Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zwar mußte diese Entwickelung in der Weise vor sich gehen, wie sie durch die
Naturanlage des Volkes, sowie durch die äußerlichen Bedingungen seiner Exi¬
stenz, Wohnsitze, Klima, Lebensweise u. s. w. vorgeschrieben wurde. Allein für
diese spätere Zeit, wo sich der naturnothwendige Zusammenhang zwischen dem
lautlicher Ausdruck und der auszudrückenden Vorstellung mehr und mehr gelöst
hatte, ist dem freien Menschengeiste, dem die Sprache zu seinen vernünftigen
Zwecken diente, eine bedeutende Einwirkung zuzuschreiben. Der Geist schaltet frei
mit dem Sprachmatcrial, aber doch nicht so willkürlich, daß sich nicht doch noch,
wie wir sahen, Reste der ursprünglichen Bedeutsamkeit erhalten hätten.

Aus der Art und Weise aber, wie das einzelne Volk mit dem Sprach¬
material verfahren ist. läßt sich ein bedeutsamer Rückschluß auf den Geist des
Volkes machen. Sprechen ist lautes Denken; wie ein Volk spricht, so denkt es
auch, und mit Recht nennt man die Sprache ein getreues Abbild des Volks¬
geistes. In der Regel denkt man bei dieser Behauptung nur an die begriffliche
Seite der Sprache, und diese ist in der That auch vor Allem wichtig in dieser
Beziehung. Daß indeß auch die ländliche, die phonetische Seite von großer
Bedeutung sei, wird nach dem vorher Gesagten -nicht mehr zweifelhaft sein.
Diese wollen wir nunmehr bei einigen concreten Sprachen etwas genauer ins
Auge fassen und das Charakteristische daran hervorheben.

.In den ältern Sprachen herrscht durchaus der Vocalismus vor; nicht blos
die Stammsilben, auch die Endungen sind voll und tönend, die ganze Sprache
klangreich, ganz entsprechend der größern sinnlichen Empfänglichkeit, der innigen
Hingabe der jugendlichen Naturvölker an die sinnlichen Eindrücke. Keine Sprache
vermag uns in dem Laufe ihrer Entwickelung so interessante Beispiele zu ge¬
ben, als gerade die deutsche. Vergleichen wir die alten Entwickelungsstufen
derselben mit unserem neuhochdeutschen, so springt die sinnliche Tonfülle jener
sofort in die Augen. Wir nennen beispielsweise nur den Anfang des gothi¬
schen Vaterunsers: ^to unsar tun in niminam. veilmai mano tuom, <zu
m-
al tlnuäinassus tlreins u. s. w. Oder vergleichen wir einen Vers der alten
Edda mit der Uebersetzung Simrocks:


Lot tekr sortnü, siZr tota i mu,r,
Kverckg, nimm Inziäar Ltiornor,
Zki8ar einir via g-läurnarg,,
leikr N5>,r Iriti viel nimm siaMn.
Schwarz war die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,
Vom Himmel fallen die heitern Sterne.
Gluthwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.

Oder endlich einige Verse aus dem Heliand, dem herrlichen altsächsischen
Liede vom. Leben Jesu:


zwar mußte diese Entwickelung in der Weise vor sich gehen, wie sie durch die
Naturanlage des Volkes, sowie durch die äußerlichen Bedingungen seiner Exi¬
stenz, Wohnsitze, Klima, Lebensweise u. s. w. vorgeschrieben wurde. Allein für
diese spätere Zeit, wo sich der naturnothwendige Zusammenhang zwischen dem
lautlicher Ausdruck und der auszudrückenden Vorstellung mehr und mehr gelöst
hatte, ist dem freien Menschengeiste, dem die Sprache zu seinen vernünftigen
Zwecken diente, eine bedeutende Einwirkung zuzuschreiben. Der Geist schaltet frei
mit dem Sprachmatcrial, aber doch nicht so willkürlich, daß sich nicht doch noch,
wie wir sahen, Reste der ursprünglichen Bedeutsamkeit erhalten hätten.

Aus der Art und Weise aber, wie das einzelne Volk mit dem Sprach¬
material verfahren ist. läßt sich ein bedeutsamer Rückschluß auf den Geist des
Volkes machen. Sprechen ist lautes Denken; wie ein Volk spricht, so denkt es
auch, und mit Recht nennt man die Sprache ein getreues Abbild des Volks¬
geistes. In der Regel denkt man bei dieser Behauptung nur an die begriffliche
Seite der Sprache, und diese ist in der That auch vor Allem wichtig in dieser
Beziehung. Daß indeß auch die ländliche, die phonetische Seite von großer
Bedeutung sei, wird nach dem vorher Gesagten -nicht mehr zweifelhaft sein.
Diese wollen wir nunmehr bei einigen concreten Sprachen etwas genauer ins
Auge fassen und das Charakteristische daran hervorheben.

.In den ältern Sprachen herrscht durchaus der Vocalismus vor; nicht blos
die Stammsilben, auch die Endungen sind voll und tönend, die ganze Sprache
klangreich, ganz entsprechend der größern sinnlichen Empfänglichkeit, der innigen
Hingabe der jugendlichen Naturvölker an die sinnlichen Eindrücke. Keine Sprache
vermag uns in dem Laufe ihrer Entwickelung so interessante Beispiele zu ge¬
ben, als gerade die deutsche. Vergleichen wir die alten Entwickelungsstufen
derselben mit unserem neuhochdeutschen, so springt die sinnliche Tonfülle jener
sofort in die Augen. Wir nennen beispielsweise nur den Anfang des gothi¬
schen Vaterunsers: ^to unsar tun in niminam. veilmai mano tuom, <zu
m-
al tlnuäinassus tlreins u. s. w. Oder vergleichen wir einen Vers der alten
Edda mit der Uebersetzung Simrocks:


Lot tekr sortnü, siZr tota i mu,r,
Kverckg, nimm Inziäar Ltiornor,
Zki8ar einir via g-läurnarg,,
leikr N5>,r Iriti viel nimm siaMn.
Schwarz war die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,
Vom Himmel fallen die heitern Sterne.
Gluthwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.

Oder endlich einige Verse aus dem Heliand, dem herrlichen altsächsischen
Liede vom. Leben Jesu:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114920"/>
          <p xml:id="ID_182" prev="#ID_181"> zwar mußte diese Entwickelung in der Weise vor sich gehen, wie sie durch die<lb/>
Naturanlage des Volkes, sowie durch die äußerlichen Bedingungen seiner Exi¬<lb/>
stenz, Wohnsitze, Klima, Lebensweise u. s. w. vorgeschrieben wurde. Allein für<lb/>
diese spätere Zeit, wo sich der naturnothwendige Zusammenhang zwischen dem<lb/>
lautlicher Ausdruck und der auszudrückenden Vorstellung mehr und mehr gelöst<lb/>
hatte, ist dem freien Menschengeiste, dem die Sprache zu seinen vernünftigen<lb/>
Zwecken diente, eine bedeutende Einwirkung zuzuschreiben. Der Geist schaltet frei<lb/>
mit dem Sprachmatcrial, aber doch nicht so willkürlich, daß sich nicht doch noch,<lb/>
wie wir sahen, Reste der ursprünglichen Bedeutsamkeit erhalten hätten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_183"> Aus der Art und Weise aber, wie das einzelne Volk mit dem Sprach¬<lb/>
material verfahren ist. läßt sich ein bedeutsamer Rückschluß auf den Geist des<lb/>
Volkes machen. Sprechen ist lautes Denken; wie ein Volk spricht, so denkt es<lb/>
auch, und mit Recht nennt man die Sprache ein getreues Abbild des Volks¬<lb/>
geistes. In der Regel denkt man bei dieser Behauptung nur an die begriffliche<lb/>
Seite der Sprache, und diese ist in der That auch vor Allem wichtig in dieser<lb/>
Beziehung. Daß indeß auch die ländliche, die phonetische Seite von großer<lb/>
Bedeutung sei, wird nach dem vorher Gesagten -nicht mehr zweifelhaft sein.<lb/>
Diese wollen wir nunmehr bei einigen concreten Sprachen etwas genauer ins<lb/>
Auge fassen und das Charakteristische daran hervorheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_184"> .In den ältern Sprachen herrscht durchaus der Vocalismus vor; nicht blos<lb/>
die Stammsilben, auch die Endungen sind voll und tönend, die ganze Sprache<lb/>
klangreich, ganz entsprechend der größern sinnlichen Empfänglichkeit, der innigen<lb/>
Hingabe der jugendlichen Naturvölker an die sinnlichen Eindrücke. Keine Sprache<lb/>
vermag uns in dem Laufe ihrer Entwickelung so interessante Beispiele zu ge¬<lb/>
ben, als gerade die deutsche. Vergleichen wir die alten Entwickelungsstufen<lb/>
derselben mit unserem neuhochdeutschen, so springt die sinnliche Tonfülle jener<lb/>
sofort in die Augen. Wir nennen beispielsweise nur den Anfang des gothi¬<lb/>
schen Vaterunsers: ^to unsar tun in niminam. veilmai mano tuom, &lt;zu<lb/>
m-<lb/>
al tlnuäinassus tlreins u. s. w. Oder vergleichen wir einen Vers der alten<lb/>
Edda mit der Uebersetzung Simrocks:</p><lb/>
          <quote> Lot tekr sortnü, siZr tota i mu,r,<lb/>
Kverckg,  nimm Inziäar Ltiornor,<lb/>
Zki8ar einir via g-läurnarg,,<lb/>
leikr N5&gt;,r Iriti viel nimm siaMn.<lb/>
Schwarz war die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,<lb/>
Vom Himmel fallen die heitern Sterne.<lb/>
Gluthwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,<lb/>
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_185" next="#ID_186"> Oder endlich einige Verse aus dem Heliand, dem herrlichen altsächsischen<lb/>
Liede vom. Leben Jesu:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] zwar mußte diese Entwickelung in der Weise vor sich gehen, wie sie durch die Naturanlage des Volkes, sowie durch die äußerlichen Bedingungen seiner Exi¬ stenz, Wohnsitze, Klima, Lebensweise u. s. w. vorgeschrieben wurde. Allein für diese spätere Zeit, wo sich der naturnothwendige Zusammenhang zwischen dem lautlicher Ausdruck und der auszudrückenden Vorstellung mehr und mehr gelöst hatte, ist dem freien Menschengeiste, dem die Sprache zu seinen vernünftigen Zwecken diente, eine bedeutende Einwirkung zuzuschreiben. Der Geist schaltet frei mit dem Sprachmatcrial, aber doch nicht so willkürlich, daß sich nicht doch noch, wie wir sahen, Reste der ursprünglichen Bedeutsamkeit erhalten hätten. Aus der Art und Weise aber, wie das einzelne Volk mit dem Sprach¬ material verfahren ist. läßt sich ein bedeutsamer Rückschluß auf den Geist des Volkes machen. Sprechen ist lautes Denken; wie ein Volk spricht, so denkt es auch, und mit Recht nennt man die Sprache ein getreues Abbild des Volks¬ geistes. In der Regel denkt man bei dieser Behauptung nur an die begriffliche Seite der Sprache, und diese ist in der That auch vor Allem wichtig in dieser Beziehung. Daß indeß auch die ländliche, die phonetische Seite von großer Bedeutung sei, wird nach dem vorher Gesagten -nicht mehr zweifelhaft sein. Diese wollen wir nunmehr bei einigen concreten Sprachen etwas genauer ins Auge fassen und das Charakteristische daran hervorheben. .In den ältern Sprachen herrscht durchaus der Vocalismus vor; nicht blos die Stammsilben, auch die Endungen sind voll und tönend, die ganze Sprache klangreich, ganz entsprechend der größern sinnlichen Empfänglichkeit, der innigen Hingabe der jugendlichen Naturvölker an die sinnlichen Eindrücke. Keine Sprache vermag uns in dem Laufe ihrer Entwickelung so interessante Beispiele zu ge¬ ben, als gerade die deutsche. Vergleichen wir die alten Entwickelungsstufen derselben mit unserem neuhochdeutschen, so springt die sinnliche Tonfülle jener sofort in die Augen. Wir nennen beispielsweise nur den Anfang des gothi¬ schen Vaterunsers: ^to unsar tun in niminam. veilmai mano tuom, <zu m- al tlnuäinassus tlreins u. s. w. Oder vergleichen wir einen Vers der alten Edda mit der Uebersetzung Simrocks: Lot tekr sortnü, siZr tota i mu,r, Kverckg, nimm Inziäar Ltiornor, Zki8ar einir via g-läurnarg,, leikr N5>,r Iriti viel nimm siaMn. Schwarz war die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, Vom Himmel fallen die heitern Sterne. Gluthwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum, Die heiße Lohe beleckt den Himmel. Oder endlich einige Verse aus dem Heliand, dem herrlichen altsächsischen Liede vom. Leben Jesu:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/64>, abgerufen am 27.09.2024.