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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Die rechtliche Entscheidung der Frage ist unzweifelhaft. Preußens Ver-
fassung bietet der Krone einen offenen, gesetzlichen Weg, feste persönliche Ueber¬
zeugungen der regierenden Gewalt gegenüber einer Oppositionsmajorität gel¬
tend zu machen. Und dieser Weg heißt Auflösung der Kammern, Neuwahl des
Abgeordnetenhauses. Haben die Berather der Krone die Ueberzeugung, daß
eine Neuwahl keine günstigen Resultate geben werde, so wird es unräthlich,
ein unzweifelhaftes Recht auszuüben, und der Krone bleibt übrig, die Wege
ins Auge zu fassen, auf welchen eine aufrichtige Verständigung mit der Ver¬
tretung des Volkes möglich wird. Das heißt: sie muß einmal einen persönlichen
Wunsch opfern, um ein höheres Gut zu bewahren, den Frieden und das herz¬
liche EinVerständniß mit ihrem Volk.

Für den Gebieter Preußens aber, wie für den praktischen Staatsmann,
ist diese Frage nicht nur eine Frage des theoretischen Rechts, sondern ebenso
sehr der Zweckmäßigkeit und des Vortheils. Und auch von diesem Standpunkt
steht die gegenwärtige Negierung im Unrecht, und die Ereignisse des letzten
Sommers haben ihr die.s zur Genüge bewiesen. Preußen war fast plötzlich ein
einflußreicher und gefürchteter Staat geworden, als unter der Regentschaft König
Wilhelms das gute Einvernehmen zwischen Fürsten und Volk in Deutschland
und Europa auffällig wurde. Fast zwei Jahre lang schien es, als sollte
Preußen seine Stellung unter den Großmächten, welche Friedrich Wilhelm der
Dritte an Kaiser Nikolaus und den Fürsten Metternich abgetreten hatte, wieder
einnehmen. Das ängstliche Mißtrauen der Würzburger, die schlecht verhehlte
Feindseligkeit Oestreichs, die Sorge Dänemarks, die Bewerbungen des Aus¬
landes um Preußens Freundschaft folgten mit einer gewissen Naturnothwendig¬
keit den ersten Aeußerungen der neuen Kraft. Die deutschen Regierungen ver¬
harrten in unkräftiger Defensive, schon die Ansicht, daß Preußen etwas unter¬
nehmen könnte, lähmte die Cabinete, begann das Volk zu erheben. Noch der
Handelsvertrag mit Frankreich konnte unter der widerwilligen Connivenz der
deutschen Regierungen geschlossen werden. Wie hat sich das verändert! Preußen
ist auf eine rühmlose Vertheidigung zurückgeworfen, Oestreich und die Würz^
burger sind zum Angriff übergegangen, der Handelsvertrag und der Bestand
des Zollvereins sind in ernste Frage gestellt, die Stimme Preußens gilt im
Rathe Europas gerade so viel als die eines deutschen Kleinstaates, die Sym¬
pathien der Deutschen und des gebildeten Europas sind der Regierung voll¬
ständig verloren, der Staat ist in eine Nichtachtung gesunken, wie sie während
der Krankheit Friedrich Wilhelm des Vierten nicht größer war.

Und was trägt die Schuld? Man sage nur nicht, die Kurzsichtigkeit der
Volksvertreter, und man sage nicht, das Auftauchen der alten feindseligen De¬
mokratie! Wenn ein Privatmann sich mit solchen Phrasen täuschen will, so
thut er es nur auf die Gefahr hin, sich selbst das Urtheil zu verwirren, wenn


Die rechtliche Entscheidung der Frage ist unzweifelhaft. Preußens Ver-
fassung bietet der Krone einen offenen, gesetzlichen Weg, feste persönliche Ueber¬
zeugungen der regierenden Gewalt gegenüber einer Oppositionsmajorität gel¬
tend zu machen. Und dieser Weg heißt Auflösung der Kammern, Neuwahl des
Abgeordnetenhauses. Haben die Berather der Krone die Ueberzeugung, daß
eine Neuwahl keine günstigen Resultate geben werde, so wird es unräthlich,
ein unzweifelhaftes Recht auszuüben, und der Krone bleibt übrig, die Wege
ins Auge zu fassen, auf welchen eine aufrichtige Verständigung mit der Ver¬
tretung des Volkes möglich wird. Das heißt: sie muß einmal einen persönlichen
Wunsch opfern, um ein höheres Gut zu bewahren, den Frieden und das herz¬
liche EinVerständniß mit ihrem Volk.

Für den Gebieter Preußens aber, wie für den praktischen Staatsmann,
ist diese Frage nicht nur eine Frage des theoretischen Rechts, sondern ebenso
sehr der Zweckmäßigkeit und des Vortheils. Und auch von diesem Standpunkt
steht die gegenwärtige Negierung im Unrecht, und die Ereignisse des letzten
Sommers haben ihr die.s zur Genüge bewiesen. Preußen war fast plötzlich ein
einflußreicher und gefürchteter Staat geworden, als unter der Regentschaft König
Wilhelms das gute Einvernehmen zwischen Fürsten und Volk in Deutschland
und Europa auffällig wurde. Fast zwei Jahre lang schien es, als sollte
Preußen seine Stellung unter den Großmächten, welche Friedrich Wilhelm der
Dritte an Kaiser Nikolaus und den Fürsten Metternich abgetreten hatte, wieder
einnehmen. Das ängstliche Mißtrauen der Würzburger, die schlecht verhehlte
Feindseligkeit Oestreichs, die Sorge Dänemarks, die Bewerbungen des Aus¬
landes um Preußens Freundschaft folgten mit einer gewissen Naturnothwendig¬
keit den ersten Aeußerungen der neuen Kraft. Die deutschen Regierungen ver¬
harrten in unkräftiger Defensive, schon die Ansicht, daß Preußen etwas unter¬
nehmen könnte, lähmte die Cabinete, begann das Volk zu erheben. Noch der
Handelsvertrag mit Frankreich konnte unter der widerwilligen Connivenz der
deutschen Regierungen geschlossen werden. Wie hat sich das verändert! Preußen
ist auf eine rühmlose Vertheidigung zurückgeworfen, Oestreich und die Würz^
burger sind zum Angriff übergegangen, der Handelsvertrag und der Bestand
des Zollvereins sind in ernste Frage gestellt, die Stimme Preußens gilt im
Rathe Europas gerade so viel als die eines deutschen Kleinstaates, die Sym¬
pathien der Deutschen und des gebildeten Europas sind der Regierung voll¬
ständig verloren, der Staat ist in eine Nichtachtung gesunken, wie sie während
der Krankheit Friedrich Wilhelm des Vierten nicht größer war.

Und was trägt die Schuld? Man sage nur nicht, die Kurzsichtigkeit der
Volksvertreter, und man sage nicht, das Auftauchen der alten feindseligen De¬
mokratie! Wenn ein Privatmann sich mit solchen Phrasen täuschen will, so
thut er es nur auf die Gefahr hin, sich selbst das Urtheil zu verwirren, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/483>, abgerufen am 27.09.2024.