel und Einrichtungen beruhen nach dieser
Seite hin zum größten Theil auf einem einzigen und einfachen Grundsatze:
überall das Vermögen zur Bedingung des politischen Vollrechts
zu machen. Dahin gehört vor Allem der Census für die Volksvertretung,
für die Gemeindevertretung, für das Schwurgericht; dahin das Erfordernis; der
Bewaffnung und Uniformirung auf eigne Kosten für die Nationalgarde, dahin
die Kautionen und Stempel für Zeitungen und Journale. Dadurch ist alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0412" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188439"/>
            <p xml:id="ID_1301" prev="#ID_1300"> paßt hier gar Manches nicht für unsern Agitator. Zum Beispiel, wenn man S. 193<lb/>
liest: &#x201E;Eine Täuschung ist es, daß, wenn das Volk nur erst das allgemeine<lb/>
Stimmrecht haben werde, es seine Freunde wählen, und diese seine Lage ver¬<lb/>
bessern würden. Diese angeblichen Freunde des Volkes, die Demagogen und<lb/>
Volksschmeichler, benutzen das Volk, um sich selbst zu heben ; seine Lage zu bessern<lb/>
haben sie nicht die Einsicht und meist auch gar nicht den Willen." Indeß der¬<lb/>
gleichen überschlägt man und nimmt sich nur den Honig aus der Wabe, und<lb/>
solcher Honig findet sich in der Schrift reichlich genug.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1302"> Nachdem Stahl die liberale Partei in seiner Art charakterisirt hat. sagt er:<lb/>
&#x201E;Das constitutionelle System in diesem Sinne entspricht ganz specifisch und<lb/>
vollständig dem Interesse der Bourgeoisie, wie kein anderes. Sie er¬<lb/>
reicht durch dasselbe ihr zweifaches Ziel! einerseits macht sie den König sich dienst¬<lb/>
bar, andrerseits erhält sie sich dennoch am König zugleich eines der stärksten<lb/>
Bollwerke gegen den nachdringenden pvuplö."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1303" next="#ID_1304"> &#x201E;Mit Beseitigung der Obergewalt des Königs (durch Einführung der par¬<lb/>
lamentarischen Negierung all dem Recht der Budgetvermeigerung und der<lb/>
Ministeranklage) ist jedoch das Ziel der liberalen Partei, die Herrschaft des<lb/>
Mittelstandes, noch nicht völlig erreicht. Dazu ist noch erforderlich die Be¬<lb/>
seitigung oder Gleichstellung der höhern Classen über demselben, die Beseitigung<lb/>
aller Institutionen, deren Dignität überragende Stellungen begründet, Ab¬<lb/>
schaffung der Rechte des Aldels und alles dessen, was eine Stetigkeit des Be¬<lb/>
sitzes und der Macht in den bestimmten Familien und einer bestimmten Classe<lb/>
herbeiführt." &#x2014; &#x201E;Dies sind die Mittel und Einrichtungen, welche die liberale<lb/>
Partei nach der einen Seite entwickelt, zur Erringung der Obergewalt über den<lb/>
König, zur Beseitigung aller höhern gesellschaftlichen Elemente über der B ougevisie.<lb/>
Aber die liberale Partei entwickelt in gleichem Maße ihre Mittel und Einrichtungen<lb/>
auch nach einer andern Seite. Nämlich, um die große Volksmasse fern zu halten,<lb/>
sie nicht mit eindringen zu lassen in die Burg der Herrschaft, die sie dem<lb/>
Königthum und der alten Gesellschaft abgerungen. Dazu bewegt sie theils die<lb/>
Besorgniß &#x2014; sie fürchtet an dieser bestimmten Classe die Roheit, Leidenschaft<lb/>
und Unordnung, und damit die Störung der befriedigten Existenz, in deren<lb/>
Besitz sie ist und die sie durch die Staatsreformcn erhöhen, nicht gefährden<lb/>
will &#x2014; theils das natürliche Selbstgefühl des Reichthums und der Bildung<lb/>
gegenüber dem Mangel. Ihre Mittel und Einrichtungen beruhen nach dieser<lb/>
Seite hin zum größten Theil auf einem einzigen und einfachen Grundsatze:<lb/>
überall das Vermögen zur Bedingung des politischen Vollrechts<lb/>
zu machen. Dahin gehört vor Allem der Census für die Volksvertretung,<lb/>
für die Gemeindevertretung, für das Schwurgericht; dahin das Erfordernis; der<lb/>
Bewaffnung und Uniformirung auf eigne Kosten für die Nationalgarde, dahin<lb/>
die Kautionen und Stempel für Zeitungen und Journale.  Dadurch ist alle</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0412] paßt hier gar Manches nicht für unsern Agitator. Zum Beispiel, wenn man S. 193 liest: „Eine Täuschung ist es, daß, wenn das Volk nur erst das allgemeine Stimmrecht haben werde, es seine Freunde wählen, und diese seine Lage ver¬ bessern würden. Diese angeblichen Freunde des Volkes, die Demagogen und Volksschmeichler, benutzen das Volk, um sich selbst zu heben ; seine Lage zu bessern haben sie nicht die Einsicht und meist auch gar nicht den Willen." Indeß der¬ gleichen überschlägt man und nimmt sich nur den Honig aus der Wabe, und solcher Honig findet sich in der Schrift reichlich genug. Nachdem Stahl die liberale Partei in seiner Art charakterisirt hat. sagt er: „Das constitutionelle System in diesem Sinne entspricht ganz specifisch und vollständig dem Interesse der Bourgeoisie, wie kein anderes. Sie er¬ reicht durch dasselbe ihr zweifaches Ziel! einerseits macht sie den König sich dienst¬ bar, andrerseits erhält sie sich dennoch am König zugleich eines der stärksten Bollwerke gegen den nachdringenden pvuplö." „Mit Beseitigung der Obergewalt des Königs (durch Einführung der par¬ lamentarischen Negierung all dem Recht der Budgetvermeigerung und der Ministeranklage) ist jedoch das Ziel der liberalen Partei, die Herrschaft des Mittelstandes, noch nicht völlig erreicht. Dazu ist noch erforderlich die Be¬ seitigung oder Gleichstellung der höhern Classen über demselben, die Beseitigung aller Institutionen, deren Dignität überragende Stellungen begründet, Ab¬ schaffung der Rechte des Aldels und alles dessen, was eine Stetigkeit des Be¬ sitzes und der Macht in den bestimmten Familien und einer bestimmten Classe herbeiführt." — „Dies sind die Mittel und Einrichtungen, welche die liberale Partei nach der einen Seite entwickelt, zur Erringung der Obergewalt über den König, zur Beseitigung aller höhern gesellschaftlichen Elemente über der B ougevisie. Aber die liberale Partei entwickelt in gleichem Maße ihre Mittel und Einrichtungen auch nach einer andern Seite. Nämlich, um die große Volksmasse fern zu halten, sie nicht mit eindringen zu lassen in die Burg der Herrschaft, die sie dem Königthum und der alten Gesellschaft abgerungen. Dazu bewegt sie theils die Besorgniß — sie fürchtet an dieser bestimmten Classe die Roheit, Leidenschaft und Unordnung, und damit die Störung der befriedigten Existenz, in deren Besitz sie ist und die sie durch die Staatsreformcn erhöhen, nicht gefährden will — theils das natürliche Selbstgefühl des Reichthums und der Bildung gegenüber dem Mangel. Ihre Mittel und Einrichtungen beruhen nach dieser Seite hin zum größten Theil auf einem einzigen und einfachen Grundsatze: überall das Vermögen zur Bedingung des politischen Vollrechts zu machen. Dahin gehört vor Allem der Census für die Volksvertretung, für die Gemeindevertretung, für das Schwurgericht; dahin das Erfordernis; der Bewaffnung und Uniformirung auf eigne Kosten für die Nationalgarde, dahin die Kautionen und Stempel für Zeitungen und Journale. Dadurch ist alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/412
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/412>, abgerufen am 27.09.2024.