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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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kunst in jedem vorkommenden Falle hervorgingen, ist eine Reihe von Möglich¬
keiten getreten, die, wie sie die außer Fassung gesetzte Routine mit unruhiger
Besorgnis) erfüllen, so der Phantasie des unternehmungslustigen Staatsmanns
eine ungemessene Fülle verführerischer Gestaltungen vorschmeicheln und ihn zu
den kühnsten und mannigfaltigsten Combinationen reizen. Die Staaten stre¬
ben darnach, sich ihrer eigensten Bedürfnisse, die lange Zeit den Anforderungen
eines unnatürlichen Systems aufgeopfert waren, bewußt zu werden, und suchen
nach den Wegen, aus welchen dieselben befriedigt werden können. Eine solche
Krisis der allgemeinen Politik ist unter allen Umständen den davon berührten
Staaten gefährlich, sie ist es doppelt für Staaten, die in einem inneren Ent¬
wickelungsproceß begriffen sind, und in denen die Parteien nur allzu geneigt
sind, die allgemeinen Interessen des Staates nach ihren besonderen Wünschen,
Bedürfnissen und Sympathien zu beurtheilen.

Eine der bedeutungsvollsten Wirkungen der großen Krisis ist, daß sie die
Eifersucht der beiden deutschen Großmächte gegen einander in aller Schärfe hat
hervortreten lassen. Natürlich! denn in dem System der heiligen Alliance war
dieser Gegensatz keineswegs überwunden, sondern nur übertüncht und gebunden.
Mit gesteigerter Schroffheit, aber doch mit der Tendenz zur Ausgleichung trat
der Gegensatz von dem Augenblicke an hervor, wo das erwachende deutsche
Nationalgefühl sich auf die Umgestaltung des deutschen Staatenbundes zu rich¬
ten anfing. Die deutsche nationale Bewegung dreht sich um die Frage, wie
das Verhältniß der beiden großen Mächte zu einander sich zu gestalten habe,
um die Constituirung eines deutschen Bundesstaates zu ermöglichen. Als im
Jahre 1848 die deutsche Bewegung ausbrach, hoffte man im Fluge der Be¬
geisterung die alte zum Theil schon mit dem verschönernden Glänze des Mythus
umkleidete Herrlichkeit des deutschen Reiches im neunzehnten Jahrhundert wie¬
der erwecken zu können. Man dachte einen Bau aufzuführen, ehe man von
den Umrissen seiner Gestaltung eine Ahnung hatte. Wenige Wochen genügten,
um die Schwierigkeiten, über die Hoffnung und Begeisterung sich leicht hinweg¬
gesetzt hatten, zur vollen Geltung zu bringen. Man erkannte, daß man zum
Baue vor Allem eines Planes bedürfe, und sodann, daß die eigenen Kräfte
nicht genügen würden, um über das schwer zu handhabende Baumaterial un¬
beschränkt schalten und walten zu können. Die Berathung der Grundrechte
sollte die Zeit ausfüllen, bis die Umstände für die Constituirung des neuen
Reiches sich günstiger gestalten würden. Nach langem Mühen wurde endlich
der Plan entworfen, und man glaubte in Preußen die Macht gefunden zu ha¬
ben, die stark genug war, denselben auszuführen. Indessen war der günstige
Augenblick zur raschen Verwirklichung des großen Werkes vorüber. Wohl hätte
auch damals noch ein entschlossener Muth das Werk zum Ziele führen können.
Aber statt entschlossenen Muthes fand man in Preußen abwägendes Bedenken.


kunst in jedem vorkommenden Falle hervorgingen, ist eine Reihe von Möglich¬
keiten getreten, die, wie sie die außer Fassung gesetzte Routine mit unruhiger
Besorgnis) erfüllen, so der Phantasie des unternehmungslustigen Staatsmanns
eine ungemessene Fülle verführerischer Gestaltungen vorschmeicheln und ihn zu
den kühnsten und mannigfaltigsten Combinationen reizen. Die Staaten stre¬
ben darnach, sich ihrer eigensten Bedürfnisse, die lange Zeit den Anforderungen
eines unnatürlichen Systems aufgeopfert waren, bewußt zu werden, und suchen
nach den Wegen, aus welchen dieselben befriedigt werden können. Eine solche
Krisis der allgemeinen Politik ist unter allen Umständen den davon berührten
Staaten gefährlich, sie ist es doppelt für Staaten, die in einem inneren Ent¬
wickelungsproceß begriffen sind, und in denen die Parteien nur allzu geneigt
sind, die allgemeinen Interessen des Staates nach ihren besonderen Wünschen,
Bedürfnissen und Sympathien zu beurtheilen.

Eine der bedeutungsvollsten Wirkungen der großen Krisis ist, daß sie die
Eifersucht der beiden deutschen Großmächte gegen einander in aller Schärfe hat
hervortreten lassen. Natürlich! denn in dem System der heiligen Alliance war
dieser Gegensatz keineswegs überwunden, sondern nur übertüncht und gebunden.
Mit gesteigerter Schroffheit, aber doch mit der Tendenz zur Ausgleichung trat
der Gegensatz von dem Augenblicke an hervor, wo das erwachende deutsche
Nationalgefühl sich auf die Umgestaltung des deutschen Staatenbundes zu rich¬
ten anfing. Die deutsche nationale Bewegung dreht sich um die Frage, wie
das Verhältniß der beiden großen Mächte zu einander sich zu gestalten habe,
um die Constituirung eines deutschen Bundesstaates zu ermöglichen. Als im
Jahre 1848 die deutsche Bewegung ausbrach, hoffte man im Fluge der Be¬
geisterung die alte zum Theil schon mit dem verschönernden Glänze des Mythus
umkleidete Herrlichkeit des deutschen Reiches im neunzehnten Jahrhundert wie¬
der erwecken zu können. Man dachte einen Bau aufzuführen, ehe man von
den Umrissen seiner Gestaltung eine Ahnung hatte. Wenige Wochen genügten,
um die Schwierigkeiten, über die Hoffnung und Begeisterung sich leicht hinweg¬
gesetzt hatten, zur vollen Geltung zu bringen. Man erkannte, daß man zum
Baue vor Allem eines Planes bedürfe, und sodann, daß die eigenen Kräfte
nicht genügen würden, um über das schwer zu handhabende Baumaterial un¬
beschränkt schalten und walten zu können. Die Berathung der Grundrechte
sollte die Zeit ausfüllen, bis die Umstände für die Constituirung des neuen
Reiches sich günstiger gestalten würden. Nach langem Mühen wurde endlich
der Plan entworfen, und man glaubte in Preußen die Macht gefunden zu ha¬
ben, die stark genug war, denselben auszuführen. Indessen war der günstige
Augenblick zur raschen Verwirklichung des großen Werkes vorüber. Wohl hätte
auch damals noch ein entschlossener Muth das Werk zum Ziele führen können.
Aber statt entschlossenen Muthes fand man in Preußen abwägendes Bedenken.


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[0354] kunst in jedem vorkommenden Falle hervorgingen, ist eine Reihe von Möglich¬ keiten getreten, die, wie sie die außer Fassung gesetzte Routine mit unruhiger Besorgnis) erfüllen, so der Phantasie des unternehmungslustigen Staatsmanns eine ungemessene Fülle verführerischer Gestaltungen vorschmeicheln und ihn zu den kühnsten und mannigfaltigsten Combinationen reizen. Die Staaten stre¬ ben darnach, sich ihrer eigensten Bedürfnisse, die lange Zeit den Anforderungen eines unnatürlichen Systems aufgeopfert waren, bewußt zu werden, und suchen nach den Wegen, aus welchen dieselben befriedigt werden können. Eine solche Krisis der allgemeinen Politik ist unter allen Umständen den davon berührten Staaten gefährlich, sie ist es doppelt für Staaten, die in einem inneren Ent¬ wickelungsproceß begriffen sind, und in denen die Parteien nur allzu geneigt sind, die allgemeinen Interessen des Staates nach ihren besonderen Wünschen, Bedürfnissen und Sympathien zu beurtheilen. Eine der bedeutungsvollsten Wirkungen der großen Krisis ist, daß sie die Eifersucht der beiden deutschen Großmächte gegen einander in aller Schärfe hat hervortreten lassen. Natürlich! denn in dem System der heiligen Alliance war dieser Gegensatz keineswegs überwunden, sondern nur übertüncht und gebunden. Mit gesteigerter Schroffheit, aber doch mit der Tendenz zur Ausgleichung trat der Gegensatz von dem Augenblicke an hervor, wo das erwachende deutsche Nationalgefühl sich auf die Umgestaltung des deutschen Staatenbundes zu rich¬ ten anfing. Die deutsche nationale Bewegung dreht sich um die Frage, wie das Verhältniß der beiden großen Mächte zu einander sich zu gestalten habe, um die Constituirung eines deutschen Bundesstaates zu ermöglichen. Als im Jahre 1848 die deutsche Bewegung ausbrach, hoffte man im Fluge der Be¬ geisterung die alte zum Theil schon mit dem verschönernden Glänze des Mythus umkleidete Herrlichkeit des deutschen Reiches im neunzehnten Jahrhundert wie¬ der erwecken zu können. Man dachte einen Bau aufzuführen, ehe man von den Umrissen seiner Gestaltung eine Ahnung hatte. Wenige Wochen genügten, um die Schwierigkeiten, über die Hoffnung und Begeisterung sich leicht hinweg¬ gesetzt hatten, zur vollen Geltung zu bringen. Man erkannte, daß man zum Baue vor Allem eines Planes bedürfe, und sodann, daß die eigenen Kräfte nicht genügen würden, um über das schwer zu handhabende Baumaterial un¬ beschränkt schalten und walten zu können. Die Berathung der Grundrechte sollte die Zeit ausfüllen, bis die Umstände für die Constituirung des neuen Reiches sich günstiger gestalten würden. Nach langem Mühen wurde endlich der Plan entworfen, und man glaubte in Preußen die Macht gefunden zu ha¬ ben, die stark genug war, denselben auszuführen. Indessen war der günstige Augenblick zur raschen Verwirklichung des großen Werkes vorüber. Wohl hätte auch damals noch ein entschlossener Muth das Werk zum Ziele führen können. Aber statt entschlossenen Muthes fand man in Preußen abwägendes Bedenken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/354>, abgerufen am 27.09.2024.