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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Saxo Grammaticus und hundert andere bei Griechen und Römern und wo
immer die Wissenschaft der Geschichte ihre ersten Schritte that.

Das menschliche Gedächtniß läßt also nach unserer Ansicht die reingeschicht¬
liche Wahrheit rasch fallen. Es muß durch den Glauben gestärkt werden, um
für die Sagform dieselbe Tragkraft zu gewinnen, wie für die Sprachform.
Nur der Glaube drückt der Sagform das unverwüstliche Gepräge auf, gegen
welches die Zeit machtlos zu sein scheint, und das deren Fortdauer ermöglicht,
wenn auch jener Glaube längst abgestorben ist. Die Form der einmal als
göttlich erkannten Wahrheit überdauert das Bewußtsein dieser Erkenntnis.

Es erübrigt uns noch ein Blick auf das Verhältniß zwischen Sage und
Geschichte in denjenigen Fällen, wo sie ineinandergreifen. Dies geschieht
namentlich bei den s. g. Vergötterungen und Verheldungen geschichtlicher Per¬
sönlichkeiten. Während nach euhemeristischer Lehre aus dem verstorbenen
Menschen ein neuer Gott oder Held wird und dabei seine geschichtlichen, also
rein menschlichen Thaten in das Wundervolle erhoben werden, müssen wir von
unserem Standpunkte aus die Möglichkeit eines solchen Verfahrens im Denken
der im Stande der Kindheit erschaffenen Menschheit läugnen, und erblicken wir in
dieser Vergötterung nur einen folgerichtigen Schritt in dem versinnlichenden Ent¬
wicklungsgange der Sage, auf welchem sie nicht nur sich aus ihren Wanderungen
an ihren Ruheplätzen anzusiedeln, sondern auf geeignete menschliche Persönlich¬
keiten frisch abzulagern pflegt. Auf diesem Wege ist also niemals die Erzeugung
eines neuen Gottes oder Helden, sondern nur die Wiedergeburt einer alten
Gestalt der Sage, möglich.

Wie verhält sich nun die geschichtliche Persönlichkeit zu der vorhandenen
Figur der Sage, wenn eine solche Neuverkörperung der letzteren in der ersteren
stattfindet? Wir wüßten in dem Bereiche der uns bekannten Sagen kein Bei¬
spiel anzuführen, welches hierüber belehrender wäre,'als die deutsche Dietrichs¬
sage. Eine nähere Prüfung der uns durch skandinavische Vermittlung er¬
haltenen sächsischen Form derselben zeigt nämlich die deutlichsten Spuren, daß
dieselbe ursprünglich in Sachsen und seinen Nachbarländern angesiedelt war.
Dietrich herrscht zu Bonn am Rhein, welches früher Bern hieß, Attila ist der
jüngere Sohn des Fricsenkönigs Osid, er erobert sich Sachsen von dem König
Miliah und wohnt in Susat, dem heutigen Soest in Westphalen, und die
Nibelungen sitzen in Worms.

Die Verfasser derjenigen Form, in welcher sie uns erhalten ist, haben je¬
doch eine ganz andere Vorstellung von dem Schauplatze der Sage; und nach
dieser lebt Dietrich in dein lombardischen Verona, Hermanrich in Rom, Attila
im Ungarnlande; nur die Nibelungen sind in Worms seßhaft geblieben.

Daß diese Wanderung der Sage durch die mächtige Erscheinung des ge¬
schichtlichen Gothcntönigs Theodorich und des geschichtlichen Hunnenkönigs


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Saxo Grammaticus und hundert andere bei Griechen und Römern und wo
immer die Wissenschaft der Geschichte ihre ersten Schritte that.

Das menschliche Gedächtniß läßt also nach unserer Ansicht die reingeschicht¬
liche Wahrheit rasch fallen. Es muß durch den Glauben gestärkt werden, um
für die Sagform dieselbe Tragkraft zu gewinnen, wie für die Sprachform.
Nur der Glaube drückt der Sagform das unverwüstliche Gepräge auf, gegen
welches die Zeit machtlos zu sein scheint, und das deren Fortdauer ermöglicht,
wenn auch jener Glaube längst abgestorben ist. Die Form der einmal als
göttlich erkannten Wahrheit überdauert das Bewußtsein dieser Erkenntnis.

Es erübrigt uns noch ein Blick auf das Verhältniß zwischen Sage und
Geschichte in denjenigen Fällen, wo sie ineinandergreifen. Dies geschieht
namentlich bei den s. g. Vergötterungen und Verheldungen geschichtlicher Per¬
sönlichkeiten. Während nach euhemeristischer Lehre aus dem verstorbenen
Menschen ein neuer Gott oder Held wird und dabei seine geschichtlichen, also
rein menschlichen Thaten in das Wundervolle erhoben werden, müssen wir von
unserem Standpunkte aus die Möglichkeit eines solchen Verfahrens im Denken
der im Stande der Kindheit erschaffenen Menschheit läugnen, und erblicken wir in
dieser Vergötterung nur einen folgerichtigen Schritt in dem versinnlichenden Ent¬
wicklungsgange der Sage, auf welchem sie nicht nur sich aus ihren Wanderungen
an ihren Ruheplätzen anzusiedeln, sondern auf geeignete menschliche Persönlich¬
keiten frisch abzulagern pflegt. Auf diesem Wege ist also niemals die Erzeugung
eines neuen Gottes oder Helden, sondern nur die Wiedergeburt einer alten
Gestalt der Sage, möglich.

Wie verhält sich nun die geschichtliche Persönlichkeit zu der vorhandenen
Figur der Sage, wenn eine solche Neuverkörperung der letzteren in der ersteren
stattfindet? Wir wüßten in dem Bereiche der uns bekannten Sagen kein Bei¬
spiel anzuführen, welches hierüber belehrender wäre,'als die deutsche Dietrichs¬
sage. Eine nähere Prüfung der uns durch skandinavische Vermittlung er¬
haltenen sächsischen Form derselben zeigt nämlich die deutlichsten Spuren, daß
dieselbe ursprünglich in Sachsen und seinen Nachbarländern angesiedelt war.
Dietrich herrscht zu Bonn am Rhein, welches früher Bern hieß, Attila ist der
jüngere Sohn des Fricsenkönigs Osid, er erobert sich Sachsen von dem König
Miliah und wohnt in Susat, dem heutigen Soest in Westphalen, und die
Nibelungen sitzen in Worms.

Die Verfasser derjenigen Form, in welcher sie uns erhalten ist, haben je¬
doch eine ganz andere Vorstellung von dem Schauplatze der Sage; und nach
dieser lebt Dietrich in dein lombardischen Verona, Hermanrich in Rom, Attila
im Ungarnlande; nur die Nibelungen sind in Worms seßhaft geblieben.

Daß diese Wanderung der Sage durch die mächtige Erscheinung des ge¬
schichtlichen Gothcntönigs Theodorich und des geschichtlichen Hunnenkönigs


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[0107] Saxo Grammaticus und hundert andere bei Griechen und Römern und wo immer die Wissenschaft der Geschichte ihre ersten Schritte that. Das menschliche Gedächtniß läßt also nach unserer Ansicht die reingeschicht¬ liche Wahrheit rasch fallen. Es muß durch den Glauben gestärkt werden, um für die Sagform dieselbe Tragkraft zu gewinnen, wie für die Sprachform. Nur der Glaube drückt der Sagform das unverwüstliche Gepräge auf, gegen welches die Zeit machtlos zu sein scheint, und das deren Fortdauer ermöglicht, wenn auch jener Glaube längst abgestorben ist. Die Form der einmal als göttlich erkannten Wahrheit überdauert das Bewußtsein dieser Erkenntnis. Es erübrigt uns noch ein Blick auf das Verhältniß zwischen Sage und Geschichte in denjenigen Fällen, wo sie ineinandergreifen. Dies geschieht namentlich bei den s. g. Vergötterungen und Verheldungen geschichtlicher Per¬ sönlichkeiten. Während nach euhemeristischer Lehre aus dem verstorbenen Menschen ein neuer Gott oder Held wird und dabei seine geschichtlichen, also rein menschlichen Thaten in das Wundervolle erhoben werden, müssen wir von unserem Standpunkte aus die Möglichkeit eines solchen Verfahrens im Denken der im Stande der Kindheit erschaffenen Menschheit läugnen, und erblicken wir in dieser Vergötterung nur einen folgerichtigen Schritt in dem versinnlichenden Ent¬ wicklungsgange der Sage, auf welchem sie nicht nur sich aus ihren Wanderungen an ihren Ruheplätzen anzusiedeln, sondern auf geeignete menschliche Persönlich¬ keiten frisch abzulagern pflegt. Auf diesem Wege ist also niemals die Erzeugung eines neuen Gottes oder Helden, sondern nur die Wiedergeburt einer alten Gestalt der Sage, möglich. Wie verhält sich nun die geschichtliche Persönlichkeit zu der vorhandenen Figur der Sage, wenn eine solche Neuverkörperung der letzteren in der ersteren stattfindet? Wir wüßten in dem Bereiche der uns bekannten Sagen kein Bei¬ spiel anzuführen, welches hierüber belehrender wäre,'als die deutsche Dietrichs¬ sage. Eine nähere Prüfung der uns durch skandinavische Vermittlung er¬ haltenen sächsischen Form derselben zeigt nämlich die deutlichsten Spuren, daß dieselbe ursprünglich in Sachsen und seinen Nachbarländern angesiedelt war. Dietrich herrscht zu Bonn am Rhein, welches früher Bern hieß, Attila ist der jüngere Sohn des Fricsenkönigs Osid, er erobert sich Sachsen von dem König Miliah und wohnt in Susat, dem heutigen Soest in Westphalen, und die Nibelungen sitzen in Worms. Die Verfasser derjenigen Form, in welcher sie uns erhalten ist, haben je¬ doch eine ganz andere Vorstellung von dem Schauplatze der Sage; und nach dieser lebt Dietrich in dein lombardischen Verona, Hermanrich in Rom, Attila im Ungarnlande; nur die Nibelungen sind in Worms seßhaft geblieben. Daß diese Wanderung der Sage durch die mächtige Erscheinung des ge¬ schichtlichen Gothcntönigs Theodorich und des geschichtlichen Hunnenkönigs 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/107>, abgerufen am 27.09.2024.