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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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dem Einfluß der katholischen Geistlichen stehen. Durch kaiserliches Decret von
26. März 1852 ist bestimmt, daß jede protestantische Gemeinde durch ein Pres-
bvterium geleitet wird, in dem der Pfarrer den Vorsitz hat, und dessen übrige
Mitglieder von der Gemeinde gewählt werden.

Von noch größerem Interesse als diese Mittheilungen aus Frankreich war
die Rede des Pfarrers Nitzsch über die evangelische Bewegung in
Italien. Der Redner hob zunächst hervor, daß diese Bewegung im Ganzen
und Großen von der politischen Bewegung unabhängig sei. Gewiß gebe es
manche Berührungspunkte zwischen beiden, aber auch da, wo diese am meisten
hervortraten, zeige sich doch sogleich der Unterschied, indem die eine Seite fast
nur das weltliche, die andere beinahe ausschließlich das geistliche Papstthum
bekämpfe. "Die, welchen es nur um die politische Neugestaltung Italiens zu
thun ist, fürchten die Gefahr religiöser Trennung und sehen in ihr ein Hinder¬
niß der nationalen Einheit. Sie leihen sich wohl zuweilen Waffen von den
Evangelisten, aber sie reichen ihnen nicht als Bundesgenossen die Hand." --
"Die Bildung einer neukatholischen Partei, welche sich um den Jesuiten Passaglia
gesammelt hat, thut scheinbar der Evangelisation entschiednen Abbruch; aber
sie bewahrt dieselbe gewiß vor trübenden Elementen. Diese Partei, zu der
Tausende von Priestern zählen, will ein einiges freies katholisches Italien, ein
nur geistliches Papstthum und diese und jene Verbesserung der kirchlichen Ver¬
fassung. Sie ist ein Ableiter für die liberalen Priester und Laien, welche die
nationale Begeisterung zum Kampf gegen das weltliche Papstthum und zu
einer scheinbaren Annäherung an das Evangelium führte."

"Ebenso wenig darf man glauben, daß die evangelische Bewegung in
Italien mit einem sreigeistigen Gegensatz gegen die römische Kirche zusammen¬
falle. Ein solcher ist allerdings vorhanden. Die meisten italienischen Katho¬
liken erfüllen entweder gedankenlos ihre Pflichten gegen die Kirche, oder wenn
sie denken und Anspruch auf Bildung machen, so stehen sie vornehm wie
über allem Aberglauben so auch über allem Glauben." "Wenn man etwa Alle
evangelisch nennen wollte, welche eine gründliche Verachtung vor ihren Prie¬
stern aussprechen, so würden nicht viele Katholiken in Italien übrigbleiben.
Aber evangelischer Sinn kommt in alledem nicht zum Vorschein, sondern bei
den Einen die Abneigung gegen unwürdige Personen und unbequeme Lagen,
bei den Andern völliger Unglaube." -- "Von der erwachsenen Generation ist
in der That wenig zu erwarten. Der Katholicismus hat in Italien gar feste
Wurzeln, weil die Meisten einen Gottesdienst treiben wollen, der ihnen die
Seligkeit verschafft, ohne ihnen sittliche Arbeit zuzumuthen, und weil ihnen die
Kirche den großen Dienst thut, die unbequeme Last der eignen Verantwortlich¬
keit von den Schultern zu nehmen." -- "Dieses Volk muß erst wieder zu sich
selbst kommen aus der Aeußerlichkeit seines Cultus und der Unausnchtigkeit


dem Einfluß der katholischen Geistlichen stehen. Durch kaiserliches Decret von
26. März 1852 ist bestimmt, daß jede protestantische Gemeinde durch ein Pres-
bvterium geleitet wird, in dem der Pfarrer den Vorsitz hat, und dessen übrige
Mitglieder von der Gemeinde gewählt werden.

Von noch größerem Interesse als diese Mittheilungen aus Frankreich war
die Rede des Pfarrers Nitzsch über die evangelische Bewegung in
Italien. Der Redner hob zunächst hervor, daß diese Bewegung im Ganzen
und Großen von der politischen Bewegung unabhängig sei. Gewiß gebe es
manche Berührungspunkte zwischen beiden, aber auch da, wo diese am meisten
hervortraten, zeige sich doch sogleich der Unterschied, indem die eine Seite fast
nur das weltliche, die andere beinahe ausschließlich das geistliche Papstthum
bekämpfe. „Die, welchen es nur um die politische Neugestaltung Italiens zu
thun ist, fürchten die Gefahr religiöser Trennung und sehen in ihr ein Hinder¬
niß der nationalen Einheit. Sie leihen sich wohl zuweilen Waffen von den
Evangelisten, aber sie reichen ihnen nicht als Bundesgenossen die Hand." —
„Die Bildung einer neukatholischen Partei, welche sich um den Jesuiten Passaglia
gesammelt hat, thut scheinbar der Evangelisation entschiednen Abbruch; aber
sie bewahrt dieselbe gewiß vor trübenden Elementen. Diese Partei, zu der
Tausende von Priestern zählen, will ein einiges freies katholisches Italien, ein
nur geistliches Papstthum und diese und jene Verbesserung der kirchlichen Ver¬
fassung. Sie ist ein Ableiter für die liberalen Priester und Laien, welche die
nationale Begeisterung zum Kampf gegen das weltliche Papstthum und zu
einer scheinbaren Annäherung an das Evangelium führte."

„Ebenso wenig darf man glauben, daß die evangelische Bewegung in
Italien mit einem sreigeistigen Gegensatz gegen die römische Kirche zusammen¬
falle. Ein solcher ist allerdings vorhanden. Die meisten italienischen Katho¬
liken erfüllen entweder gedankenlos ihre Pflichten gegen die Kirche, oder wenn
sie denken und Anspruch auf Bildung machen, so stehen sie vornehm wie
über allem Aberglauben so auch über allem Glauben." „Wenn man etwa Alle
evangelisch nennen wollte, welche eine gründliche Verachtung vor ihren Prie¬
stern aussprechen, so würden nicht viele Katholiken in Italien übrigbleiben.
Aber evangelischer Sinn kommt in alledem nicht zum Vorschein, sondern bei
den Einen die Abneigung gegen unwürdige Personen und unbequeme Lagen,
bei den Andern völliger Unglaube." — „Von der erwachsenen Generation ist
in der That wenig zu erwarten. Der Katholicismus hat in Italien gar feste
Wurzeln, weil die Meisten einen Gottesdienst treiben wollen, der ihnen die
Seligkeit verschafft, ohne ihnen sittliche Arbeit zuzumuthen, und weil ihnen die
Kirche den großen Dienst thut, die unbequeme Last der eignen Verantwortlich¬
keit von den Schultern zu nehmen." — „Dieses Volk muß erst wieder zu sich
selbst kommen aus der Aeußerlichkeit seines Cultus und der Unausnchtigkeit


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[0317] dem Einfluß der katholischen Geistlichen stehen. Durch kaiserliches Decret von 26. März 1852 ist bestimmt, daß jede protestantische Gemeinde durch ein Pres- bvterium geleitet wird, in dem der Pfarrer den Vorsitz hat, und dessen übrige Mitglieder von der Gemeinde gewählt werden. Von noch größerem Interesse als diese Mittheilungen aus Frankreich war die Rede des Pfarrers Nitzsch über die evangelische Bewegung in Italien. Der Redner hob zunächst hervor, daß diese Bewegung im Ganzen und Großen von der politischen Bewegung unabhängig sei. Gewiß gebe es manche Berührungspunkte zwischen beiden, aber auch da, wo diese am meisten hervortraten, zeige sich doch sogleich der Unterschied, indem die eine Seite fast nur das weltliche, die andere beinahe ausschließlich das geistliche Papstthum bekämpfe. „Die, welchen es nur um die politische Neugestaltung Italiens zu thun ist, fürchten die Gefahr religiöser Trennung und sehen in ihr ein Hinder¬ niß der nationalen Einheit. Sie leihen sich wohl zuweilen Waffen von den Evangelisten, aber sie reichen ihnen nicht als Bundesgenossen die Hand." — „Die Bildung einer neukatholischen Partei, welche sich um den Jesuiten Passaglia gesammelt hat, thut scheinbar der Evangelisation entschiednen Abbruch; aber sie bewahrt dieselbe gewiß vor trübenden Elementen. Diese Partei, zu der Tausende von Priestern zählen, will ein einiges freies katholisches Italien, ein nur geistliches Papstthum und diese und jene Verbesserung der kirchlichen Ver¬ fassung. Sie ist ein Ableiter für die liberalen Priester und Laien, welche die nationale Begeisterung zum Kampf gegen das weltliche Papstthum und zu einer scheinbaren Annäherung an das Evangelium führte." „Ebenso wenig darf man glauben, daß die evangelische Bewegung in Italien mit einem sreigeistigen Gegensatz gegen die römische Kirche zusammen¬ falle. Ein solcher ist allerdings vorhanden. Die meisten italienischen Katho¬ liken erfüllen entweder gedankenlos ihre Pflichten gegen die Kirche, oder wenn sie denken und Anspruch auf Bildung machen, so stehen sie vornehm wie über allem Aberglauben so auch über allem Glauben." „Wenn man etwa Alle evangelisch nennen wollte, welche eine gründliche Verachtung vor ihren Prie¬ stern aussprechen, so würden nicht viele Katholiken in Italien übrigbleiben. Aber evangelischer Sinn kommt in alledem nicht zum Vorschein, sondern bei den Einen die Abneigung gegen unwürdige Personen und unbequeme Lagen, bei den Andern völliger Unglaube." — „Von der erwachsenen Generation ist in der That wenig zu erwarten. Der Katholicismus hat in Italien gar feste Wurzeln, weil die Meisten einen Gottesdienst treiben wollen, der ihnen die Seligkeit verschafft, ohne ihnen sittliche Arbeit zuzumuthen, und weil ihnen die Kirche den großen Dienst thut, die unbequeme Last der eignen Verantwortlich¬ keit von den Schultern zu nehmen." — „Dieses Volk muß erst wieder zu sich selbst kommen aus der Aeußerlichkeit seines Cultus und der Unausnchtigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/317>, abgerufen am 27.09.2024.