Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

rungen und der Ansiedelung in ihren geschichtlichen Sitzen siegreichen Wider¬
stand zu leisten im Stande war. Dies konnte jedoch nur unter der Bedingung
möglich sein, daß in der in jenes Sonderdasein übergehenden Sprache und Sage
seit langem aller Schvpfungstrieb erloschen war. Denn wenn davon zur Zeit
der Trennung auch nur der kleinste Funke vorhanden gewesen wäre, so hätte
er nothwendig von den erwähnten neuen Einflüssen wieder belebt und an¬
gefacht und über den so gebildeten den jeweiligen Zuständen der Wanderer oder
Ansiedler entsprechenden neuen Formen die obsoleten alten Formen vergessen
werden müssen. Dieser Gedankengang führt also zu dem zwingenden Schlüsse,
daß hellenische und germanische Sage gleich der hellenischen und germanischen
Sprache zwar authentisch, aber nicht autochthon sei, d. h. daß sie zwar inner¬
halb desselben Volkes, aber nicht auf demjenigen Boden entstanden sei, aus
welchem die Geschichte Hellenen und Germanen angesessen kennt.

Unsere Ansicht läßt daher für die auf die Einwanderung der Hellenen nach
dem classischen Hellas folgende Zeit nur Ansiedlung des mitgebrachten symbo¬
lischen Sagkreises in den neuen Sitzen, und Umbildung desselben, Einwande¬
rung fremder Ursagen und allegorisirende Nachblüthe zu. Sie stellt sich aber
hiermit der namentlich von O. Müller vertretenen Ansicht über die Entstehung
und Entwickelung der hellenischen Sage auf hellenischem Boden scharf entgegen.

Die Sachvergleichung kommt jedoch unserer Ansicht zu Hülse, weil nament¬
lich die Zusammenstellung der germanischen und hellenischen Sagkreise zeigt,
wie vorgeschritten der hellenische bereits zu der Zeit gewesen sein muß, als
die Hellenen in Hellas einwanderten.

Ebenso glauben wir, daß einst überall, wo Deutsche wohnten, neben ihrer
Sprache, auch ihre Heldenlieder ertönten. Es gab mithin -eine Zeit, in welcher
dieselben Lieder von Siegfried und Dietrich in Afrika von Vandalen, in Spa¬
nien von Westgothen und Sueven. in Frankreich von Franken und Burgunden,
in Italien von Ostgothen und Longobarden. in England von Sachsen und
Dänen, in Rußland von Rurik und seinen Nachkommen gesungen wurden.
Freilich stammten alle diese Lieder, ebenso wie die Sprachen dieser Völker aus
einer gemeinsamen Quelle; aber diese liegt weit hinter ihrer Absonderung in
einzelne Zweige, ja weit hinter der Abzweigung des deutschen Volkes aus dem
arischen Mutterstamme. Keines dieser Lieder kann also in Deutschland ent¬
standen sein, alle aber mögen dem bekannten Triebe der Sage nach fortschrei¬
tender Versinnlichung folgend, sich auf dem eroberten Boden frisch angesiedelt
haben. In dieser Weise verlegten die Sachsen die Heimath ihres Dietrich nach
Bonn und ihres Attus nach Soest, die Ostgothen die des ihrigen nach Verona.
Als aber die Sachsen in nähere Berührung mit den Ostgothen in Italien
kamen und dort ihren Helden Dietrich nicht nur in Verona ansässig, sondern
auch in der mächtigen geschichtlichen Persönlichkeit des gothischen Theodorich


rungen und der Ansiedelung in ihren geschichtlichen Sitzen siegreichen Wider¬
stand zu leisten im Stande war. Dies konnte jedoch nur unter der Bedingung
möglich sein, daß in der in jenes Sonderdasein übergehenden Sprache und Sage
seit langem aller Schvpfungstrieb erloschen war. Denn wenn davon zur Zeit
der Trennung auch nur der kleinste Funke vorhanden gewesen wäre, so hätte
er nothwendig von den erwähnten neuen Einflüssen wieder belebt und an¬
gefacht und über den so gebildeten den jeweiligen Zuständen der Wanderer oder
Ansiedler entsprechenden neuen Formen die obsoleten alten Formen vergessen
werden müssen. Dieser Gedankengang führt also zu dem zwingenden Schlüsse,
daß hellenische und germanische Sage gleich der hellenischen und germanischen
Sprache zwar authentisch, aber nicht autochthon sei, d. h. daß sie zwar inner¬
halb desselben Volkes, aber nicht auf demjenigen Boden entstanden sei, aus
welchem die Geschichte Hellenen und Germanen angesessen kennt.

Unsere Ansicht läßt daher für die auf die Einwanderung der Hellenen nach
dem classischen Hellas folgende Zeit nur Ansiedlung des mitgebrachten symbo¬
lischen Sagkreises in den neuen Sitzen, und Umbildung desselben, Einwande¬
rung fremder Ursagen und allegorisirende Nachblüthe zu. Sie stellt sich aber
hiermit der namentlich von O. Müller vertretenen Ansicht über die Entstehung
und Entwickelung der hellenischen Sage auf hellenischem Boden scharf entgegen.

Die Sachvergleichung kommt jedoch unserer Ansicht zu Hülse, weil nament¬
lich die Zusammenstellung der germanischen und hellenischen Sagkreise zeigt,
wie vorgeschritten der hellenische bereits zu der Zeit gewesen sein muß, als
die Hellenen in Hellas einwanderten.

Ebenso glauben wir, daß einst überall, wo Deutsche wohnten, neben ihrer
Sprache, auch ihre Heldenlieder ertönten. Es gab mithin -eine Zeit, in welcher
dieselben Lieder von Siegfried und Dietrich in Afrika von Vandalen, in Spa¬
nien von Westgothen und Sueven. in Frankreich von Franken und Burgunden,
in Italien von Ostgothen und Longobarden. in England von Sachsen und
Dänen, in Rußland von Rurik und seinen Nachkommen gesungen wurden.
Freilich stammten alle diese Lieder, ebenso wie die Sprachen dieser Völker aus
einer gemeinsamen Quelle; aber diese liegt weit hinter ihrer Absonderung in
einzelne Zweige, ja weit hinter der Abzweigung des deutschen Volkes aus dem
arischen Mutterstamme. Keines dieser Lieder kann also in Deutschland ent¬
standen sein, alle aber mögen dem bekannten Triebe der Sage nach fortschrei¬
tender Versinnlichung folgend, sich auf dem eroberten Boden frisch angesiedelt
haben. In dieser Weise verlegten die Sachsen die Heimath ihres Dietrich nach
Bonn und ihres Attus nach Soest, die Ostgothen die des ihrigen nach Verona.
Als aber die Sachsen in nähere Berührung mit den Ostgothen in Italien
kamen und dort ihren Helden Dietrich nicht nur in Verona ansässig, sondern
auch in der mächtigen geschichtlichen Persönlichkeit des gothischen Theodorich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0111" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114967"/>
          <p xml:id="ID_358" prev="#ID_357"> rungen und der Ansiedelung in ihren geschichtlichen Sitzen siegreichen Wider¬<lb/>
stand zu leisten im Stande war. Dies konnte jedoch nur unter der Bedingung<lb/>
möglich sein, daß in der in jenes Sonderdasein übergehenden Sprache und Sage<lb/>
seit langem aller Schvpfungstrieb erloschen war. Denn wenn davon zur Zeit<lb/>
der Trennung auch nur der kleinste Funke vorhanden gewesen wäre, so hätte<lb/>
er nothwendig von den erwähnten neuen Einflüssen wieder belebt und an¬<lb/>
gefacht und über den so gebildeten den jeweiligen Zuständen der Wanderer oder<lb/>
Ansiedler entsprechenden neuen Formen die obsoleten alten Formen vergessen<lb/>
werden müssen. Dieser Gedankengang führt also zu dem zwingenden Schlüsse,<lb/>
daß hellenische und germanische Sage gleich der hellenischen und germanischen<lb/>
Sprache zwar authentisch, aber nicht autochthon sei, d. h. daß sie zwar inner¬<lb/>
halb desselben Volkes, aber nicht auf demjenigen Boden entstanden sei, aus<lb/>
welchem die Geschichte Hellenen und Germanen angesessen kennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_359"> Unsere Ansicht läßt daher für die auf die Einwanderung der Hellenen nach<lb/>
dem classischen Hellas folgende Zeit nur Ansiedlung des mitgebrachten symbo¬<lb/>
lischen Sagkreises in den neuen Sitzen, und Umbildung desselben, Einwande¬<lb/>
rung fremder Ursagen und allegorisirende Nachblüthe zu. Sie stellt sich aber<lb/>
hiermit der namentlich von O. Müller vertretenen Ansicht über die Entstehung<lb/>
und Entwickelung der hellenischen Sage auf hellenischem Boden scharf entgegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_360"> Die Sachvergleichung kommt jedoch unserer Ansicht zu Hülse, weil nament¬<lb/>
lich die Zusammenstellung der germanischen und hellenischen Sagkreise zeigt,<lb/>
wie vorgeschritten der hellenische bereits zu der Zeit gewesen sein muß, als<lb/>
die Hellenen in Hellas einwanderten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_361" next="#ID_362"> Ebenso glauben wir, daß einst überall, wo Deutsche wohnten, neben ihrer<lb/>
Sprache, auch ihre Heldenlieder ertönten. Es gab mithin -eine Zeit, in welcher<lb/>
dieselben Lieder von Siegfried und Dietrich in Afrika von Vandalen, in Spa¬<lb/>
nien von Westgothen und Sueven. in Frankreich von Franken und Burgunden,<lb/>
in Italien von Ostgothen und Longobarden. in England von Sachsen und<lb/>
Dänen, in Rußland von Rurik und seinen Nachkommen gesungen wurden.<lb/>
Freilich stammten alle diese Lieder, ebenso wie die Sprachen dieser Völker aus<lb/>
einer gemeinsamen Quelle; aber diese liegt weit hinter ihrer Absonderung in<lb/>
einzelne Zweige, ja weit hinter der Abzweigung des deutschen Volkes aus dem<lb/>
arischen Mutterstamme. Keines dieser Lieder kann also in Deutschland ent¬<lb/>
standen sein, alle aber mögen dem bekannten Triebe der Sage nach fortschrei¬<lb/>
tender Versinnlichung folgend, sich auf dem eroberten Boden frisch angesiedelt<lb/>
haben. In dieser Weise verlegten die Sachsen die Heimath ihres Dietrich nach<lb/>
Bonn und ihres Attus nach Soest, die Ostgothen die des ihrigen nach Verona.<lb/>
Als aber die Sachsen in nähere Berührung mit den Ostgothen in Italien<lb/>
kamen und dort ihren Helden Dietrich nicht nur in Verona ansässig, sondern<lb/>
auch in der mächtigen geschichtlichen Persönlichkeit des gothischen Theodorich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0111] rungen und der Ansiedelung in ihren geschichtlichen Sitzen siegreichen Wider¬ stand zu leisten im Stande war. Dies konnte jedoch nur unter der Bedingung möglich sein, daß in der in jenes Sonderdasein übergehenden Sprache und Sage seit langem aller Schvpfungstrieb erloschen war. Denn wenn davon zur Zeit der Trennung auch nur der kleinste Funke vorhanden gewesen wäre, so hätte er nothwendig von den erwähnten neuen Einflüssen wieder belebt und an¬ gefacht und über den so gebildeten den jeweiligen Zuständen der Wanderer oder Ansiedler entsprechenden neuen Formen die obsoleten alten Formen vergessen werden müssen. Dieser Gedankengang führt also zu dem zwingenden Schlüsse, daß hellenische und germanische Sage gleich der hellenischen und germanischen Sprache zwar authentisch, aber nicht autochthon sei, d. h. daß sie zwar inner¬ halb desselben Volkes, aber nicht auf demjenigen Boden entstanden sei, aus welchem die Geschichte Hellenen und Germanen angesessen kennt. Unsere Ansicht läßt daher für die auf die Einwanderung der Hellenen nach dem classischen Hellas folgende Zeit nur Ansiedlung des mitgebrachten symbo¬ lischen Sagkreises in den neuen Sitzen, und Umbildung desselben, Einwande¬ rung fremder Ursagen und allegorisirende Nachblüthe zu. Sie stellt sich aber hiermit der namentlich von O. Müller vertretenen Ansicht über die Entstehung und Entwickelung der hellenischen Sage auf hellenischem Boden scharf entgegen. Die Sachvergleichung kommt jedoch unserer Ansicht zu Hülse, weil nament¬ lich die Zusammenstellung der germanischen und hellenischen Sagkreise zeigt, wie vorgeschritten der hellenische bereits zu der Zeit gewesen sein muß, als die Hellenen in Hellas einwanderten. Ebenso glauben wir, daß einst überall, wo Deutsche wohnten, neben ihrer Sprache, auch ihre Heldenlieder ertönten. Es gab mithin -eine Zeit, in welcher dieselben Lieder von Siegfried und Dietrich in Afrika von Vandalen, in Spa¬ nien von Westgothen und Sueven. in Frankreich von Franken und Burgunden, in Italien von Ostgothen und Longobarden. in England von Sachsen und Dänen, in Rußland von Rurik und seinen Nachkommen gesungen wurden. Freilich stammten alle diese Lieder, ebenso wie die Sprachen dieser Völker aus einer gemeinsamen Quelle; aber diese liegt weit hinter ihrer Absonderung in einzelne Zweige, ja weit hinter der Abzweigung des deutschen Volkes aus dem arischen Mutterstamme. Keines dieser Lieder kann also in Deutschland ent¬ standen sein, alle aber mögen dem bekannten Triebe der Sage nach fortschrei¬ tender Versinnlichung folgend, sich auf dem eroberten Boden frisch angesiedelt haben. In dieser Weise verlegten die Sachsen die Heimath ihres Dietrich nach Bonn und ihres Attus nach Soest, die Ostgothen die des ihrigen nach Verona. Als aber die Sachsen in nähere Berührung mit den Ostgothen in Italien kamen und dort ihren Helden Dietrich nicht nur in Verona ansässig, sondern auch in der mächtigen geschichtlichen Persönlichkeit des gothischen Theodorich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/111
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/111>, abgerufen am 27.09.2024.