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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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rein unerklärlich erscheinen, wenn man annehmen wollte, daß die beiden
Märchenkrcise, und mithin auch die einschlägigen deutschen und neugriechischen
Märchen in geschichtlicher Zeit aus Indien entlehnt worden seien.

Genau so wie hier verhält es sich mit einer ganzen großen Classe von
Figuren, den Zwergen. Sie mangeln der althellenischer Sage; denn die Pyg¬
mäen, die Kerl'open und ähnliche Wesen lassen sich mit den germanischen
Zwergen kaum als verwandt vergleichen, auch stehen sie in der griechischen My¬
thologie so einsam da, daß man sie eher für fremdher entlehnte Vorstellungen,
als für Reste einer ausgestorbenen einheimischen Wescngattung halten darf.
Die Zwerge fehlen aber auch dem neugriechischen Märchen gänzlich, während
sie in dem deutschen hervorragende Glieder seines dämonischen Personals find.
Dagegen sind die neugriechischen Nereiden ganz nahe Verwandte unsrer Elfen,
und so hat sie unser Sammler namentlich da, wo sie im Urtext mit ihrem
Beinamen Exotita, d. h. die außerhalb der christlichen Weltordnung Befindlichen
bezeichnet waren, mit ihrem deutschen Namen aufgeführt. Ferner stimmen der
deutsche und der neugriechische Märchcnkreis darin überein, daß ihnen der Be¬
griff der schönen, ewig jugendfrischem Fee und ebenso die Vorstellung der
slavischen Wila fehlt, welche letztere so auffallende Berührungspunkte mit den
nordischen Walküren darbietet. Ihre Stelle wird in beiden Kreisen einfach
durch zaubertundige alte Frauen vertreten, von denen die das menschliche Schick¬
sal bestimmenden albanesischen Miren mit den althellenischer Parken einer
Wurzel entstammen. Die neugriechischen Drakänen (eigentlich Drachinncn)
und ebenso die Lamien sind unsre nordischen Niesen- oder Mcnschcnfrcsscrfrauen.

Ebenso findet das unbeholfene, ungeschlachte, mcnschenfleischlicbcnde, mit
ungeheurer Stärke aber wenig Verstand begabte und deshalb leicht zu über
Wende Wesen der deutschen Märchcnriescn in den Draken des neugriechischen
Märchens sein entsprechendes Gegenbild, in welchem die Vorstellung von eine"?
Drachen ganz vor der von einem ungeschlachten, riesenstarten Menschenfresser
zurücktritt.

Ueber diese Draken sagt Hahn: "Es wollte uns niemals gelingen, eine
klare Begriffsbestimmung des Wortes Drakos zu erzielen. Das männliche
Neugeborene wird Drakos genannt, wenn es noch nicht getauft ist. Der Name
kommt auch in Ortösagen vor, so z. B. auf der Insel Tinvs, wo eine schief'
aber glatt ins Meer abstürzende Fclsenfläche das "Waschbrett der Drakäna" ge¬
nannt wird, auf dem sie nach griechischer Weise ihre Wäsche wusch. In Karysto
schleuderten die Draken die in der Nähe der Stadt liegenden alten Säulen von
der Höhe herab. Unweit des Weges von da zum' Sanct Eliasberge (Och")
zeigt man die in die Felsen gedrückten Spuren der Hände und Füße des Dra¬
kos, als er vor den Hunden des ihn verfolgenden Bruders seiner Geliebten ur
eine (nicht vorhandene) Höhle schlüpfen wollte, von diesen aber zerrissen wurde.


rein unerklärlich erscheinen, wenn man annehmen wollte, daß die beiden
Märchenkrcise, und mithin auch die einschlägigen deutschen und neugriechischen
Märchen in geschichtlicher Zeit aus Indien entlehnt worden seien.

Genau so wie hier verhält es sich mit einer ganzen großen Classe von
Figuren, den Zwergen. Sie mangeln der althellenischer Sage; denn die Pyg¬
mäen, die Kerl'open und ähnliche Wesen lassen sich mit den germanischen
Zwergen kaum als verwandt vergleichen, auch stehen sie in der griechischen My¬
thologie so einsam da, daß man sie eher für fremdher entlehnte Vorstellungen,
als für Reste einer ausgestorbenen einheimischen Wescngattung halten darf.
Die Zwerge fehlen aber auch dem neugriechischen Märchen gänzlich, während
sie in dem deutschen hervorragende Glieder seines dämonischen Personals find.
Dagegen sind die neugriechischen Nereiden ganz nahe Verwandte unsrer Elfen,
und so hat sie unser Sammler namentlich da, wo sie im Urtext mit ihrem
Beinamen Exotita, d. h. die außerhalb der christlichen Weltordnung Befindlichen
bezeichnet waren, mit ihrem deutschen Namen aufgeführt. Ferner stimmen der
deutsche und der neugriechische Märchcnkreis darin überein, daß ihnen der Be¬
griff der schönen, ewig jugendfrischem Fee und ebenso die Vorstellung der
slavischen Wila fehlt, welche letztere so auffallende Berührungspunkte mit den
nordischen Walküren darbietet. Ihre Stelle wird in beiden Kreisen einfach
durch zaubertundige alte Frauen vertreten, von denen die das menschliche Schick¬
sal bestimmenden albanesischen Miren mit den althellenischer Parken einer
Wurzel entstammen. Die neugriechischen Drakänen (eigentlich Drachinncn)
und ebenso die Lamien sind unsre nordischen Niesen- oder Mcnschcnfrcsscrfrauen.

Ebenso findet das unbeholfene, ungeschlachte, mcnschenfleischlicbcnde, mit
ungeheurer Stärke aber wenig Verstand begabte und deshalb leicht zu über
Wende Wesen der deutschen Märchcnriescn in den Draken des neugriechischen
Märchens sein entsprechendes Gegenbild, in welchem die Vorstellung von eine»?
Drachen ganz vor der von einem ungeschlachten, riesenstarten Menschenfresser
zurücktritt.

Ueber diese Draken sagt Hahn: „Es wollte uns niemals gelingen, eine
klare Begriffsbestimmung des Wortes Drakos zu erzielen. Das männliche
Neugeborene wird Drakos genannt, wenn es noch nicht getauft ist. Der Name
kommt auch in Ortösagen vor, so z. B. auf der Insel Tinvs, wo eine schief'
aber glatt ins Meer abstürzende Fclsenfläche das „Waschbrett der Drakäna" ge¬
nannt wird, auf dem sie nach griechischer Weise ihre Wäsche wusch. In Karysto
schleuderten die Draken die in der Nähe der Stadt liegenden alten Säulen von
der Höhe herab. Unweit des Weges von da zum' Sanct Eliasberge (Och")
zeigt man die in die Felsen gedrückten Spuren der Hände und Füße des Dra¬
kos, als er vor den Hunden des ihn verfolgenden Bruders seiner Geliebten ur
eine (nicht vorhandene) Höhle schlüpfen wollte, von diesen aber zerrissen wurde.


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[0148] rein unerklärlich erscheinen, wenn man annehmen wollte, daß die beiden Märchenkrcise, und mithin auch die einschlägigen deutschen und neugriechischen Märchen in geschichtlicher Zeit aus Indien entlehnt worden seien. Genau so wie hier verhält es sich mit einer ganzen großen Classe von Figuren, den Zwergen. Sie mangeln der althellenischer Sage; denn die Pyg¬ mäen, die Kerl'open und ähnliche Wesen lassen sich mit den germanischen Zwergen kaum als verwandt vergleichen, auch stehen sie in der griechischen My¬ thologie so einsam da, daß man sie eher für fremdher entlehnte Vorstellungen, als für Reste einer ausgestorbenen einheimischen Wescngattung halten darf. Die Zwerge fehlen aber auch dem neugriechischen Märchen gänzlich, während sie in dem deutschen hervorragende Glieder seines dämonischen Personals find. Dagegen sind die neugriechischen Nereiden ganz nahe Verwandte unsrer Elfen, und so hat sie unser Sammler namentlich da, wo sie im Urtext mit ihrem Beinamen Exotita, d. h. die außerhalb der christlichen Weltordnung Befindlichen bezeichnet waren, mit ihrem deutschen Namen aufgeführt. Ferner stimmen der deutsche und der neugriechische Märchcnkreis darin überein, daß ihnen der Be¬ griff der schönen, ewig jugendfrischem Fee und ebenso die Vorstellung der slavischen Wila fehlt, welche letztere so auffallende Berührungspunkte mit den nordischen Walküren darbietet. Ihre Stelle wird in beiden Kreisen einfach durch zaubertundige alte Frauen vertreten, von denen die das menschliche Schick¬ sal bestimmenden albanesischen Miren mit den althellenischer Parken einer Wurzel entstammen. Die neugriechischen Drakänen (eigentlich Drachinncn) und ebenso die Lamien sind unsre nordischen Niesen- oder Mcnschcnfrcsscrfrauen. Ebenso findet das unbeholfene, ungeschlachte, mcnschenfleischlicbcnde, mit ungeheurer Stärke aber wenig Verstand begabte und deshalb leicht zu über Wende Wesen der deutschen Märchcnriescn in den Draken des neugriechischen Märchens sein entsprechendes Gegenbild, in welchem die Vorstellung von eine»? Drachen ganz vor der von einem ungeschlachten, riesenstarten Menschenfresser zurücktritt. Ueber diese Draken sagt Hahn: „Es wollte uns niemals gelingen, eine klare Begriffsbestimmung des Wortes Drakos zu erzielen. Das männliche Neugeborene wird Drakos genannt, wenn es noch nicht getauft ist. Der Name kommt auch in Ortösagen vor, so z. B. auf der Insel Tinvs, wo eine schief' aber glatt ins Meer abstürzende Fclsenfläche das „Waschbrett der Drakäna" ge¬ nannt wird, auf dem sie nach griechischer Weise ihre Wäsche wusch. In Karysto schleuderten die Draken die in der Nähe der Stadt liegenden alten Säulen von der Höhe herab. Unweit des Weges von da zum' Sanct Eliasberge (Och") zeigt man die in die Felsen gedrückten Spuren der Hände und Füße des Dra¬ kos, als er vor den Hunden des ihn verfolgenden Bruders seiner Geliebten ur eine (nicht vorhandene) Höhle schlüpfen wollte, von diesen aber zerrissen wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/148>, abgerufen am 27.09.2024.