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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Haltes in Epirus nach den geschichtlichen Liedern des Landes und deren Sän¬
gern. Es sind dies meist arme blinde Greise, oder auch Mitglieder der städtischen
Musiken, und man behauptet, daß von ihnen jedes bedeutende Ereignis; be¬
sungen werde; daß aber diese Lieder nicht besonders volksthümlich sind, und von
dem Volte mehr gehört als gesungen werden, geht daraus hervor, daß der Ver¬
fasser niemals welche zu hören bekam und auch viele Eingeborne sprach, die in der
gleichen Lage waren, und daß er nur eine Probe von diesen Liedern, die Ein¬
nahme Janina's durch den bekannten Ali Pascha, ein sehr schwaches dichterisches
Erzeugniß, sich verschaffen konnte. Aber ähnliche über Ali's Zeit hinausgehende
Lieder wollte Niemand gehört haben, und selbst alte Leute konnten sich der¬
gleichen nicht aus ihrer Jugend erinnern.

Während seines Aufenthaltes in Kroja forschte der Verfasser nach Liedern
von Skanderbeg, die, wie er von Vielen gehört hatte, dort noch gesungen
werden sollten. Es hieß jedoch, daß in einem acht oder zehn Stunden von
Kroja liegenden Dorfe noch ein alter Mann lebe, der diese Lieder zu singen
wisse, aber an Ort und Stelle waren sie bereits ausgestorben. Nun betrach¬
ten wir aber die.Albcniescn oder Neupelasger als ein sehr altes Volk, welches
wahrscheinlich noch vor den Hellenen in Europa eingewandert ist und daher
eine lange und reiche Geschichte haben muß, und zweifeln nicht, daß alle
merkwürdigen Begebenheiten desselben ebenso wie Skanderbegs Thaten be¬
sungen worden sind. Pyrrhos und Alexander und Konstantin der Große sind
zweifellos ebenso, gut wie Skanderbeg in Liedern gefeiert worden. Wer möchte
aber fragen, ob sie noch im Munde des Volkes leben, wenn er hört, daß die
Lieder Skanderbegs dem gänzlichen Aussterben nahe sind? Was also Neumann
von der Geschichtölvsigkeit der Tscherkessen sagt, läßt sich wörtlich auch auf die
Albanesen anwenden.

Wenden wir uns zu den Griechen, so möchten wir zweifeln, ob irgend
eines ihrer schönen Klephtenlieder älter als ein Jahrhundert sei, wenn auch
deren hohe Ausbildung zeigt, daß sie die Erzeugnisse einer alten Schule sind.
Was aber ihre neuen geschichtlichen Lieder über die Begebenheiten des Frei¬
heitskampfes betrifft, so glauben wir, daß davon überhaupt nur wenige im
Peloponnes und auf den Inseln im Schwange gewesen sein mögen, weil sie
bereits aus dem Volksmunde verschwunden sind. Bei den Rumelioten mag
sich vielleicht das eine oder andere Lied noch einige Geschlechter hindurch erhalten,
dem allgemeinen Schicksale ihrer Gattung werden sie aber sicher nicht entgehen,
wenn nicht ihr Gedächtniß durch gedruckte Sammlungen frisch erhalten wird;
denn wo sind die Lieder, welche den Fall von Konstantinopel beklagen, an
denen gewiß kein Mangel war?

Es bleibt uns nun noch die Frage ins Auge zu fassen, ob es nicht wenig¬
stens zur Zeit der alten Sängerschulen anders gewesen sein könne, welche,


Grenzboten IV. 1S62. 13

Haltes in Epirus nach den geschichtlichen Liedern des Landes und deren Sän¬
gern. Es sind dies meist arme blinde Greise, oder auch Mitglieder der städtischen
Musiken, und man behauptet, daß von ihnen jedes bedeutende Ereignis; be¬
sungen werde; daß aber diese Lieder nicht besonders volksthümlich sind, und von
dem Volte mehr gehört als gesungen werden, geht daraus hervor, daß der Ver¬
fasser niemals welche zu hören bekam und auch viele Eingeborne sprach, die in der
gleichen Lage waren, und daß er nur eine Probe von diesen Liedern, die Ein¬
nahme Janina's durch den bekannten Ali Pascha, ein sehr schwaches dichterisches
Erzeugniß, sich verschaffen konnte. Aber ähnliche über Ali's Zeit hinausgehende
Lieder wollte Niemand gehört haben, und selbst alte Leute konnten sich der¬
gleichen nicht aus ihrer Jugend erinnern.

Während seines Aufenthaltes in Kroja forschte der Verfasser nach Liedern
von Skanderbeg, die, wie er von Vielen gehört hatte, dort noch gesungen
werden sollten. Es hieß jedoch, daß in einem acht oder zehn Stunden von
Kroja liegenden Dorfe noch ein alter Mann lebe, der diese Lieder zu singen
wisse, aber an Ort und Stelle waren sie bereits ausgestorben. Nun betrach¬
ten wir aber die.Albcniescn oder Neupelasger als ein sehr altes Volk, welches
wahrscheinlich noch vor den Hellenen in Europa eingewandert ist und daher
eine lange und reiche Geschichte haben muß, und zweifeln nicht, daß alle
merkwürdigen Begebenheiten desselben ebenso wie Skanderbegs Thaten be¬
sungen worden sind. Pyrrhos und Alexander und Konstantin der Große sind
zweifellos ebenso, gut wie Skanderbeg in Liedern gefeiert worden. Wer möchte
aber fragen, ob sie noch im Munde des Volkes leben, wenn er hört, daß die
Lieder Skanderbegs dem gänzlichen Aussterben nahe sind? Was also Neumann
von der Geschichtölvsigkeit der Tscherkessen sagt, läßt sich wörtlich auch auf die
Albanesen anwenden.

Wenden wir uns zu den Griechen, so möchten wir zweifeln, ob irgend
eines ihrer schönen Klephtenlieder älter als ein Jahrhundert sei, wenn auch
deren hohe Ausbildung zeigt, daß sie die Erzeugnisse einer alten Schule sind.
Was aber ihre neuen geschichtlichen Lieder über die Begebenheiten des Frei¬
heitskampfes betrifft, so glauben wir, daß davon überhaupt nur wenige im
Peloponnes und auf den Inseln im Schwange gewesen sein mögen, weil sie
bereits aus dem Volksmunde verschwunden sind. Bei den Rumelioten mag
sich vielleicht das eine oder andere Lied noch einige Geschlechter hindurch erhalten,
dem allgemeinen Schicksale ihrer Gattung werden sie aber sicher nicht entgehen,
wenn nicht ihr Gedächtniß durch gedruckte Sammlungen frisch erhalten wird;
denn wo sind die Lieder, welche den Fall von Konstantinopel beklagen, an
denen gewiß kein Mangel war?

Es bleibt uns nun noch die Frage ins Auge zu fassen, ob es nicht wenig¬
stens zur Zeit der alten Sängerschulen anders gewesen sein könne, welche,


Grenzboten IV. 1S62. 13
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[0105] Haltes in Epirus nach den geschichtlichen Liedern des Landes und deren Sän¬ gern. Es sind dies meist arme blinde Greise, oder auch Mitglieder der städtischen Musiken, und man behauptet, daß von ihnen jedes bedeutende Ereignis; be¬ sungen werde; daß aber diese Lieder nicht besonders volksthümlich sind, und von dem Volte mehr gehört als gesungen werden, geht daraus hervor, daß der Ver¬ fasser niemals welche zu hören bekam und auch viele Eingeborne sprach, die in der gleichen Lage waren, und daß er nur eine Probe von diesen Liedern, die Ein¬ nahme Janina's durch den bekannten Ali Pascha, ein sehr schwaches dichterisches Erzeugniß, sich verschaffen konnte. Aber ähnliche über Ali's Zeit hinausgehende Lieder wollte Niemand gehört haben, und selbst alte Leute konnten sich der¬ gleichen nicht aus ihrer Jugend erinnern. Während seines Aufenthaltes in Kroja forschte der Verfasser nach Liedern von Skanderbeg, die, wie er von Vielen gehört hatte, dort noch gesungen werden sollten. Es hieß jedoch, daß in einem acht oder zehn Stunden von Kroja liegenden Dorfe noch ein alter Mann lebe, der diese Lieder zu singen wisse, aber an Ort und Stelle waren sie bereits ausgestorben. Nun betrach¬ ten wir aber die.Albcniescn oder Neupelasger als ein sehr altes Volk, welches wahrscheinlich noch vor den Hellenen in Europa eingewandert ist und daher eine lange und reiche Geschichte haben muß, und zweifeln nicht, daß alle merkwürdigen Begebenheiten desselben ebenso wie Skanderbegs Thaten be¬ sungen worden sind. Pyrrhos und Alexander und Konstantin der Große sind zweifellos ebenso, gut wie Skanderbeg in Liedern gefeiert worden. Wer möchte aber fragen, ob sie noch im Munde des Volkes leben, wenn er hört, daß die Lieder Skanderbegs dem gänzlichen Aussterben nahe sind? Was also Neumann von der Geschichtölvsigkeit der Tscherkessen sagt, läßt sich wörtlich auch auf die Albanesen anwenden. Wenden wir uns zu den Griechen, so möchten wir zweifeln, ob irgend eines ihrer schönen Klephtenlieder älter als ein Jahrhundert sei, wenn auch deren hohe Ausbildung zeigt, daß sie die Erzeugnisse einer alten Schule sind. Was aber ihre neuen geschichtlichen Lieder über die Begebenheiten des Frei¬ heitskampfes betrifft, so glauben wir, daß davon überhaupt nur wenige im Peloponnes und auf den Inseln im Schwange gewesen sein mögen, weil sie bereits aus dem Volksmunde verschwunden sind. Bei den Rumelioten mag sich vielleicht das eine oder andere Lied noch einige Geschlechter hindurch erhalten, dem allgemeinen Schicksale ihrer Gattung werden sie aber sicher nicht entgehen, wenn nicht ihr Gedächtniß durch gedruckte Sammlungen frisch erhalten wird; denn wo sind die Lieder, welche den Fall von Konstantinopel beklagen, an denen gewiß kein Mangel war? Es bleibt uns nun noch die Frage ins Auge zu fassen, ob es nicht wenig¬ stens zur Zeit der alten Sängerschulen anders gewesen sein könne, welche, Grenzboten IV. 1S62. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/105>, abgerufen am 27.09.2024.