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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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das Verhältniß desselben zur Götter- und Heldensage, und die dann folgenden
Märchen werden nicht nur als wesentliche Bereicherung des durch die Gebrüder
Grimm gegründeten, durch Sammler wieWolf, Kühn, Zingerle, Schleicher, Schott,
Wut Stephanowitsch und Benfey vermehrten Schatzes von Material zur
Völkerpsychologie die dankbare Anerkennung der wissenschaftlichen Welt finden,
sondern auch als anmuthiges Unterhaltungsbuch weiteren Kreisen (allerdings
mit Ausschluß von Kindern) willkommen sein*).

Wenn man früher das Märchen als leichte regellose Schöpfung der Phan¬
tasie von Ammen und Altmütterchen, gut genug, um Kinder in der Dämmer¬
stunde zu unterhalten, ernster Beachtung von Männern aber unwerth auffaßte, so
hat diese geringschätzige Ansicht in den letzten Jahrzehnten, und namentlich seit die
Grimms das deutsche Märchen nicht nur zu sammeln, sondern auch wissenschaftlich
zu prüfen begannen, allmälig einer völlig andern Raum gegeben. Wir missen
jetzt, daß diese unscheinbaren Erzählungen niemals das bloße Farbenspiel inhalts-
lvscr Phantasie sind. Die vergleichende Forschung hat vielmehr mit Evidenz
herausgestellt, daß sie von hohem Werth für die Aufhellung gewisser Hintergründe
menschlicher Entwickelung sind, welche die Geschichte dunkel läßt. Wir sind uns
klar geworden, daß wir in vielen von ihnen Ueberreste eines in die ältesten
Zeiten des indogermanischen Lebens hinaufreichenden Glaubens, Urgedanken des
Menschengeschlechts im Gewände des Symbols vor uns haben.

Die Wissenschaft hat aber auch noch Weiteres herausgefunden. Die Haupt¬
züge der Märchen sind allen Stämmen arischer Abkunft gemeinsam, und die
Frage, ob dies durch Entlehnung oder durch Mitnahme aus der Urheimat!)
aller jener zu erklären, ist dahin zu beantworten, daß letztere als Regel, erstere
als Ausnahme zu betrachten ist. Die Märchen der verschiedenen europäischen
Völker von der skandinavischen Halbinsel bis hinab zu den Küsten und Eilanden
des Archipelagus sind, um mit Grimm zu reden, der "Niederschlage uralter,
Wenn auch ungestalteter und zerbröckelter Muth er, die, von Volk zu Volk, je¬
dem sich anschmiegend, fortgetragen, wichtigen Aufschluß darbieten können über
d>e Verwandtschaft zahlloser Sagengcbildc, welche Europa unter sich und noch
mit Asien gemein hat." Sie sind mit wenigen Ausnahmen nicht an einer
begünstigten Stelle entstanden und von da erst auf äußerlich nachweisbaren
Wege andern Gegenden und Menschen zugeführt worden, sondern Ureigen-
U)um aller der verschiedenen Zweige, die von dem arischen Grundstamm aus¬
gegangen sind. Wie zwischen den Sprachen dieser Völker überall eine mehr
oder minder nahe Verwandtschaft nachzuweisen ist, so schlägt auch ein all-



Das Buch erschci.et zu Leipzig i" der Engclmannschcn Buchhandlung und unter dem
Titel "Griechische und albanesische Märchen". Der Herausgeber, v, Hahn, rst ost¬
reichischer Cmisul auf der Insel Syra und bekannt durch seine "Atbancsischen Sludren".
Grenzboten II, IL63.

das Verhältniß desselben zur Götter- und Heldensage, und die dann folgenden
Märchen werden nicht nur als wesentliche Bereicherung des durch die Gebrüder
Grimm gegründeten, durch Sammler wieWolf, Kühn, Zingerle, Schleicher, Schott,
Wut Stephanowitsch und Benfey vermehrten Schatzes von Material zur
Völkerpsychologie die dankbare Anerkennung der wissenschaftlichen Welt finden,
sondern auch als anmuthiges Unterhaltungsbuch weiteren Kreisen (allerdings
mit Ausschluß von Kindern) willkommen sein*).

Wenn man früher das Märchen als leichte regellose Schöpfung der Phan¬
tasie von Ammen und Altmütterchen, gut genug, um Kinder in der Dämmer¬
stunde zu unterhalten, ernster Beachtung von Männern aber unwerth auffaßte, so
hat diese geringschätzige Ansicht in den letzten Jahrzehnten, und namentlich seit die
Grimms das deutsche Märchen nicht nur zu sammeln, sondern auch wissenschaftlich
zu prüfen begannen, allmälig einer völlig andern Raum gegeben. Wir missen
jetzt, daß diese unscheinbaren Erzählungen niemals das bloße Farbenspiel inhalts-
lvscr Phantasie sind. Die vergleichende Forschung hat vielmehr mit Evidenz
herausgestellt, daß sie von hohem Werth für die Aufhellung gewisser Hintergründe
menschlicher Entwickelung sind, welche die Geschichte dunkel läßt. Wir sind uns
klar geworden, daß wir in vielen von ihnen Ueberreste eines in die ältesten
Zeiten des indogermanischen Lebens hinaufreichenden Glaubens, Urgedanken des
Menschengeschlechts im Gewände des Symbols vor uns haben.

Die Wissenschaft hat aber auch noch Weiteres herausgefunden. Die Haupt¬
züge der Märchen sind allen Stämmen arischer Abkunft gemeinsam, und die
Frage, ob dies durch Entlehnung oder durch Mitnahme aus der Urheimat!)
aller jener zu erklären, ist dahin zu beantworten, daß letztere als Regel, erstere
als Ausnahme zu betrachten ist. Die Märchen der verschiedenen europäischen
Völker von der skandinavischen Halbinsel bis hinab zu den Küsten und Eilanden
des Archipelagus sind, um mit Grimm zu reden, der „Niederschlage uralter,
Wenn auch ungestalteter und zerbröckelter Muth er, die, von Volk zu Volk, je¬
dem sich anschmiegend, fortgetragen, wichtigen Aufschluß darbieten können über
d>e Verwandtschaft zahlloser Sagengcbildc, welche Europa unter sich und noch
mit Asien gemein hat." Sie sind mit wenigen Ausnahmen nicht an einer
begünstigten Stelle entstanden und von da erst auf äußerlich nachweisbaren
Wege andern Gegenden und Menschen zugeführt worden, sondern Ureigen-
U)um aller der verschiedenen Zweige, die von dem arischen Grundstamm aus¬
gegangen sind. Wie zwischen den Sprachen dieser Völker überall eine mehr
oder minder nahe Verwandtschaft nachzuweisen ist, so schlägt auch ein all-



Das Buch erschci.et zu Leipzig i» der Engclmannschcn Buchhandlung und unter dem
Titel „Griechische und albanesische Märchen". Der Herausgeber, v, Hahn, rst ost¬
reichischer Cmisul auf der Insel Syra und bekannt durch seine „Atbancsischen Sludren".
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[0141] das Verhältniß desselben zur Götter- und Heldensage, und die dann folgenden Märchen werden nicht nur als wesentliche Bereicherung des durch die Gebrüder Grimm gegründeten, durch Sammler wieWolf, Kühn, Zingerle, Schleicher, Schott, Wut Stephanowitsch und Benfey vermehrten Schatzes von Material zur Völkerpsychologie die dankbare Anerkennung der wissenschaftlichen Welt finden, sondern auch als anmuthiges Unterhaltungsbuch weiteren Kreisen (allerdings mit Ausschluß von Kindern) willkommen sein*). Wenn man früher das Märchen als leichte regellose Schöpfung der Phan¬ tasie von Ammen und Altmütterchen, gut genug, um Kinder in der Dämmer¬ stunde zu unterhalten, ernster Beachtung von Männern aber unwerth auffaßte, so hat diese geringschätzige Ansicht in den letzten Jahrzehnten, und namentlich seit die Grimms das deutsche Märchen nicht nur zu sammeln, sondern auch wissenschaftlich zu prüfen begannen, allmälig einer völlig andern Raum gegeben. Wir missen jetzt, daß diese unscheinbaren Erzählungen niemals das bloße Farbenspiel inhalts- lvscr Phantasie sind. Die vergleichende Forschung hat vielmehr mit Evidenz herausgestellt, daß sie von hohem Werth für die Aufhellung gewisser Hintergründe menschlicher Entwickelung sind, welche die Geschichte dunkel läßt. Wir sind uns klar geworden, daß wir in vielen von ihnen Ueberreste eines in die ältesten Zeiten des indogermanischen Lebens hinaufreichenden Glaubens, Urgedanken des Menschengeschlechts im Gewände des Symbols vor uns haben. Die Wissenschaft hat aber auch noch Weiteres herausgefunden. Die Haupt¬ züge der Märchen sind allen Stämmen arischer Abkunft gemeinsam, und die Frage, ob dies durch Entlehnung oder durch Mitnahme aus der Urheimat!) aller jener zu erklären, ist dahin zu beantworten, daß letztere als Regel, erstere als Ausnahme zu betrachten ist. Die Märchen der verschiedenen europäischen Völker von der skandinavischen Halbinsel bis hinab zu den Küsten und Eilanden des Archipelagus sind, um mit Grimm zu reden, der „Niederschlage uralter, Wenn auch ungestalteter und zerbröckelter Muth er, die, von Volk zu Volk, je¬ dem sich anschmiegend, fortgetragen, wichtigen Aufschluß darbieten können über d>e Verwandtschaft zahlloser Sagengcbildc, welche Europa unter sich und noch mit Asien gemein hat." Sie sind mit wenigen Ausnahmen nicht an einer begünstigten Stelle entstanden und von da erst auf äußerlich nachweisbaren Wege andern Gegenden und Menschen zugeführt worden, sondern Ureigen- U)um aller der verschiedenen Zweige, die von dem arischen Grundstamm aus¬ gegangen sind. Wie zwischen den Sprachen dieser Völker überall eine mehr oder minder nahe Verwandtschaft nachzuweisen ist, so schlägt auch ein all- Das Buch erschci.et zu Leipzig i» der Engclmannschcn Buchhandlung und unter dem Titel „Griechische und albanesische Märchen". Der Herausgeber, v, Hahn, rst ost¬ reichischer Cmisul auf der Insel Syra und bekannt durch seine „Atbancsischen Sludren". Grenzboten II, IL63.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/141>, abgerufen am 27.09.2024.