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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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dem Ausleben derselben seine eigene Gestaltungskraft zu verlieren scheint. So
hat die Renaissance den gothischen Stil gleichsam begraben, der in der voll¬
endeten, aber einseitigen Folgerichtigkeit seines Aufstrebens, in der ^Auflösung
der Massen in ein phantastisches Spiel steigender Kräfte nicht sowohl der Aus¬
druck des Echtdcutschen, als des ganzen mittelalterlichen Abendlandes war, und
zur Antike zurückgegriffen. Nicht aber um ihre Formen unselbständig nachzu¬
ahmen, sondern um ihnen in freier Nach- und Ausbildung das Gepräge ihrer
Zwecke und ihr er Anschauung aufzudrücken. So baute Brunelleschi S. Spirito
in Florenz, Bramante seine römischen Paläste. Aehnlich hat in unserem Jahr¬
hundert die Architektur, als ihr mit dem lebenslustigen, aber gesetzlosen und
despotischen Fürstcnregimcnt des achtzehnten Jahrhunderts zugleich der aus¬
gelassene, jeder Construction gleichsam spottende Zopf abgeschnitten war, an
der griechischen Bauweise sich neu zu beleben gesucht. So glücklich freilich wie
die Renaissance war sie nicht. Zum Theil Wohl verfuhr sie einseitig und hielt
sich zu unfrei an die überlieferte Form, um der Anfang einer entwickelungs¬
fähigen Bauthätigkeit zu sein; zum Theil war sie der Ausdruck jener classischen
Zeitströmung, welche die Gebildeten sowohl von der geschminkten Unwahrheit
der vorangegangenen Zeit als der Rohheit einer im Kampfe begriffenen Welt,
zugleich aber von der lebendigen Gegenwart abseits trieb. Sie wollte nicht die
structiven Formen der antiken Baukunst zu den Zwecken ihrer Zeit frei sich an¬
eignen, wie die Renaissance gethan, sondern uns womöglich in die bauende
Stimmung des griechischen Volkes zurückversetzen.

Wir haben absichtlich diese beiden Erneuerungen des Alterthums zusammen¬
gestellt, um an einem deutlichen Beispiele zu sehen, wie die spätere Zeit die
Architektur der früheren in sich aufzunehmen hat und wie nicht. Sie kann die
structiven Gesetze aller Stile verwerthen, sobald sie nur zwanglos in ihnen
ihre Zwecke auszudrücken und die verschiedenen entlehnten Formen in Einklang
zu bringen weiß. Sie soll aber nicht ihre Bedürfnisse genau in die Form
zwängen wollen, die der Ausdruck einer ganz anderen Weltanschauung ist.
Doch die Münchener Architekten irren sich, wenn sie deshalb glauben, gegen
jene classische Richtung im Rechte zu sein. Besser noch, eine Form nachahmen,
weiche das vollendete Werk eines human gebildeten Geistes ist und daher die
Elemente für jede spätere Entwicklung enthält, als Stil- und kcnntnißlos alle
Bauarten der Welt zusammenstöppeln und dabei ebensowohl ihre künstlerische
Gestalt als ihre Gesetze zertrümmern, um etwas allerdings noch nicht Da-
gewesenes zusammenzuleimen, das ebenso zweck- als charakterlos ist. Und darin
haben, wie wir bald sehen werden, die neuen Baumeister das Unglaubliche ge¬
leistet.

Und hier kommen wir auf eine weitere Verkehrtheit, die sich in dem Mün¬
chener Unternehmen zeigt. Nicht blos ist in diesem den wesentlichen Bedingungen


dem Ausleben derselben seine eigene Gestaltungskraft zu verlieren scheint. So
hat die Renaissance den gothischen Stil gleichsam begraben, der in der voll¬
endeten, aber einseitigen Folgerichtigkeit seines Aufstrebens, in der ^Auflösung
der Massen in ein phantastisches Spiel steigender Kräfte nicht sowohl der Aus¬
druck des Echtdcutschen, als des ganzen mittelalterlichen Abendlandes war, und
zur Antike zurückgegriffen. Nicht aber um ihre Formen unselbständig nachzu¬
ahmen, sondern um ihnen in freier Nach- und Ausbildung das Gepräge ihrer
Zwecke und ihr er Anschauung aufzudrücken. So baute Brunelleschi S. Spirito
in Florenz, Bramante seine römischen Paläste. Aehnlich hat in unserem Jahr¬
hundert die Architektur, als ihr mit dem lebenslustigen, aber gesetzlosen und
despotischen Fürstcnregimcnt des achtzehnten Jahrhunderts zugleich der aus¬
gelassene, jeder Construction gleichsam spottende Zopf abgeschnitten war, an
der griechischen Bauweise sich neu zu beleben gesucht. So glücklich freilich wie
die Renaissance war sie nicht. Zum Theil Wohl verfuhr sie einseitig und hielt
sich zu unfrei an die überlieferte Form, um der Anfang einer entwickelungs¬
fähigen Bauthätigkeit zu sein; zum Theil war sie der Ausdruck jener classischen
Zeitströmung, welche die Gebildeten sowohl von der geschminkten Unwahrheit
der vorangegangenen Zeit als der Rohheit einer im Kampfe begriffenen Welt,
zugleich aber von der lebendigen Gegenwart abseits trieb. Sie wollte nicht die
structiven Formen der antiken Baukunst zu den Zwecken ihrer Zeit frei sich an¬
eignen, wie die Renaissance gethan, sondern uns womöglich in die bauende
Stimmung des griechischen Volkes zurückversetzen.

Wir haben absichtlich diese beiden Erneuerungen des Alterthums zusammen¬
gestellt, um an einem deutlichen Beispiele zu sehen, wie die spätere Zeit die
Architektur der früheren in sich aufzunehmen hat und wie nicht. Sie kann die
structiven Gesetze aller Stile verwerthen, sobald sie nur zwanglos in ihnen
ihre Zwecke auszudrücken und die verschiedenen entlehnten Formen in Einklang
zu bringen weiß. Sie soll aber nicht ihre Bedürfnisse genau in die Form
zwängen wollen, die der Ausdruck einer ganz anderen Weltanschauung ist.
Doch die Münchener Architekten irren sich, wenn sie deshalb glauben, gegen
jene classische Richtung im Rechte zu sein. Besser noch, eine Form nachahmen,
weiche das vollendete Werk eines human gebildeten Geistes ist und daher die
Elemente für jede spätere Entwicklung enthält, als Stil- und kcnntnißlos alle
Bauarten der Welt zusammenstöppeln und dabei ebensowohl ihre künstlerische
Gestalt als ihre Gesetze zertrümmern, um etwas allerdings noch nicht Da-
gewesenes zusammenzuleimen, das ebenso zweck- als charakterlos ist. Und darin
haben, wie wir bald sehen werden, die neuen Baumeister das Unglaubliche ge¬
leistet.

Und hier kommen wir auf eine weitere Verkehrtheit, die sich in dem Mün¬
chener Unternehmen zeigt. Nicht blos ist in diesem den wesentlichen Bedingungen


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[0377] dem Ausleben derselben seine eigene Gestaltungskraft zu verlieren scheint. So hat die Renaissance den gothischen Stil gleichsam begraben, der in der voll¬ endeten, aber einseitigen Folgerichtigkeit seines Aufstrebens, in der ^Auflösung der Massen in ein phantastisches Spiel steigender Kräfte nicht sowohl der Aus¬ druck des Echtdcutschen, als des ganzen mittelalterlichen Abendlandes war, und zur Antike zurückgegriffen. Nicht aber um ihre Formen unselbständig nachzu¬ ahmen, sondern um ihnen in freier Nach- und Ausbildung das Gepräge ihrer Zwecke und ihr er Anschauung aufzudrücken. So baute Brunelleschi S. Spirito in Florenz, Bramante seine römischen Paläste. Aehnlich hat in unserem Jahr¬ hundert die Architektur, als ihr mit dem lebenslustigen, aber gesetzlosen und despotischen Fürstcnregimcnt des achtzehnten Jahrhunderts zugleich der aus¬ gelassene, jeder Construction gleichsam spottende Zopf abgeschnitten war, an der griechischen Bauweise sich neu zu beleben gesucht. So glücklich freilich wie die Renaissance war sie nicht. Zum Theil Wohl verfuhr sie einseitig und hielt sich zu unfrei an die überlieferte Form, um der Anfang einer entwickelungs¬ fähigen Bauthätigkeit zu sein; zum Theil war sie der Ausdruck jener classischen Zeitströmung, welche die Gebildeten sowohl von der geschminkten Unwahrheit der vorangegangenen Zeit als der Rohheit einer im Kampfe begriffenen Welt, zugleich aber von der lebendigen Gegenwart abseits trieb. Sie wollte nicht die structiven Formen der antiken Baukunst zu den Zwecken ihrer Zeit frei sich an¬ eignen, wie die Renaissance gethan, sondern uns womöglich in die bauende Stimmung des griechischen Volkes zurückversetzen. Wir haben absichtlich diese beiden Erneuerungen des Alterthums zusammen¬ gestellt, um an einem deutlichen Beispiele zu sehen, wie die spätere Zeit die Architektur der früheren in sich aufzunehmen hat und wie nicht. Sie kann die structiven Gesetze aller Stile verwerthen, sobald sie nur zwanglos in ihnen ihre Zwecke auszudrücken und die verschiedenen entlehnten Formen in Einklang zu bringen weiß. Sie soll aber nicht ihre Bedürfnisse genau in die Form zwängen wollen, die der Ausdruck einer ganz anderen Weltanschauung ist. Doch die Münchener Architekten irren sich, wenn sie deshalb glauben, gegen jene classische Richtung im Rechte zu sein. Besser noch, eine Form nachahmen, weiche das vollendete Werk eines human gebildeten Geistes ist und daher die Elemente für jede spätere Entwicklung enthält, als Stil- und kcnntnißlos alle Bauarten der Welt zusammenstöppeln und dabei ebensowohl ihre künstlerische Gestalt als ihre Gesetze zertrümmern, um etwas allerdings noch nicht Da- gewesenes zusammenzuleimen, das ebenso zweck- als charakterlos ist. Und darin haben, wie wir bald sehen werden, die neuen Baumeister das Unglaubliche ge¬ leistet. Und hier kommen wir auf eine weitere Verkehrtheit, die sich in dem Mün¬ chener Unternehmen zeigt. Nicht blos ist in diesem den wesentlichen Bedingungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/377>, abgerufen am 27.09.2024.