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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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kaum irgend ein anderes Volk. Schwerlich hat jemals ein Volksführer so
viele Ansprachen und Proclamationen erlassen, als in unsern Tagen Garibaldi;
aber er bewährt sich in dieser Wortfülle als echten Italiener, und die wort¬
kargen Deutschen, die etwa diese überschwänglichen Redereien belächeln, ver¬
gessen, daß sie in ihm keinen Landsmann vor sich haben.

Das Französische ist hauptsächlich gesellige Umgangssprache; der Franzose
Plaudert und schwatzt gern und viel und rasch, und diesem Bedürfniß hat sich
denn auch die Sprache anpassen müssen. Der ländliche Ausdruck der gegen¬
wärtig gesprochenen Sprache hat sich wesentlich von dem der früheren entfernt;
daher der große Unterschied zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Worte;
jenes hat durchweg viel mehr consonantische Laute als dieses und das unbetonte
e ist völlig stumm geworden. Das Verhältniß der hörbaren Konsonanten
zu den hörbaren Vocalen ist etwa wie 10 zu 7; die Sprache ist also voca¬
lischer als die deutsche. Der Verstand allein herrscht in ihr vor; der Franzose
drängt beim Sprechen so sehr zur Eile, daß er Alles, was nicht zum Verständ¬
niß unbedingt nothwendig ist, ohne Weiteres fortläßt. Daherkommt es auch,
daß der Accent durchweg auf der letzten Silbe liegt, wodurch natürlich ein
rascherer Fluß der R>de hervorgebracht wird, ganz dem unruhigen, beweglichen,
raschen Wesen der Franzosen entsprechend.

Umgekehrt ziehen die Engländer den Ton möglichst weit von der Endung
zurück und lassen die Schlußsilben tonlos fallen. Da sie den Mund nicht recht
aufthun oder vielmehr nicht recht aufthun wollen,, so werden die sprachlichen
Laute gleichsam zurückgehalten, und daher sind die Vocale meist unrein und ge¬
quetscht. Die Flexions- und Bildungssilben hat die englische Sprache großen-
theils abgeworfen; nur die nackten Stämme stehen noch da, und dadurch hat
sie eine ländliche Gedrängtheit und sinnliche Energie bekommen, wie sie keine
andere europäische Sprache besitzt. Alle diese sprachlichen Eigenthümlichkeiten
stimmen wiederum mit dem energischen und verschlossenen Wesen der Engländer
völlig überein.

So viel von dem Charakter der besprochenen Sprachen hinsichtlich ihrer
lautlicher Seite. Wir wollen nun zum Schluß uoch einige Einzelheiten, con-
crete Fälle anführen, durch die das Gesagte anschaulicher wird. Wir müssen
dabei natürlich von der Poesie ausgehen; denn, wie oben bemerkt, ist sie die
Sprache des Gefühls, der Empfindung, und daher kommt in ihr auch der
Laut wieder zu seinem Rechte, das die verstandesmäßige, nüchterne Prosa >nicht
anerkennt. In der Poesie ist bekanntlich die Harmonie zwischen dem Klänge
der Wörter und den damit bezeichneten Vorstellungen eines der wirksamsten
Mittel, und bewußt oder unbewußt verwenden die Dichter dasselbe oft in ganz
überraschender Weise. Wie klingt uns z. B. das brausende Tosen des an¬
geschwollenen Stromes schon aus den bloßen Worten entgegen:


kaum irgend ein anderes Volk. Schwerlich hat jemals ein Volksführer so
viele Ansprachen und Proclamationen erlassen, als in unsern Tagen Garibaldi;
aber er bewährt sich in dieser Wortfülle als echten Italiener, und die wort¬
kargen Deutschen, die etwa diese überschwänglichen Redereien belächeln, ver¬
gessen, daß sie in ihm keinen Landsmann vor sich haben.

Das Französische ist hauptsächlich gesellige Umgangssprache; der Franzose
Plaudert und schwatzt gern und viel und rasch, und diesem Bedürfniß hat sich
denn auch die Sprache anpassen müssen. Der ländliche Ausdruck der gegen¬
wärtig gesprochenen Sprache hat sich wesentlich von dem der früheren entfernt;
daher der große Unterschied zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Worte;
jenes hat durchweg viel mehr consonantische Laute als dieses und das unbetonte
e ist völlig stumm geworden. Das Verhältniß der hörbaren Konsonanten
zu den hörbaren Vocalen ist etwa wie 10 zu 7; die Sprache ist also voca¬
lischer als die deutsche. Der Verstand allein herrscht in ihr vor; der Franzose
drängt beim Sprechen so sehr zur Eile, daß er Alles, was nicht zum Verständ¬
niß unbedingt nothwendig ist, ohne Weiteres fortläßt. Daherkommt es auch,
daß der Accent durchweg auf der letzten Silbe liegt, wodurch natürlich ein
rascherer Fluß der R>de hervorgebracht wird, ganz dem unruhigen, beweglichen,
raschen Wesen der Franzosen entsprechend.

Umgekehrt ziehen die Engländer den Ton möglichst weit von der Endung
zurück und lassen die Schlußsilben tonlos fallen. Da sie den Mund nicht recht
aufthun oder vielmehr nicht recht aufthun wollen,, so werden die sprachlichen
Laute gleichsam zurückgehalten, und daher sind die Vocale meist unrein und ge¬
quetscht. Die Flexions- und Bildungssilben hat die englische Sprache großen-
theils abgeworfen; nur die nackten Stämme stehen noch da, und dadurch hat
sie eine ländliche Gedrängtheit und sinnliche Energie bekommen, wie sie keine
andere europäische Sprache besitzt. Alle diese sprachlichen Eigenthümlichkeiten
stimmen wiederum mit dem energischen und verschlossenen Wesen der Engländer
völlig überein.

So viel von dem Charakter der besprochenen Sprachen hinsichtlich ihrer
lautlicher Seite. Wir wollen nun zum Schluß uoch einige Einzelheiten, con-
crete Fälle anführen, durch die das Gesagte anschaulicher wird. Wir müssen
dabei natürlich von der Poesie ausgehen; denn, wie oben bemerkt, ist sie die
Sprache des Gefühls, der Empfindung, und daher kommt in ihr auch der
Laut wieder zu seinem Rechte, das die verstandesmäßige, nüchterne Prosa >nicht
anerkennt. In der Poesie ist bekanntlich die Harmonie zwischen dem Klänge
der Wörter und den damit bezeichneten Vorstellungen eines der wirksamsten
Mittel, und bewußt oder unbewußt verwenden die Dichter dasselbe oft in ganz
überraschender Weise. Wie klingt uns z. B. das brausende Tosen des an¬
geschwollenen Stromes schon aus den bloßen Worten entgegen:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/67>, abgerufen am 27.09.2024.