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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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in unseren Tagen wohl eine Nachblüthc, vielleicht den ersten Sproß eines
neuen Lebens, aber keine wirkliche volle Blüthe getrieben hat.

Allein wer wollte einer Zeit, die in allen Fächern nach neuen eigenthüm¬
lichen Formen ringt, den Versuch wehren, auch in der bildenden Kunst eine
neue Gestaltenwelt hervorzubringen? Hat sie, wie keine andere, mit dem
Nachlaß der Jahrhunderte sich ebensowohl bereichert als belastet, so sucht sie
nun diesen Erwerb zur breiten Grundlage zu machen, auf der sie nur um so
sicherer das eigene Haus für ihre neuen Götter aufzubauen gedenkt. Wenn
sie auf dem Gebiete der Religion für ihre Empfindung des Göttlichen nach
dem Ausdruck sucht, der an die Stelle der Positiven-Ueberlieferung treten soll,
wenn sie in der moralischen Welt um ein neues Sittengesetz, in der politischen
um andere Staatsformen, im socialen Verkehr um eine neue Ordnung, in der
Gesittung um eine eigenthümliche Gestaltung des modernen Lebens sich bemüht:
was ist natürlicher, als daß sie auch in der Kunst sich selber zur Erscheinung
zu bringen sucht, um im Bilde ihres Daseins gewiß und froh zu werden?

Wenn es aber mit der neuen Kunst in diesem Sinne Ernst sein oder
werden soll, so kommt es augenscheinlich darauf an, die Kunstweise, welche
den Charakter des modernen Gcsammtlebens in eigenthümlichen Formen an¬
schaulich und lebendig auspräge, mit einem Wort den Stil des neunzehnten
Jahrhunderts zu finden. Wir wollen hier nicht die Widersprüche hervorheben,
die darin liegen, daß man den neuen Stil, wie etwa die Losung eines chemi¬
schen Problems, durch Experimente herauszubringen hofft, da doch der Stil
einer Zeit als die ihr eingeborene Anschauungsweise, wie sie sich in der For-
menbehandlung kundgibt und entwickelt, schon ein in Formen Sehen voraus¬
setzt, daß man also sucht, was man schon haben müßte, um es zu finden.
Auch den Zweifel wollen wir noch bei Seite lassen, ob sich ein Stil in einem
Zeitalter bilden kann, das noch immer in der ungewissen Mitte zwischen einem
abgethanen und einem erst werdenden Weltzustände schwebt und, um die großen
Formen seines öffentlichen und privaten Lebens hervorzubringen, nur erst die
gährenden Elemente enthält. Von diesen allgemeinen Einwänden abzusehen
ist nicht mehr als billig, wenn es gilt, die Versuche, in denen die .Kunst der
Gegenwart sich auf ihre eigenen Füße zu stellen strebt, unbefangen und ohne
vorgefaßte Meinung zu betrachten. An diesen selber muß eine aufmerksame
Untersuchung finden, wie weit sie echt und lebensfähig, der naturvolle Aus¬
druck eines nach neuer Gestaltung ringenden Geistes, wie weit sie gemacht und
in sich selber haltlos, das leere Spiel einer willkürlichen Erfindung und eines
für das Wesen ebensowohl der Zeit als der Kunst blöden Sinnes sind.

Gerade der Gegenstand, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist, wie viel¬
leicht kein anderer, zu einer solchen Betrachtung angethan; in ihm faßt sich das
Suchen nach der neuen Kunstweise so bezeichnend zusammen, daß er in seiner


in unseren Tagen wohl eine Nachblüthc, vielleicht den ersten Sproß eines
neuen Lebens, aber keine wirkliche volle Blüthe getrieben hat.

Allein wer wollte einer Zeit, die in allen Fächern nach neuen eigenthüm¬
lichen Formen ringt, den Versuch wehren, auch in der bildenden Kunst eine
neue Gestaltenwelt hervorzubringen? Hat sie, wie keine andere, mit dem
Nachlaß der Jahrhunderte sich ebensowohl bereichert als belastet, so sucht sie
nun diesen Erwerb zur breiten Grundlage zu machen, auf der sie nur um so
sicherer das eigene Haus für ihre neuen Götter aufzubauen gedenkt. Wenn
sie auf dem Gebiete der Religion für ihre Empfindung des Göttlichen nach
dem Ausdruck sucht, der an die Stelle der Positiven-Ueberlieferung treten soll,
wenn sie in der moralischen Welt um ein neues Sittengesetz, in der politischen
um andere Staatsformen, im socialen Verkehr um eine neue Ordnung, in der
Gesittung um eine eigenthümliche Gestaltung des modernen Lebens sich bemüht:
was ist natürlicher, als daß sie auch in der Kunst sich selber zur Erscheinung
zu bringen sucht, um im Bilde ihres Daseins gewiß und froh zu werden?

Wenn es aber mit der neuen Kunst in diesem Sinne Ernst sein oder
werden soll, so kommt es augenscheinlich darauf an, die Kunstweise, welche
den Charakter des modernen Gcsammtlebens in eigenthümlichen Formen an¬
schaulich und lebendig auspräge, mit einem Wort den Stil des neunzehnten
Jahrhunderts zu finden. Wir wollen hier nicht die Widersprüche hervorheben,
die darin liegen, daß man den neuen Stil, wie etwa die Losung eines chemi¬
schen Problems, durch Experimente herauszubringen hofft, da doch der Stil
einer Zeit als die ihr eingeborene Anschauungsweise, wie sie sich in der For-
menbehandlung kundgibt und entwickelt, schon ein in Formen Sehen voraus¬
setzt, daß man also sucht, was man schon haben müßte, um es zu finden.
Auch den Zweifel wollen wir noch bei Seite lassen, ob sich ein Stil in einem
Zeitalter bilden kann, das noch immer in der ungewissen Mitte zwischen einem
abgethanen und einem erst werdenden Weltzustände schwebt und, um die großen
Formen seines öffentlichen und privaten Lebens hervorzubringen, nur erst die
gährenden Elemente enthält. Von diesen allgemeinen Einwänden abzusehen
ist nicht mehr als billig, wenn es gilt, die Versuche, in denen die .Kunst der
Gegenwart sich auf ihre eigenen Füße zu stellen strebt, unbefangen und ohne
vorgefaßte Meinung zu betrachten. An diesen selber muß eine aufmerksame
Untersuchung finden, wie weit sie echt und lebensfähig, der naturvolle Aus¬
druck eines nach neuer Gestaltung ringenden Geistes, wie weit sie gemacht und
in sich selber haltlos, das leere Spiel einer willkürlichen Erfindung und eines
für das Wesen ebensowohl der Zeit als der Kunst blöden Sinnes sind.

Gerade der Gegenstand, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist, wie viel¬
leicht kein anderer, zu einer solchen Betrachtung angethan; in ihm faßt sich das
Suchen nach der neuen Kunstweise so bezeichnend zusammen, daß er in seiner


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[0366] in unseren Tagen wohl eine Nachblüthc, vielleicht den ersten Sproß eines neuen Lebens, aber keine wirkliche volle Blüthe getrieben hat. Allein wer wollte einer Zeit, die in allen Fächern nach neuen eigenthüm¬ lichen Formen ringt, den Versuch wehren, auch in der bildenden Kunst eine neue Gestaltenwelt hervorzubringen? Hat sie, wie keine andere, mit dem Nachlaß der Jahrhunderte sich ebensowohl bereichert als belastet, so sucht sie nun diesen Erwerb zur breiten Grundlage zu machen, auf der sie nur um so sicherer das eigene Haus für ihre neuen Götter aufzubauen gedenkt. Wenn sie auf dem Gebiete der Religion für ihre Empfindung des Göttlichen nach dem Ausdruck sucht, der an die Stelle der Positiven-Ueberlieferung treten soll, wenn sie in der moralischen Welt um ein neues Sittengesetz, in der politischen um andere Staatsformen, im socialen Verkehr um eine neue Ordnung, in der Gesittung um eine eigenthümliche Gestaltung des modernen Lebens sich bemüht: was ist natürlicher, als daß sie auch in der Kunst sich selber zur Erscheinung zu bringen sucht, um im Bilde ihres Daseins gewiß und froh zu werden? Wenn es aber mit der neuen Kunst in diesem Sinne Ernst sein oder werden soll, so kommt es augenscheinlich darauf an, die Kunstweise, welche den Charakter des modernen Gcsammtlebens in eigenthümlichen Formen an¬ schaulich und lebendig auspräge, mit einem Wort den Stil des neunzehnten Jahrhunderts zu finden. Wir wollen hier nicht die Widersprüche hervorheben, die darin liegen, daß man den neuen Stil, wie etwa die Losung eines chemi¬ schen Problems, durch Experimente herauszubringen hofft, da doch der Stil einer Zeit als die ihr eingeborene Anschauungsweise, wie sie sich in der For- menbehandlung kundgibt und entwickelt, schon ein in Formen Sehen voraus¬ setzt, daß man also sucht, was man schon haben müßte, um es zu finden. Auch den Zweifel wollen wir noch bei Seite lassen, ob sich ein Stil in einem Zeitalter bilden kann, das noch immer in der ungewissen Mitte zwischen einem abgethanen und einem erst werdenden Weltzustände schwebt und, um die großen Formen seines öffentlichen und privaten Lebens hervorzubringen, nur erst die gährenden Elemente enthält. Von diesen allgemeinen Einwänden abzusehen ist nicht mehr als billig, wenn es gilt, die Versuche, in denen die .Kunst der Gegenwart sich auf ihre eigenen Füße zu stellen strebt, unbefangen und ohne vorgefaßte Meinung zu betrachten. An diesen selber muß eine aufmerksame Untersuchung finden, wie weit sie echt und lebensfähig, der naturvolle Aus¬ druck eines nach neuer Gestaltung ringenden Geistes, wie weit sie gemacht und in sich selber haltlos, das leere Spiel einer willkürlichen Erfindung und eines für das Wesen ebensowohl der Zeit als der Kunst blöden Sinnes sind. Gerade der Gegenstand, mit dem wir uns hier beschäftigen, ist, wie viel¬ leicht kein anderer, zu einer solchen Betrachtung angethan; in ihm faßt sich das Suchen nach der neuen Kunstweise so bezeichnend zusammen, daß er in seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/366>, abgerufen am 27.09.2024.