Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

interessanten Korrespondenz, die Guizot von London aus mit seinen Freunden
führte, beweisen, daß alle hervorragenden Staatsmänner der conservativen Par¬
tei von der Ueberzeugung durchdrungen waren, der Krieg werde das Signal
für den Ausbruch der'Revolution sein. Ein Krieg müsse deshalb vermieden
werden, es sei denn, daß es sich um die Vertheidigung Frankreichs, oder um
die unabweislichsten Forderungen der Ehre handele. Die Existenz Frankreichs
werde aber von keiner Seite bedroht, und die Ehre verpflichte Frankreich nicht,
den Pascha mit den Waffen im Besitze Syriens zu schützen, wenn er selbst zu
schwach sei, denselben zu behaupten. Diese Auffassung hofften die Conserva¬
tiven auch dem Drängen der öffentlichen Meinung gegenüber festhalten zu
können.

Die friedliche, zuwartende Stellung, welche die um die Doktrinäre sich grup-
pirende Partei für die einzig richtige und würdige Politik Frankreichs in dem
vorliegenden Conflicte hielt, war aber, wie schon erwähnt, unhaltbar, sobald die
ägyptische Frage aufgeworfen wurde. Die völlige Beseitigung Mehemed Ali's
mußte die Machtverhältnisse im Mittelmeer 'dermaßen zu Gunsten Englands
verändern,.daß jedes, auch das friedliebendste und conservativste Ministerium, ohne
Rücksicht auf die möglichen Folgen, das Aeußerste wagen mußte, um sie zu ver¬
hindern. Daher erklärt Thiers im Anfang des October die Absetzung Mehemed
Ali's als Vicekönigs von Aegypten für einen Kriegsfall. Mit dieser Erklärung
war aber in der That entschieden, daß der europäische Frieden nicht gestört
werden würde. Denn indem Thiers die Absetzung des Vicekönigs als easus
belli, bezeichnete, zog er indirect die Grenzlinie, bis zu welcher hin die Action
der Verbündeten gehen könnte, ohne auf Widerstand von Seiten Frankreichs
zu stoßen, d. h. er gab Syrien auf. Weiter aber, als bis zur Vertreibung
Mehemed Ali's aus Syrien zu gehen, beabsichtigen die Verbündeten in ihrer
Gesammtheit selbst nicht, wenn auch Palmerston ohne Zweifel die völlige Be¬
seitigung des Pascha gewünscht hätte. So war mit Thiers Erklärung zunächst
die Gefahr des Krieges beseitigt. Die Drohung in der Erklärung Thiers war
ein Schein, um den thatsächlichen Rückzug unter der Form des Widerstandes
zu decken. Freilich konnte der Gang der Ereignisse auch wider den Willen
aller Betheiligten einen Zusammenstoß herbeiführen. Ein fortgesetzter Wider¬
stand Mehemed Ali's mußte die äußersten Consequenzen des Tractates zur Gel¬
tung bringen. > War der Vicekönig aber erst thatsächlich beseitigt, so war an
seine Wiedereinsetzung nicht zu denken; ja schon die Ausdehnung der Executions-
mahregeln auf Aegypten würde Frankreich genöthigt haben, aus seiner passiven
Stellung herauszutreten. Noch im November dringt Metternich auf schleunige
Unterwerfung deS Vicekönigs, on Kr quWtioir Ä'LMpte est souleve" (et'Haus-
sonvills). Offenbar sollte durch diese Aeußerung die französische Negierung
angetrieben werden, dem Vicekönig ernstlich zur Nachgiebigkeit zu rathen, statt


interessanten Korrespondenz, die Guizot von London aus mit seinen Freunden
führte, beweisen, daß alle hervorragenden Staatsmänner der conservativen Par¬
tei von der Ueberzeugung durchdrungen waren, der Krieg werde das Signal
für den Ausbruch der'Revolution sein. Ein Krieg müsse deshalb vermieden
werden, es sei denn, daß es sich um die Vertheidigung Frankreichs, oder um
die unabweislichsten Forderungen der Ehre handele. Die Existenz Frankreichs
werde aber von keiner Seite bedroht, und die Ehre verpflichte Frankreich nicht,
den Pascha mit den Waffen im Besitze Syriens zu schützen, wenn er selbst zu
schwach sei, denselben zu behaupten. Diese Auffassung hofften die Conserva¬
tiven auch dem Drängen der öffentlichen Meinung gegenüber festhalten zu
können.

Die friedliche, zuwartende Stellung, welche die um die Doktrinäre sich grup-
pirende Partei für die einzig richtige und würdige Politik Frankreichs in dem
vorliegenden Conflicte hielt, war aber, wie schon erwähnt, unhaltbar, sobald die
ägyptische Frage aufgeworfen wurde. Die völlige Beseitigung Mehemed Ali's
mußte die Machtverhältnisse im Mittelmeer 'dermaßen zu Gunsten Englands
verändern,.daß jedes, auch das friedliebendste und conservativste Ministerium, ohne
Rücksicht auf die möglichen Folgen, das Aeußerste wagen mußte, um sie zu ver¬
hindern. Daher erklärt Thiers im Anfang des October die Absetzung Mehemed
Ali's als Vicekönigs von Aegypten für einen Kriegsfall. Mit dieser Erklärung
war aber in der That entschieden, daß der europäische Frieden nicht gestört
werden würde. Denn indem Thiers die Absetzung des Vicekönigs als easus
belli, bezeichnete, zog er indirect die Grenzlinie, bis zu welcher hin die Action
der Verbündeten gehen könnte, ohne auf Widerstand von Seiten Frankreichs
zu stoßen, d. h. er gab Syrien auf. Weiter aber, als bis zur Vertreibung
Mehemed Ali's aus Syrien zu gehen, beabsichtigen die Verbündeten in ihrer
Gesammtheit selbst nicht, wenn auch Palmerston ohne Zweifel die völlige Be¬
seitigung des Pascha gewünscht hätte. So war mit Thiers Erklärung zunächst
die Gefahr des Krieges beseitigt. Die Drohung in der Erklärung Thiers war
ein Schein, um den thatsächlichen Rückzug unter der Form des Widerstandes
zu decken. Freilich konnte der Gang der Ereignisse auch wider den Willen
aller Betheiligten einen Zusammenstoß herbeiführen. Ein fortgesetzter Wider¬
stand Mehemed Ali's mußte die äußersten Consequenzen des Tractates zur Gel¬
tung bringen. > War der Vicekönig aber erst thatsächlich beseitigt, so war an
seine Wiedereinsetzung nicht zu denken; ja schon die Ausdehnung der Executions-
mahregeln auf Aegypten würde Frankreich genöthigt haben, aus seiner passiven
Stellung herauszutreten. Noch im November dringt Metternich auf schleunige
Unterwerfung deS Vicekönigs, on Kr quWtioir Ä'LMpte est souleve« (et'Haus-
sonvills). Offenbar sollte durch diese Aeußerung die französische Negierung
angetrieben werden, dem Vicekönig ernstlich zur Nachgiebigkeit zu rathen, statt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115198"/>
          <p xml:id="ID_1113" prev="#ID_1112"> interessanten Korrespondenz, die Guizot von London aus mit seinen Freunden<lb/>
führte, beweisen, daß alle hervorragenden Staatsmänner der conservativen Par¬<lb/>
tei von der Ueberzeugung durchdrungen waren, der Krieg werde das Signal<lb/>
für den Ausbruch der'Revolution sein. Ein Krieg müsse deshalb vermieden<lb/>
werden, es sei denn, daß es sich um die Vertheidigung Frankreichs, oder um<lb/>
die unabweislichsten Forderungen der Ehre handele. Die Existenz Frankreichs<lb/>
werde aber von keiner Seite bedroht, und die Ehre verpflichte Frankreich nicht,<lb/>
den Pascha mit den Waffen im Besitze Syriens zu schützen, wenn er selbst zu<lb/>
schwach sei, denselben zu behaupten. Diese Auffassung hofften die Conserva¬<lb/>
tiven auch dem Drängen der öffentlichen Meinung gegenüber festhalten zu<lb/>
können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1114" next="#ID_1115"> Die friedliche, zuwartende Stellung, welche die um die Doktrinäre sich grup-<lb/>
pirende Partei für die einzig richtige und würdige Politik Frankreichs in dem<lb/>
vorliegenden Conflicte hielt, war aber, wie schon erwähnt, unhaltbar, sobald die<lb/>
ägyptische Frage aufgeworfen wurde. Die völlige Beseitigung Mehemed Ali's<lb/>
mußte die Machtverhältnisse im Mittelmeer 'dermaßen zu Gunsten Englands<lb/>
verändern,.daß jedes, auch das friedliebendste und conservativste Ministerium, ohne<lb/>
Rücksicht auf die möglichen Folgen, das Aeußerste wagen mußte, um sie zu ver¬<lb/>
hindern. Daher erklärt Thiers im Anfang des October die Absetzung Mehemed<lb/>
Ali's als Vicekönigs von Aegypten für einen Kriegsfall. Mit dieser Erklärung<lb/>
war aber in der That entschieden, daß der europäische Frieden nicht gestört<lb/>
werden würde. Denn indem Thiers die Absetzung des Vicekönigs als easus<lb/>
belli, bezeichnete, zog er indirect die Grenzlinie, bis zu welcher hin die Action<lb/>
der Verbündeten gehen könnte, ohne auf Widerstand von Seiten Frankreichs<lb/>
zu stoßen, d. h. er gab Syrien auf. Weiter aber, als bis zur Vertreibung<lb/>
Mehemed Ali's aus Syrien zu gehen, beabsichtigen die Verbündeten in ihrer<lb/>
Gesammtheit selbst nicht, wenn auch Palmerston ohne Zweifel die völlige Be¬<lb/>
seitigung des Pascha gewünscht hätte. So war mit Thiers Erklärung zunächst<lb/>
die Gefahr des Krieges beseitigt. Die Drohung in der Erklärung Thiers war<lb/>
ein Schein, um den thatsächlichen Rückzug unter der Form des Widerstandes<lb/>
zu decken. Freilich konnte der Gang der Ereignisse auch wider den Willen<lb/>
aller Betheiligten einen Zusammenstoß herbeiführen. Ein fortgesetzter Wider¬<lb/>
stand Mehemed Ali's mußte die äußersten Consequenzen des Tractates zur Gel¬<lb/>
tung bringen. &gt; War der Vicekönig aber erst thatsächlich beseitigt, so war an<lb/>
seine Wiedereinsetzung nicht zu denken; ja schon die Ausdehnung der Executions-<lb/>
mahregeln auf Aegypten würde Frankreich genöthigt haben, aus seiner passiven<lb/>
Stellung herauszutreten. Noch im November dringt Metternich auf schleunige<lb/>
Unterwerfung deS Vicekönigs, on Kr quWtioir Ä'LMpte est souleve« (et'Haus-<lb/>
sonvills). Offenbar sollte durch diese Aeußerung die französische Negierung<lb/>
angetrieben werden, dem Vicekönig ernstlich zur Nachgiebigkeit zu rathen, statt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0346] interessanten Korrespondenz, die Guizot von London aus mit seinen Freunden führte, beweisen, daß alle hervorragenden Staatsmänner der conservativen Par¬ tei von der Ueberzeugung durchdrungen waren, der Krieg werde das Signal für den Ausbruch der'Revolution sein. Ein Krieg müsse deshalb vermieden werden, es sei denn, daß es sich um die Vertheidigung Frankreichs, oder um die unabweislichsten Forderungen der Ehre handele. Die Existenz Frankreichs werde aber von keiner Seite bedroht, und die Ehre verpflichte Frankreich nicht, den Pascha mit den Waffen im Besitze Syriens zu schützen, wenn er selbst zu schwach sei, denselben zu behaupten. Diese Auffassung hofften die Conserva¬ tiven auch dem Drängen der öffentlichen Meinung gegenüber festhalten zu können. Die friedliche, zuwartende Stellung, welche die um die Doktrinäre sich grup- pirende Partei für die einzig richtige und würdige Politik Frankreichs in dem vorliegenden Conflicte hielt, war aber, wie schon erwähnt, unhaltbar, sobald die ägyptische Frage aufgeworfen wurde. Die völlige Beseitigung Mehemed Ali's mußte die Machtverhältnisse im Mittelmeer 'dermaßen zu Gunsten Englands verändern,.daß jedes, auch das friedliebendste und conservativste Ministerium, ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen, das Aeußerste wagen mußte, um sie zu ver¬ hindern. Daher erklärt Thiers im Anfang des October die Absetzung Mehemed Ali's als Vicekönigs von Aegypten für einen Kriegsfall. Mit dieser Erklärung war aber in der That entschieden, daß der europäische Frieden nicht gestört werden würde. Denn indem Thiers die Absetzung des Vicekönigs als easus belli, bezeichnete, zog er indirect die Grenzlinie, bis zu welcher hin die Action der Verbündeten gehen könnte, ohne auf Widerstand von Seiten Frankreichs zu stoßen, d. h. er gab Syrien auf. Weiter aber, als bis zur Vertreibung Mehemed Ali's aus Syrien zu gehen, beabsichtigen die Verbündeten in ihrer Gesammtheit selbst nicht, wenn auch Palmerston ohne Zweifel die völlige Be¬ seitigung des Pascha gewünscht hätte. So war mit Thiers Erklärung zunächst die Gefahr des Krieges beseitigt. Die Drohung in der Erklärung Thiers war ein Schein, um den thatsächlichen Rückzug unter der Form des Widerstandes zu decken. Freilich konnte der Gang der Ereignisse auch wider den Willen aller Betheiligten einen Zusammenstoß herbeiführen. Ein fortgesetzter Wider¬ stand Mehemed Ali's mußte die äußersten Consequenzen des Tractates zur Gel¬ tung bringen. > War der Vicekönig aber erst thatsächlich beseitigt, so war an seine Wiedereinsetzung nicht zu denken; ja schon die Ausdehnung der Executions- mahregeln auf Aegypten würde Frankreich genöthigt haben, aus seiner passiven Stellung herauszutreten. Noch im November dringt Metternich auf schleunige Unterwerfung deS Vicekönigs, on Kr quWtioir Ä'LMpte est souleve« (et'Haus- sonvills). Offenbar sollte durch diese Aeußerung die französische Negierung angetrieben werden, dem Vicekönig ernstlich zur Nachgiebigkeit zu rathen, statt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/346
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/346>, abgerufen am 27.09.2024.