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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Bei Platanitza (östlich von Karystv) zeigt man die Höhle des Drakos, in
der er zur Zeit, da man noch mit Pfeilen schoß, mit seiner Tochter in wilder
Ehe lebte und als das Schießpulver bekannt geworden, erschossen wurde. Eine
alte märchenkundige Andriotin erzählte uns, daß es vier Zeitalter gebe. Das
erste war das der Draken, dann kam das der götzendienenden Eures (Hellenen),
hierauf folgte das der Venetianer und auf dieses das der Türken. Sie erzählte
weiter: als die Menschen zu den Draken nach Andros kamen, da lebte daselbst
ein uralter Drakos, der war blind. Er bat, daß man ihm einen Menschen
zuführen möge, damit er ihn betasten und sich dadurch eine Vorstellung von
ihm machen könne. Um aber diesen vor Schaden zu bewahren (Eisen hat bei
Deutschen, Slaven und andern europäischen Völkern, selbst bei den Arabern,
die Kraft, vor dämonischen Mächten zu sichern), legte man ihm eine Pflug-
schaar auf den Kopf. Da ergriff der Alte die Pflugschaar und zerdrückte sie zu
Staub. Man vergleiche damit die nordische Sage bei Grimm (D. M. S. 907),
in welcher der blinde Riese verlangt, daß ihm einer der Seefahrer die Hand
reiche, damit er spüren könne, ob noch Kraft bei den Einwohnern geblieben
sei. Sie reichten ihm eine glühend gemachte Bootsstange, die der Niese zu¬
sammendrückte mit den Worten: große Kraft sei eben nicht mehr da."

Wie alt muß dieser Zug sein, der sich mit geringen Abweichungen an
den Gestaden der Nordsee und auf den Inseln des Archipelagus findet? Und
er ist in der That sehr alt, da er bereits im elften Buch der Mahabarata fast
wörtlich so wie in der Erzählung der alten Andriotin Hahns zu lesen ist. Es
heißt dort: nach der achtzehntägiger Schlacht bei Kuruxctra, in der Beinah die
Söhne des blinden, aber riesenstarken Königs Dryatarastra erschlagen hat, ruft
dieser letztere den Beinah zu sich, weil er ihn umarmen wolle. Aber Krisnas
erräth seine Absicht und legt ihm eine eiserne Bildsäule in die Arme, welche
der blinde Riesenkönig so fest an sich drückt, daß sie zerbricht. Wie die Tura-
ner im Schah Raumes, so vertritt nach unserer Ansicht jener Stamm des Drya-
iarastra die der Binnenwelt feindlichen Gewalten der Außenwelt, welche im
germanischen Norden den Namen und die Gestalt von Niesen angenommen
haben, während sie in Griechenland Draken heißen.

Ganz eigenthümlich scheinen dem griechischen Märchen der Hundskopf oder
Wolfsmann in Ur. 19, der halbe Mensch in Ur. 8 und 64 und der in ein
Hündchen verwandelte väterliche Segen in Ur. 101 der vorliegenden Samm¬
lung zu sein.

Wir schließen unsre Anzeige, indem wir den früher mitgetheilten vier
Stücken der hahnschen Sammlung noch eines folgen lassen. Es mag zeigen,
wie die Neugriechin ihrem Kinde die Geschichte von Aschenbrödel erzählt,
und zugleich ein Beispiel sein, in welcher Weise sich die verschiedene Bildung
der Ketten von Märchen unter den verschiedenen Völkern Europas vollzieht.


Grenzboten II. 1663. 19

Bei Platanitza (östlich von Karystv) zeigt man die Höhle des Drakos, in
der er zur Zeit, da man noch mit Pfeilen schoß, mit seiner Tochter in wilder
Ehe lebte und als das Schießpulver bekannt geworden, erschossen wurde. Eine
alte märchenkundige Andriotin erzählte uns, daß es vier Zeitalter gebe. Das
erste war das der Draken, dann kam das der götzendienenden Eures (Hellenen),
hierauf folgte das der Venetianer und auf dieses das der Türken. Sie erzählte
weiter: als die Menschen zu den Draken nach Andros kamen, da lebte daselbst
ein uralter Drakos, der war blind. Er bat, daß man ihm einen Menschen
zuführen möge, damit er ihn betasten und sich dadurch eine Vorstellung von
ihm machen könne. Um aber diesen vor Schaden zu bewahren (Eisen hat bei
Deutschen, Slaven und andern europäischen Völkern, selbst bei den Arabern,
die Kraft, vor dämonischen Mächten zu sichern), legte man ihm eine Pflug-
schaar auf den Kopf. Da ergriff der Alte die Pflugschaar und zerdrückte sie zu
Staub. Man vergleiche damit die nordische Sage bei Grimm (D. M. S. 907),
in welcher der blinde Riese verlangt, daß ihm einer der Seefahrer die Hand
reiche, damit er spüren könne, ob noch Kraft bei den Einwohnern geblieben
sei. Sie reichten ihm eine glühend gemachte Bootsstange, die der Niese zu¬
sammendrückte mit den Worten: große Kraft sei eben nicht mehr da."

Wie alt muß dieser Zug sein, der sich mit geringen Abweichungen an
den Gestaden der Nordsee und auf den Inseln des Archipelagus findet? Und
er ist in der That sehr alt, da er bereits im elften Buch der Mahabarata fast
wörtlich so wie in der Erzählung der alten Andriotin Hahns zu lesen ist. Es
heißt dort: nach der achtzehntägiger Schlacht bei Kuruxctra, in der Beinah die
Söhne des blinden, aber riesenstarken Königs Dryatarastra erschlagen hat, ruft
dieser letztere den Beinah zu sich, weil er ihn umarmen wolle. Aber Krisnas
erräth seine Absicht und legt ihm eine eiserne Bildsäule in die Arme, welche
der blinde Riesenkönig so fest an sich drückt, daß sie zerbricht. Wie die Tura-
ner im Schah Raumes, so vertritt nach unserer Ansicht jener Stamm des Drya-
iarastra die der Binnenwelt feindlichen Gewalten der Außenwelt, welche im
germanischen Norden den Namen und die Gestalt von Niesen angenommen
haben, während sie in Griechenland Draken heißen.

Ganz eigenthümlich scheinen dem griechischen Märchen der Hundskopf oder
Wolfsmann in Ur. 19, der halbe Mensch in Ur. 8 und 64 und der in ein
Hündchen verwandelte väterliche Segen in Ur. 101 der vorliegenden Samm¬
lung zu sein.

Wir schließen unsre Anzeige, indem wir den früher mitgetheilten vier
Stücken der hahnschen Sammlung noch eines folgen lassen. Es mag zeigen,
wie die Neugriechin ihrem Kinde die Geschichte von Aschenbrödel erzählt,
und zugleich ein Beispiel sein, in welcher Weise sich die verschiedene Bildung
der Ketten von Märchen unter den verschiedenen Völkern Europas vollzieht.


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[0149] Bei Platanitza (östlich von Karystv) zeigt man die Höhle des Drakos, in der er zur Zeit, da man noch mit Pfeilen schoß, mit seiner Tochter in wilder Ehe lebte und als das Schießpulver bekannt geworden, erschossen wurde. Eine alte märchenkundige Andriotin erzählte uns, daß es vier Zeitalter gebe. Das erste war das der Draken, dann kam das der götzendienenden Eures (Hellenen), hierauf folgte das der Venetianer und auf dieses das der Türken. Sie erzählte weiter: als die Menschen zu den Draken nach Andros kamen, da lebte daselbst ein uralter Drakos, der war blind. Er bat, daß man ihm einen Menschen zuführen möge, damit er ihn betasten und sich dadurch eine Vorstellung von ihm machen könne. Um aber diesen vor Schaden zu bewahren (Eisen hat bei Deutschen, Slaven und andern europäischen Völkern, selbst bei den Arabern, die Kraft, vor dämonischen Mächten zu sichern), legte man ihm eine Pflug- schaar auf den Kopf. Da ergriff der Alte die Pflugschaar und zerdrückte sie zu Staub. Man vergleiche damit die nordische Sage bei Grimm (D. M. S. 907), in welcher der blinde Riese verlangt, daß ihm einer der Seefahrer die Hand reiche, damit er spüren könne, ob noch Kraft bei den Einwohnern geblieben sei. Sie reichten ihm eine glühend gemachte Bootsstange, die der Niese zu¬ sammendrückte mit den Worten: große Kraft sei eben nicht mehr da." Wie alt muß dieser Zug sein, der sich mit geringen Abweichungen an den Gestaden der Nordsee und auf den Inseln des Archipelagus findet? Und er ist in der That sehr alt, da er bereits im elften Buch der Mahabarata fast wörtlich so wie in der Erzählung der alten Andriotin Hahns zu lesen ist. Es heißt dort: nach der achtzehntägiger Schlacht bei Kuruxctra, in der Beinah die Söhne des blinden, aber riesenstarken Königs Dryatarastra erschlagen hat, ruft dieser letztere den Beinah zu sich, weil er ihn umarmen wolle. Aber Krisnas erräth seine Absicht und legt ihm eine eiserne Bildsäule in die Arme, welche der blinde Riesenkönig so fest an sich drückt, daß sie zerbricht. Wie die Tura- ner im Schah Raumes, so vertritt nach unserer Ansicht jener Stamm des Drya- iarastra die der Binnenwelt feindlichen Gewalten der Außenwelt, welche im germanischen Norden den Namen und die Gestalt von Niesen angenommen haben, während sie in Griechenland Draken heißen. Ganz eigenthümlich scheinen dem griechischen Märchen der Hundskopf oder Wolfsmann in Ur. 19, der halbe Mensch in Ur. 8 und 64 und der in ein Hündchen verwandelte väterliche Segen in Ur. 101 der vorliegenden Samm¬ lung zu sein. Wir schließen unsre Anzeige, indem wir den früher mitgetheilten vier Stücken der hahnschen Sammlung noch eines folgen lassen. Es mag zeigen, wie die Neugriechin ihrem Kinde die Geschichte von Aschenbrödel erzählt, und zugleich ein Beispiel sein, in welcher Weise sich die verschiedene Bildung der Ketten von Märchen unter den verschiedenen Völkern Europas vollzieht. Grenzboten II. 1663. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/149>, abgerufen am 27.09.2024.