Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Attila veranlaßt wurde, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Die Geschichte
der Sachsen ermangelt auch nicht der Berührungspunkte mit Italien, welche zur
Erklärung dieser Erscheinung benutzt werden können; denn außer den zahlreichen
Römerzügen unserer Kaiser bietet sich hierzu auch die Theilnahme der Sachsen an
der Eroberung Italiens durch die Longobarden*). Doch liegt eine solche Erklärung
nicht in unserer Aufgabe; wir beschränken uns auf die vollendete Thatsache, daß
die sächsische Sage von Dietrich auf den geschichtlichen Gothenl'orig Theodorich
und die von Attila auf den geschichtlichen Hunncntonig übertragen wurde.

Hier liegt nun die Vermuthung sehr nahe, daß bei der Verschmelzung der
Sage mit diesen geschichtlichen Persönlichkeiten wenigstens ein oder der andere
Lebenszug derselben in die Sage eingedrungen sei. Eine genaue Vergleichung
der Geschichte mit der Sage zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall war, und
daß die Sage die geschichtlichen Persönlichkeiten und ihre Erlebnisse gänzlich
verflüchtigte, um ihre Gestalten und Erzählungen an deren Stelle zu setzen.

Der Schwerpunkt in Theodorichs Leben ist die Eroberung Italiens, die
Gründung einer neuen Herrschaft und das Streben, alle Fürsten germanischen
Blutes zu einer großen Familie zu vereinigen, die in ihm ihr Familienhaupt
erkennt.

Dagegen wird Dietrich von Bern als Sprößling einer Nebenlinie des
über Italien herrschenden Königshauses geboren und liegt der Schwerpunkt
seiner Sage in der Flucht vor den Nachstellungen seines Oheims, des Kaisers
Hermanrich, zu dem Hunnenfürsten Attila^), in dessen Dienstbarkeit er tritt, und
in seiner endlichen Rückkehr in das väterliche Reich nach langer Abwesenheit und
nach mehren fehlgeschlagenen Rückkehrversuchen. Daß aber von Allem, was
die Sage von Dietrich von Bern erzählt, überhaupt nichts geschichtlich sein
könne, das ergibt sich aus ihren sehr starken Anklängen an die jonische Erech-
thidensage. In gleicher Weise stimmt nichts, was uns die sächsische Sage von
Osids Sohne erzählt, zu dem historischen Attila.

Wir wenden uns nun zu'einem andern Beispiele einer solchen Ablagerung
der Sage auf geschichtliche Persönlichkeiten aus dem höhern Alterthume. Wenn
der Leser einen Blick aus die weiter unten folgende Zusammenstellung der
verschiedenen Formen der Amclungensage werfen will, so wird er finden, daß




') Da die Longobarden als Deutsche auch eine Dietrichssage gehabt haben müssen, so
erscheint uns die Vermuthung am wahrscheinlichsten, daß sie gleich bei ihrer Einwanderung in
Italien ihre Sage auf den in der Ueberlieferung noch fortlebenden geschichtlichen Thcooorich
ablagerten. Die Kürze der Zeit (Theodorich stirbt 526, die Eroberung erfolgt 568) gibt keinen
triftigen Einwand ab, weil wir weiter unten auf gleich rasche Verschmelzungen dieser Art
stoßen werden.
") Der geschichtliche Attila stirbt 463 und Theodorich wird 46S geboren.

Attila veranlaßt wurde, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Die Geschichte
der Sachsen ermangelt auch nicht der Berührungspunkte mit Italien, welche zur
Erklärung dieser Erscheinung benutzt werden können; denn außer den zahlreichen
Römerzügen unserer Kaiser bietet sich hierzu auch die Theilnahme der Sachsen an
der Eroberung Italiens durch die Longobarden*). Doch liegt eine solche Erklärung
nicht in unserer Aufgabe; wir beschränken uns auf die vollendete Thatsache, daß
die sächsische Sage von Dietrich auf den geschichtlichen Gothenl'orig Theodorich
und die von Attila auf den geschichtlichen Hunncntonig übertragen wurde.

Hier liegt nun die Vermuthung sehr nahe, daß bei der Verschmelzung der
Sage mit diesen geschichtlichen Persönlichkeiten wenigstens ein oder der andere
Lebenszug derselben in die Sage eingedrungen sei. Eine genaue Vergleichung
der Geschichte mit der Sage zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall war, und
daß die Sage die geschichtlichen Persönlichkeiten und ihre Erlebnisse gänzlich
verflüchtigte, um ihre Gestalten und Erzählungen an deren Stelle zu setzen.

Der Schwerpunkt in Theodorichs Leben ist die Eroberung Italiens, die
Gründung einer neuen Herrschaft und das Streben, alle Fürsten germanischen
Blutes zu einer großen Familie zu vereinigen, die in ihm ihr Familienhaupt
erkennt.

Dagegen wird Dietrich von Bern als Sprößling einer Nebenlinie des
über Italien herrschenden Königshauses geboren und liegt der Schwerpunkt
seiner Sage in der Flucht vor den Nachstellungen seines Oheims, des Kaisers
Hermanrich, zu dem Hunnenfürsten Attila^), in dessen Dienstbarkeit er tritt, und
in seiner endlichen Rückkehr in das väterliche Reich nach langer Abwesenheit und
nach mehren fehlgeschlagenen Rückkehrversuchen. Daß aber von Allem, was
die Sage von Dietrich von Bern erzählt, überhaupt nichts geschichtlich sein
könne, das ergibt sich aus ihren sehr starken Anklängen an die jonische Erech-
thidensage. In gleicher Weise stimmt nichts, was uns die sächsische Sage von
Osids Sohne erzählt, zu dem historischen Attila.

Wir wenden uns nun zu'einem andern Beispiele einer solchen Ablagerung
der Sage auf geschichtliche Persönlichkeiten aus dem höhern Alterthume. Wenn
der Leser einen Blick aus die weiter unten folgende Zusammenstellung der
verschiedenen Formen der Amclungensage werfen will, so wird er finden, daß




') Da die Longobarden als Deutsche auch eine Dietrichssage gehabt haben müssen, so
erscheint uns die Vermuthung am wahrscheinlichsten, daß sie gleich bei ihrer Einwanderung in
Italien ihre Sage auf den in der Ueberlieferung noch fortlebenden geschichtlichen Thcooorich
ablagerten. Die Kürze der Zeit (Theodorich stirbt 526, die Eroberung erfolgt 568) gibt keinen
triftigen Einwand ab, weil wir weiter unten auf gleich rasche Verschmelzungen dieser Art
stoßen werden.
") Der geschichtliche Attila stirbt 463 und Theodorich wird 46S geboren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114964"/>
          <p xml:id="ID_341" prev="#ID_340"> Attila veranlaßt wurde, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Die Geschichte<lb/>
der Sachsen ermangelt auch nicht der Berührungspunkte mit Italien, welche zur<lb/>
Erklärung dieser Erscheinung benutzt werden können; denn außer den zahlreichen<lb/>
Römerzügen unserer Kaiser bietet sich hierzu auch die Theilnahme der Sachsen an<lb/>
der Eroberung Italiens durch die Longobarden*). Doch liegt eine solche Erklärung<lb/>
nicht in unserer Aufgabe; wir beschränken uns auf die vollendete Thatsache, daß<lb/>
die sächsische Sage von Dietrich auf den geschichtlichen Gothenl'orig Theodorich<lb/>
und die von Attila auf den geschichtlichen Hunncntonig übertragen wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_342"> Hier liegt nun die Vermuthung sehr nahe, daß bei der Verschmelzung der<lb/>
Sage mit diesen geschichtlichen Persönlichkeiten wenigstens ein oder der andere<lb/>
Lebenszug derselben in die Sage eingedrungen sei. Eine genaue Vergleichung<lb/>
der Geschichte mit der Sage zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall war, und<lb/>
daß die Sage die geschichtlichen Persönlichkeiten und ihre Erlebnisse gänzlich<lb/>
verflüchtigte, um ihre Gestalten und Erzählungen an deren Stelle zu setzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_343"> Der Schwerpunkt in Theodorichs Leben ist die Eroberung Italiens, die<lb/>
Gründung einer neuen Herrschaft und das Streben, alle Fürsten germanischen<lb/>
Blutes zu einer großen Familie zu vereinigen, die in ihm ihr Familienhaupt<lb/>
erkennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_344"> Dagegen wird Dietrich von Bern als Sprößling einer Nebenlinie des<lb/>
über Italien herrschenden Königshauses geboren und liegt der Schwerpunkt<lb/>
seiner Sage in der Flucht vor den Nachstellungen seines Oheims, des Kaisers<lb/>
Hermanrich, zu dem Hunnenfürsten Attila^), in dessen Dienstbarkeit er tritt, und<lb/>
in seiner endlichen Rückkehr in das väterliche Reich nach langer Abwesenheit und<lb/>
nach mehren fehlgeschlagenen Rückkehrversuchen. Daß aber von Allem, was<lb/>
die Sage von Dietrich von Bern erzählt, überhaupt nichts geschichtlich sein<lb/>
könne, das ergibt sich aus ihren sehr starken Anklängen an die jonische Erech-<lb/>
thidensage. In gleicher Weise stimmt nichts, was uns die sächsische Sage von<lb/>
Osids Sohne erzählt, zu dem historischen Attila.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_345" next="#ID_346"> Wir wenden uns nun zu'einem andern Beispiele einer solchen Ablagerung<lb/>
der Sage auf geschichtliche Persönlichkeiten aus dem höhern Alterthume. Wenn<lb/>
der Leser einen Blick aus die weiter unten folgende Zusammenstellung der<lb/>
verschiedenen Formen der Amclungensage werfen will, so wird er finden, daß</p><lb/>
          <note xml:id="FID_16" place="foot"> ') Da die Longobarden als Deutsche auch eine Dietrichssage gehabt haben müssen, so<lb/>
erscheint uns die Vermuthung am wahrscheinlichsten, daß sie gleich bei ihrer Einwanderung in<lb/>
Italien ihre Sage auf den in der Ueberlieferung noch fortlebenden geschichtlichen Thcooorich<lb/>
ablagerten. Die Kürze der Zeit (Theodorich stirbt 526, die Eroberung erfolgt 568) gibt keinen<lb/>
triftigen Einwand ab, weil wir weiter unten auf gleich rasche Verschmelzungen dieser Art<lb/>
stoßen werden.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_17" place="foot"> ") Der geschichtliche Attila stirbt 463 und Theodorich wird 46S geboren.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0108] Attila veranlaßt wurde, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Die Geschichte der Sachsen ermangelt auch nicht der Berührungspunkte mit Italien, welche zur Erklärung dieser Erscheinung benutzt werden können; denn außer den zahlreichen Römerzügen unserer Kaiser bietet sich hierzu auch die Theilnahme der Sachsen an der Eroberung Italiens durch die Longobarden*). Doch liegt eine solche Erklärung nicht in unserer Aufgabe; wir beschränken uns auf die vollendete Thatsache, daß die sächsische Sage von Dietrich auf den geschichtlichen Gothenl'orig Theodorich und die von Attila auf den geschichtlichen Hunncntonig übertragen wurde. Hier liegt nun die Vermuthung sehr nahe, daß bei der Verschmelzung der Sage mit diesen geschichtlichen Persönlichkeiten wenigstens ein oder der andere Lebenszug derselben in die Sage eingedrungen sei. Eine genaue Vergleichung der Geschichte mit der Sage zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall war, und daß die Sage die geschichtlichen Persönlichkeiten und ihre Erlebnisse gänzlich verflüchtigte, um ihre Gestalten und Erzählungen an deren Stelle zu setzen. Der Schwerpunkt in Theodorichs Leben ist die Eroberung Italiens, die Gründung einer neuen Herrschaft und das Streben, alle Fürsten germanischen Blutes zu einer großen Familie zu vereinigen, die in ihm ihr Familienhaupt erkennt. Dagegen wird Dietrich von Bern als Sprößling einer Nebenlinie des über Italien herrschenden Königshauses geboren und liegt der Schwerpunkt seiner Sage in der Flucht vor den Nachstellungen seines Oheims, des Kaisers Hermanrich, zu dem Hunnenfürsten Attila^), in dessen Dienstbarkeit er tritt, und in seiner endlichen Rückkehr in das väterliche Reich nach langer Abwesenheit und nach mehren fehlgeschlagenen Rückkehrversuchen. Daß aber von Allem, was die Sage von Dietrich von Bern erzählt, überhaupt nichts geschichtlich sein könne, das ergibt sich aus ihren sehr starken Anklängen an die jonische Erech- thidensage. In gleicher Weise stimmt nichts, was uns die sächsische Sage von Osids Sohne erzählt, zu dem historischen Attila. Wir wenden uns nun zu'einem andern Beispiele einer solchen Ablagerung der Sage auf geschichtliche Persönlichkeiten aus dem höhern Alterthume. Wenn der Leser einen Blick aus die weiter unten folgende Zusammenstellung der verschiedenen Formen der Amclungensage werfen will, so wird er finden, daß ') Da die Longobarden als Deutsche auch eine Dietrichssage gehabt haben müssen, so erscheint uns die Vermuthung am wahrscheinlichsten, daß sie gleich bei ihrer Einwanderung in Italien ihre Sage auf den in der Ueberlieferung noch fortlebenden geschichtlichen Thcooorich ablagerten. Die Kürze der Zeit (Theodorich stirbt 526, die Eroberung erfolgt 568) gibt keinen triftigen Einwand ab, weil wir weiter unten auf gleich rasche Verschmelzungen dieser Art stoßen werden. ") Der geschichtliche Attila stirbt 463 und Theodorich wird 46S geboren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/108
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/108>, abgerufen am 27.09.2024.