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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Art als ein Musterbild aller der Anstrengungen gelten kann, mit denen das
Zeitalter eine eigenthümliche schöpferische Kraft auf dem Felde der Kunst zu be¬
währen strebt. Die neueste Münchener Architektur gibt sich geradezu für den
Oedipus aus, der das Räthsel des modernen Baustils gelöst hat und nun der
Gegenwart ihr neues Haus gründet. Auch scheinen alle günstigen Bedingungen
zu der neuen epochemachenden Schöpfung zusammenzuwirken. Nothwendig
mußte die Kunst, welche den festen Grund und, nach Wischers treffendem Aus¬
druck, die "Versammlungsstätte für alle übrigen Künste" abgibt, den Anfang
machen; und diesmal sollte sie weder dem gewöhnlichen Bedürfnisse, noch einer
königlichen Liebhaberei dienen, sondern für verschiedene Zwecke des Staats-
wesens und Gesammtlcbens eine Gruppe von monumentalen Bauten her¬
stellen, an die sich dann eine Reihe Privathäuser, in demselben künstlerischen
Charakter gehalten -- um gleichsam das tägliche Dasein über den Boden der
gemeinen Noth und Bedürftigkeit erhoben zu zeigen -- anzuschließen hatte.
Eine große, unzerstückte, öffentliche Ausgabe, bei welcher der modernen Bau¬
phantasie durch den großen Sinn des Königs freier Spielraum gegeben war
und zudem durch seine Gunst die erforderlichen Mittel ungeschmälert zu Gebote
standen.

Zugleich hätte es sich, so sollte man glauben, sür die Erneuerung der
Kunst nicht glücklicher treffe" können. Diesmal schien man, was in Deutsch¬
land nicht immer der Fall ist, die Sache am rechten Ende angegriffen zu haben.
Soll die bildende Kunst überhaupt zu einer selbständigen Blüthe kommen, so
handelt es sich vor Allem darum, ihr Gelegenheit zu monumentaler Entwicke¬
lung zu geben. Nicht nur hat die Architektur für die Plastik und die Malerei
den Raum herzustellen, sondern indem sie, als die umschließende Hülle für das
gesammte Leben, der ursprüngliche und fundamentale Ausdruck der allgemeinen
Stimmung einer Zeit und Nation ist, gibt sie zugleich für die Anschauungs¬
weise der Schwesterkünste das Prototyp ab. Sie ist die erste mächtige Aeuße¬
rung des in neue Formen sich fassenden Gesammtlebcns, und, wie sie den
neuen Weltzustand in, gegliederten Bau gleichsam abspiegelt, so schlägt sie den
festen Grundton an, in welchem Plastik und Malerei das mannigfache Spiel
des Menschenlebens in bewegter Erscheinung ausklingen lassen. Ganz wie ein
Volk baut, in derselben Stimmung des Gemüths, in demselben Charakter der
Form bildet es seine Götter und zeigt es die Welt in farbigem Widerscheine.
Wo die Architektur ein eigenthümliches Leben entfaltet hat, da sehen wir über¬
all die bildenden Künste in großen Zügen den Charakter der Zeit und die
Gestalten ausprägen, in denen sich die Phantasie des Volkes die es bewegenden
Lebensmächte Versinnlicht. So ist die Architektur gleichsam das Postament,
auf dem in jeder Kunstepoche der Mensch, was seine Brust erfüllt und sein
Schicksal bestimmt, aus der Noth der Wirklichkeit in die reine Höhe des idealen


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Art als ein Musterbild aller der Anstrengungen gelten kann, mit denen das
Zeitalter eine eigenthümliche schöpferische Kraft auf dem Felde der Kunst zu be¬
währen strebt. Die neueste Münchener Architektur gibt sich geradezu für den
Oedipus aus, der das Räthsel des modernen Baustils gelöst hat und nun der
Gegenwart ihr neues Haus gründet. Auch scheinen alle günstigen Bedingungen
zu der neuen epochemachenden Schöpfung zusammenzuwirken. Nothwendig
mußte die Kunst, welche den festen Grund und, nach Wischers treffendem Aus¬
druck, die „Versammlungsstätte für alle übrigen Künste" abgibt, den Anfang
machen; und diesmal sollte sie weder dem gewöhnlichen Bedürfnisse, noch einer
königlichen Liebhaberei dienen, sondern für verschiedene Zwecke des Staats-
wesens und Gesammtlcbens eine Gruppe von monumentalen Bauten her¬
stellen, an die sich dann eine Reihe Privathäuser, in demselben künstlerischen
Charakter gehalten — um gleichsam das tägliche Dasein über den Boden der
gemeinen Noth und Bedürftigkeit erhoben zu zeigen — anzuschließen hatte.
Eine große, unzerstückte, öffentliche Ausgabe, bei welcher der modernen Bau¬
phantasie durch den großen Sinn des Königs freier Spielraum gegeben war
und zudem durch seine Gunst die erforderlichen Mittel ungeschmälert zu Gebote
standen.

Zugleich hätte es sich, so sollte man glauben, sür die Erneuerung der
Kunst nicht glücklicher treffe» können. Diesmal schien man, was in Deutsch¬
land nicht immer der Fall ist, die Sache am rechten Ende angegriffen zu haben.
Soll die bildende Kunst überhaupt zu einer selbständigen Blüthe kommen, so
handelt es sich vor Allem darum, ihr Gelegenheit zu monumentaler Entwicke¬
lung zu geben. Nicht nur hat die Architektur für die Plastik und die Malerei
den Raum herzustellen, sondern indem sie, als die umschließende Hülle für das
gesammte Leben, der ursprüngliche und fundamentale Ausdruck der allgemeinen
Stimmung einer Zeit und Nation ist, gibt sie zugleich für die Anschauungs¬
weise der Schwesterkünste das Prototyp ab. Sie ist die erste mächtige Aeuße¬
rung des in neue Formen sich fassenden Gesammtlebcns, und, wie sie den
neuen Weltzustand in, gegliederten Bau gleichsam abspiegelt, so schlägt sie den
festen Grundton an, in welchem Plastik und Malerei das mannigfache Spiel
des Menschenlebens in bewegter Erscheinung ausklingen lassen. Ganz wie ein
Volk baut, in derselben Stimmung des Gemüths, in demselben Charakter der
Form bildet es seine Götter und zeigt es die Welt in farbigem Widerscheine.
Wo die Architektur ein eigenthümliches Leben entfaltet hat, da sehen wir über¬
all die bildenden Künste in großen Zügen den Charakter der Zeit und die
Gestalten ausprägen, in denen sich die Phantasie des Volkes die es bewegenden
Lebensmächte Versinnlicht. So ist die Architektur gleichsam das Postament,
auf dem in jeder Kunstepoche der Mensch, was seine Brust erfüllt und sein
Schicksal bestimmt, aus der Noth der Wirklichkeit in die reine Höhe des idealen


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[0367] Art als ein Musterbild aller der Anstrengungen gelten kann, mit denen das Zeitalter eine eigenthümliche schöpferische Kraft auf dem Felde der Kunst zu be¬ währen strebt. Die neueste Münchener Architektur gibt sich geradezu für den Oedipus aus, der das Räthsel des modernen Baustils gelöst hat und nun der Gegenwart ihr neues Haus gründet. Auch scheinen alle günstigen Bedingungen zu der neuen epochemachenden Schöpfung zusammenzuwirken. Nothwendig mußte die Kunst, welche den festen Grund und, nach Wischers treffendem Aus¬ druck, die „Versammlungsstätte für alle übrigen Künste" abgibt, den Anfang machen; und diesmal sollte sie weder dem gewöhnlichen Bedürfnisse, noch einer königlichen Liebhaberei dienen, sondern für verschiedene Zwecke des Staats- wesens und Gesammtlcbens eine Gruppe von monumentalen Bauten her¬ stellen, an die sich dann eine Reihe Privathäuser, in demselben künstlerischen Charakter gehalten — um gleichsam das tägliche Dasein über den Boden der gemeinen Noth und Bedürftigkeit erhoben zu zeigen — anzuschließen hatte. Eine große, unzerstückte, öffentliche Ausgabe, bei welcher der modernen Bau¬ phantasie durch den großen Sinn des Königs freier Spielraum gegeben war und zudem durch seine Gunst die erforderlichen Mittel ungeschmälert zu Gebote standen. Zugleich hätte es sich, so sollte man glauben, sür die Erneuerung der Kunst nicht glücklicher treffe» können. Diesmal schien man, was in Deutsch¬ land nicht immer der Fall ist, die Sache am rechten Ende angegriffen zu haben. Soll die bildende Kunst überhaupt zu einer selbständigen Blüthe kommen, so handelt es sich vor Allem darum, ihr Gelegenheit zu monumentaler Entwicke¬ lung zu geben. Nicht nur hat die Architektur für die Plastik und die Malerei den Raum herzustellen, sondern indem sie, als die umschließende Hülle für das gesammte Leben, der ursprüngliche und fundamentale Ausdruck der allgemeinen Stimmung einer Zeit und Nation ist, gibt sie zugleich für die Anschauungs¬ weise der Schwesterkünste das Prototyp ab. Sie ist die erste mächtige Aeuße¬ rung des in neue Formen sich fassenden Gesammtlebcns, und, wie sie den neuen Weltzustand in, gegliederten Bau gleichsam abspiegelt, so schlägt sie den festen Grundton an, in welchem Plastik und Malerei das mannigfache Spiel des Menschenlebens in bewegter Erscheinung ausklingen lassen. Ganz wie ein Volk baut, in derselben Stimmung des Gemüths, in demselben Charakter der Form bildet es seine Götter und zeigt es die Welt in farbigem Widerscheine. Wo die Architektur ein eigenthümliches Leben entfaltet hat, da sehen wir über¬ all die bildenden Künste in großen Zügen den Charakter der Zeit und die Gestalten ausprägen, in denen sich die Phantasie des Volkes die es bewegenden Lebensmächte Versinnlicht. So ist die Architektur gleichsam das Postament, auf dem in jeder Kunstepoche der Mensch, was seine Brust erfüllt und sein Schicksal bestimmt, aus der Noth der Wirklichkeit in die reine Höhe des idealen 46*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/367>, abgerufen am 27.09.2024.