Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.liebes vermehrt. Sie haben auf Kosten der Wirklichkeit und ihres Gesetzes Als Erbin des Pietismus, als Zeitgenossin der französischen Revolution liebes vermehrt. Sie haben auf Kosten der Wirklichkeit und ihres Gesetzes Als Erbin des Pietismus, als Zeitgenossin der französischen Revolution <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/186716"/> <p xml:id="ID_702" prev="#ID_701"> liebes vermehrt. Sie haben auf Kosten der Wirklichkeit und ihres Gesetzes<lb/> das Gemüthsleben in all seinen Nuancen verherrlicht und' ihm eine Kraft<lb/> und Wirksamkeit beigelegt, die ihm in der That nicht zukommt, Sie han¬<lb/> delten darin im Sinn und Charakter ihrer Zeit, Wenn Schiller ni der be¬<lb/> rühmten Abhandlung, die unsere Aesthetik durch sehr bedeutende Begriffs¬<lb/> bestimmungen bereichert, sie aber auch vielfach in die Irre geführt hat, die<lb/> gesammte moderne Poesie im Gegensatz zur antiken als sentimental bezeichnet,<lb/> so war das ein Irrthum, den man durch eine unvollkommene Kenntniß der<lb/> Thatsachen entschuldigen, den man aber heute nicht mehr nachsprechen darf.<lb/> Desto treffender ist jene Bezeichnung für die Poesie des 18. Jahrhunderts.<lb/> Sentimentale Perioden der Literatur d. h. Perioden, in welchen der Geist<lb/> der höhern Gefühls- und Verstanbcsbildung mit dem Gesetz der Wirklichkeit<lb/> zerfallen war, hat es zu allen Zeiten gegeben, aber sie traten sonst durchweg<lb/> erst dann in das Leben einer Nanon ein. wenn die poetische Kraft abgeschwächt<lb/> war. Das Eigenthümliche des 18. Iayrhunverts liegt darin, daß wenigstens<lb/> für Deutschland der Gegensatz zwischen der innern und äußern Welt im<lb/> Augenblick der höchsten poetischen Krnfianstrengung eintrat. Während sonst<lb/> bei alten Völkern die classische Poesie den reifsten Ausdruck der wirklichen<lb/> Volksbildung gibt, steht die classische Poesie der Deutschen zur wirklichen Volks¬<lb/> bildung in einer entschiedenen Opposition. Da ihr aber kein bestimmtes Ziel<lb/> vorschwebt, dein man folgerichtig zustreben könnte, so ist ihr Charakter zugleich<lb/> sentimental, schwermüthig, verstimmt, und es begegnet ihr fast überall, daß<lb/> sie die Schwäche feiert, wo sie die Kraft zu verherrlichen glaubt. Das gilt<lb/> von Werther, Götz, Faust, Tasso u. s. w. nicht minder, als von Karl Moor,<lb/> Fiesco und Marquis Posa. Der liefere Grund dieser seltsamen Erscheinung<lb/> liegt darin, daß der sittliche und ästhetische Geist des griechischen Alterthums<lb/> sich von der Theologie und dem politischen Mechanismus loszureißen strebte,<lb/> der seit zwei Jahrhunderten das nationale Leben erstickte.</p><lb/> <p xml:id="ID_703" next="#ID_704"> Als Erbin des Pietismus, als Zeitgenossin der französischen Revolution<lb/> eröffnete die deutsche Dichtung, im Gegensatz zur prosaischen Wirklichkeit, den<lb/> Schacht des Gemüths, und dn sie für die Fülle desselben keine reale Gestalt<lb/> vorfand, so legte sie Maskenbllder an, die bald der homerischen Welt, bald<lb/> dem Mittelalter, bald auch einem rein phantastischen Traumleben entnommen<lb/> waren. Der Zauber, den die mächtige Persönlichkeit unserer Dichter, nament¬<lb/> lich Goethes und Schillers, aus die unreife Masse ausübte, rief nicht blos<lb/> eine zahllose Menge von Nachahmern hervor, die gleich ihren Vorbildern<lb/> starke Veileitötcn mit schöpferischer Kraft verwechselten, sondern sie hat auch<lb/> in einer Periode, wo das Reich des bloßen Ideals nicht mehr genügen wollte,<lb/> höchst verwirrend auf das öffentliche Leben eingewirkt, da nun die Werther,<lb/> die Karl Moor, die Ardinghcllo. die Allwill, die Faust u. s. w. ansinge».</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0304]
liebes vermehrt. Sie haben auf Kosten der Wirklichkeit und ihres Gesetzes
das Gemüthsleben in all seinen Nuancen verherrlicht und' ihm eine Kraft
und Wirksamkeit beigelegt, die ihm in der That nicht zukommt, Sie han¬
delten darin im Sinn und Charakter ihrer Zeit, Wenn Schiller ni der be¬
rühmten Abhandlung, die unsere Aesthetik durch sehr bedeutende Begriffs¬
bestimmungen bereichert, sie aber auch vielfach in die Irre geführt hat, die
gesammte moderne Poesie im Gegensatz zur antiken als sentimental bezeichnet,
so war das ein Irrthum, den man durch eine unvollkommene Kenntniß der
Thatsachen entschuldigen, den man aber heute nicht mehr nachsprechen darf.
Desto treffender ist jene Bezeichnung für die Poesie des 18. Jahrhunderts.
Sentimentale Perioden der Literatur d. h. Perioden, in welchen der Geist
der höhern Gefühls- und Verstanbcsbildung mit dem Gesetz der Wirklichkeit
zerfallen war, hat es zu allen Zeiten gegeben, aber sie traten sonst durchweg
erst dann in das Leben einer Nanon ein. wenn die poetische Kraft abgeschwächt
war. Das Eigenthümliche des 18. Iayrhunverts liegt darin, daß wenigstens
für Deutschland der Gegensatz zwischen der innern und äußern Welt im
Augenblick der höchsten poetischen Krnfianstrengung eintrat. Während sonst
bei alten Völkern die classische Poesie den reifsten Ausdruck der wirklichen
Volksbildung gibt, steht die classische Poesie der Deutschen zur wirklichen Volks¬
bildung in einer entschiedenen Opposition. Da ihr aber kein bestimmtes Ziel
vorschwebt, dein man folgerichtig zustreben könnte, so ist ihr Charakter zugleich
sentimental, schwermüthig, verstimmt, und es begegnet ihr fast überall, daß
sie die Schwäche feiert, wo sie die Kraft zu verherrlichen glaubt. Das gilt
von Werther, Götz, Faust, Tasso u. s. w. nicht minder, als von Karl Moor,
Fiesco und Marquis Posa. Der liefere Grund dieser seltsamen Erscheinung
liegt darin, daß der sittliche und ästhetische Geist des griechischen Alterthums
sich von der Theologie und dem politischen Mechanismus loszureißen strebte,
der seit zwei Jahrhunderten das nationale Leben erstickte.
Als Erbin des Pietismus, als Zeitgenossin der französischen Revolution
eröffnete die deutsche Dichtung, im Gegensatz zur prosaischen Wirklichkeit, den
Schacht des Gemüths, und dn sie für die Fülle desselben keine reale Gestalt
vorfand, so legte sie Maskenbllder an, die bald der homerischen Welt, bald
dem Mittelalter, bald auch einem rein phantastischen Traumleben entnommen
waren. Der Zauber, den die mächtige Persönlichkeit unserer Dichter, nament¬
lich Goethes und Schillers, aus die unreife Masse ausübte, rief nicht blos
eine zahllose Menge von Nachahmern hervor, die gleich ihren Vorbildern
starke Veileitötcn mit schöpferischer Kraft verwechselten, sondern sie hat auch
in einer Periode, wo das Reich des bloßen Ideals nicht mehr genügen wollte,
höchst verwirrend auf das öffentliche Leben eingewirkt, da nun die Werther,
die Karl Moor, die Ardinghcllo. die Allwill, die Faust u. s. w. ansinge».
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