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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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strömt. A ist der reinste, schönste, tonhafteste Vocal, der erste reine Laut des
Kindes; das i liegt dem Gaumen, das u den Lippen näher, letztere haben also schon
etwas Konsonantisches an sich und verdichten sich auch am ersten zu consonan-
tischen Lauten, zu den Halbvocalen j und w. Die Vocale nun entsprechen be¬
sonderen Empfindungen und bei ihrer Charakterisirung müssen wir von den
reinen Empfindungslauten ausgehen. Was Heyse in seinem "System der
Sprachwissenschaft" über das Charakteristische der Vocale sagt, ist so treffend,
daß wir seine Worte unverändert folgen lassen wollen.

"Da die Vocale erst in den, durch äußern Sinneseindruck erregten Em¬
pfindungslauten rein und specifisch gesondert auftreten, so können sie auch vor¬
zugsweise nur als Ausdruck solcher Empfindungen charakterisirt werden, welche
durch objective Sinneswahrnehmung geweckt werden.

Das a ist im Allgemeinen der Ausdruck des gleichschwebenden, klaren,
sanften Gefühles, der ruhigen Anschauung, der Betrachtung (ah!), aber auch
des dummen Gaffens. In jedem Falle drückt es ein mehr ruhiges, passives
Verhalten des Gemüthes aus, das sich nur im Allgemeinen als empfänglich
für die Sinneseindrücke zeigt. Es hat von allen Vocalen am meisten den Cha¬
rakter der Objectivität.

Das u, der äußerste, tiefste Vocal, drückt die Empfindung des Wider¬
strebend der Abwehr, Furcht, Grausen, Entsetzen ans (hu!), also eine nega¬
tive, abstoßende Richtung des Subjects gegen die Objecte seiner Wahrnehmung;
daher auch objectiv das dieser Empfindung Analoge oder dieselbe Erregende:
das Stumpfe, Dumpfe, Dunkele, Schauerliche, Furchtbare u. s. w.

Das i im Gegentheil, der innerste und höchste Vocal, drückt die Em¬
pfindung des Verlangens, der Liebe aus, gleichsam das Jnsichziehen des
sinnlichen Eindrucks, das Assimiliren des Wahrgenommenen, überhaupt jede
innige, intensive Empfindung; daher auch, zum Ausdruck des Objectiven ver¬
wendet, analoger Weise: Intensität der Kraft oder Bewegung, das in sich
Concentrirte, das Spitze, Fliehende, Durchdringende, Blitzende u. s. w.

Das o als Mittellaut zwischen a und u vereinigt beider Charakter in sich.
Die ruhige Klarheit, das passive Betrachten wird zu einer lebhafteren Empfin¬
dung gesteigert, die aber nicht die der Innigkeit und Sehnsucht ist, sondern des
Staunens vor dem Hohen, Großen, Vollen u. s. w. Der Gegenstand, wel¬
cher die Empfindung erregt, wird außerhalb des Individuums gehalten, nicht
demselben assimilirt (wie in dem i), aber auch nicht von demselben abgestoßen,
wie in dem u.

Das e ist der charakterloseste und tonloseste Vocal. Er hat als Em¬
pfindungslaut die geringste Bedeutung, greift dagegen in der Sprache immer
mehr um sich und drängt sich an die Stelle der tonhafteren, empfindungs¬
volleren Vocale, je mehr die Sprache Verstandessprache wird (wie im Neu-


strömt. A ist der reinste, schönste, tonhafteste Vocal, der erste reine Laut des
Kindes; das i liegt dem Gaumen, das u den Lippen näher, letztere haben also schon
etwas Konsonantisches an sich und verdichten sich auch am ersten zu consonan-
tischen Lauten, zu den Halbvocalen j und w. Die Vocale nun entsprechen be¬
sonderen Empfindungen und bei ihrer Charakterisirung müssen wir von den
reinen Empfindungslauten ausgehen. Was Heyse in seinem „System der
Sprachwissenschaft" über das Charakteristische der Vocale sagt, ist so treffend,
daß wir seine Worte unverändert folgen lassen wollen.

„Da die Vocale erst in den, durch äußern Sinneseindruck erregten Em¬
pfindungslauten rein und specifisch gesondert auftreten, so können sie auch vor¬
zugsweise nur als Ausdruck solcher Empfindungen charakterisirt werden, welche
durch objective Sinneswahrnehmung geweckt werden.

Das a ist im Allgemeinen der Ausdruck des gleichschwebenden, klaren,
sanften Gefühles, der ruhigen Anschauung, der Betrachtung (ah!), aber auch
des dummen Gaffens. In jedem Falle drückt es ein mehr ruhiges, passives
Verhalten des Gemüthes aus, das sich nur im Allgemeinen als empfänglich
für die Sinneseindrücke zeigt. Es hat von allen Vocalen am meisten den Cha¬
rakter der Objectivität.

Das u, der äußerste, tiefste Vocal, drückt die Empfindung des Wider¬
strebend der Abwehr, Furcht, Grausen, Entsetzen ans (hu!), also eine nega¬
tive, abstoßende Richtung des Subjects gegen die Objecte seiner Wahrnehmung;
daher auch objectiv das dieser Empfindung Analoge oder dieselbe Erregende:
das Stumpfe, Dumpfe, Dunkele, Schauerliche, Furchtbare u. s. w.

Das i im Gegentheil, der innerste und höchste Vocal, drückt die Em¬
pfindung des Verlangens, der Liebe aus, gleichsam das Jnsichziehen des
sinnlichen Eindrucks, das Assimiliren des Wahrgenommenen, überhaupt jede
innige, intensive Empfindung; daher auch, zum Ausdruck des Objectiven ver¬
wendet, analoger Weise: Intensität der Kraft oder Bewegung, das in sich
Concentrirte, das Spitze, Fliehende, Durchdringende, Blitzende u. s. w.

Das o als Mittellaut zwischen a und u vereinigt beider Charakter in sich.
Die ruhige Klarheit, das passive Betrachten wird zu einer lebhafteren Empfin¬
dung gesteigert, die aber nicht die der Innigkeit und Sehnsucht ist, sondern des
Staunens vor dem Hohen, Großen, Vollen u. s. w. Der Gegenstand, wel¬
cher die Empfindung erregt, wird außerhalb des Individuums gehalten, nicht
demselben assimilirt (wie in dem i), aber auch nicht von demselben abgestoßen,
wie in dem u.

Das e ist der charakterloseste und tonloseste Vocal. Er hat als Em¬
pfindungslaut die geringste Bedeutung, greift dagegen in der Sprache immer
mehr um sich und drängt sich an die Stelle der tonhafteren, empfindungs¬
volleren Vocale, je mehr die Sprache Verstandessprache wird (wie im Neu-


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[0061] strömt. A ist der reinste, schönste, tonhafteste Vocal, der erste reine Laut des Kindes; das i liegt dem Gaumen, das u den Lippen näher, letztere haben also schon etwas Konsonantisches an sich und verdichten sich auch am ersten zu consonan- tischen Lauten, zu den Halbvocalen j und w. Die Vocale nun entsprechen be¬ sonderen Empfindungen und bei ihrer Charakterisirung müssen wir von den reinen Empfindungslauten ausgehen. Was Heyse in seinem „System der Sprachwissenschaft" über das Charakteristische der Vocale sagt, ist so treffend, daß wir seine Worte unverändert folgen lassen wollen. „Da die Vocale erst in den, durch äußern Sinneseindruck erregten Em¬ pfindungslauten rein und specifisch gesondert auftreten, so können sie auch vor¬ zugsweise nur als Ausdruck solcher Empfindungen charakterisirt werden, welche durch objective Sinneswahrnehmung geweckt werden. Das a ist im Allgemeinen der Ausdruck des gleichschwebenden, klaren, sanften Gefühles, der ruhigen Anschauung, der Betrachtung (ah!), aber auch des dummen Gaffens. In jedem Falle drückt es ein mehr ruhiges, passives Verhalten des Gemüthes aus, das sich nur im Allgemeinen als empfänglich für die Sinneseindrücke zeigt. Es hat von allen Vocalen am meisten den Cha¬ rakter der Objectivität. Das u, der äußerste, tiefste Vocal, drückt die Empfindung des Wider¬ strebend der Abwehr, Furcht, Grausen, Entsetzen ans (hu!), also eine nega¬ tive, abstoßende Richtung des Subjects gegen die Objecte seiner Wahrnehmung; daher auch objectiv das dieser Empfindung Analoge oder dieselbe Erregende: das Stumpfe, Dumpfe, Dunkele, Schauerliche, Furchtbare u. s. w. Das i im Gegentheil, der innerste und höchste Vocal, drückt die Em¬ pfindung des Verlangens, der Liebe aus, gleichsam das Jnsichziehen des sinnlichen Eindrucks, das Assimiliren des Wahrgenommenen, überhaupt jede innige, intensive Empfindung; daher auch, zum Ausdruck des Objectiven ver¬ wendet, analoger Weise: Intensität der Kraft oder Bewegung, das in sich Concentrirte, das Spitze, Fliehende, Durchdringende, Blitzende u. s. w. Das o als Mittellaut zwischen a und u vereinigt beider Charakter in sich. Die ruhige Klarheit, das passive Betrachten wird zu einer lebhafteren Empfin¬ dung gesteigert, die aber nicht die der Innigkeit und Sehnsucht ist, sondern des Staunens vor dem Hohen, Großen, Vollen u. s. w. Der Gegenstand, wel¬ cher die Empfindung erregt, wird außerhalb des Individuums gehalten, nicht demselben assimilirt (wie in dem i), aber auch nicht von demselben abgestoßen, wie in dem u. Das e ist der charakterloseste und tonloseste Vocal. Er hat als Em¬ pfindungslaut die geringste Bedeutung, greift dagegen in der Sprache immer mehr um sich und drängt sich an die Stelle der tonhafteren, empfindungs¬ volleren Vocale, je mehr die Sprache Verstandessprache wird (wie im Neu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/61>, abgerufen am 27.09.2024.