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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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ganz anderes Ziel vor Augen stellte, und in diesem Sinn ist es zu verstehen,
wenn Nadel (1810) sagt: "Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinahe zu¬
fälliger Moment in der Entwickelung des menschlichen Gemüths und gehört mit
zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an und wird zu lange angehalten.
Beides thut großen Schaden. Besonders ist es jetzt schon närrisch, da dieses
unbewußte Anhalten mit eigensinnigem leerem Bewußtsein "ollführl wird, und wo
Bewußtsein eintreten sollte, wirkliche bewußtlose Starrheit wie eine Krankheit zu
heilen vor uns steht." -- Die Abneigung gegen das Christenthum war ein wesent¬
liches Moment der damaligen Romantik, trotz ihrer spätern Bekehrung; Nadel
spricht sich noch ein anderes Mal über die Verkehrtheit aus, den religiösen Idealis¬
mus auf den Begriff der Sinne zu basiren.

Bei der Vorliebe für Fichte sollte man sich eigentlich über die immer wieder
hervortretende Abneigung gegen Schiller mindern, der doch im Princip mit Fichte
auf einem Boden steht. Charakteristisch ist es, was sie einmal über Schiller's
ideale Figuren sagt: "Thekla ist ganz und gar nur die tragische Guru, beide
ohne Knochen, Muskeln und Mark, ganz ohne menschliche Anatomie; so bewegen
sie sich auch, wo gar keine menschlichen Glieder sind, mir aber zum Erstaunen mit
dem Beifall des ganzen deutschen Publicums. Eben fällt mir aber nach langen
Jahren Wunderns ein, daß sich die Leute eben daran ergötzen, diese bei natür¬
licher Gliederung nicht hervorzubringenden Bewegungen zu sehen, und bei diesem
ihrer Moral schmeichelnden Schauspiele der gesunden menschlichen Organisation
vergessen." -- Aber ganz das Nämliche würde von Fichte's Moralphilosophie
gelten. In philosophischen Dingen war sie aber überhaupt toleranter, als in
poetischen. Sie sagt einmal, als sie aus Spinoza zu sprechen kommt: "Mir
kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe, wenn sie nicht seicht sind.
Sie machen sich andre Terminologien, und den Unterschied finde ich nur darin,
daß sich jeder bei einem andern Nichtwissen beruhigt, entweder aus einem solchen
seine Deductionen anfängt, oder sie dahin führt, oder, weniger streng, es mit
drunter laufen läßt." -- Darin hat sie vollkommen Recht, nur daß jenes Nicht¬
wissen auch der positiven Richtung des philosophischen Geistes einen bestimmten
Charakter giebt.

Mit Jean Paul, der in derselben Zeit bei den Berliner Damen der gefeierte
Liebling war, hat Nadel wenig zu thun gehabt; er war ihr zu weichlich. In
dem Briefwechsel findet sich ein auffallend verrückter Brief, in welchem er sie an¬
betet. Eben so zuwider war ihr die StaÄ, deren schnelle, hastige Cvmposttions-
gabe ihrem unendlich nach Ruhe lechzender Gemüth unerträglich wurde. Wir
wollen noch anführen, daß sie unter den früheren Schriftstellern in der Paradoxie
des Denkens und Empfindens Hamann am nächsten stehen dürste, und daß sie
selber auf Börne, den Zögling ihrer Freundin Henriette Herz, trotz seiner ab¬
weichenden Form einen sehr entschiedenen Einfluß ausgeübt hat.


ganz anderes Ziel vor Augen stellte, und in diesem Sinn ist es zu verstehen,
wenn Nadel (1810) sagt: „Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinahe zu¬
fälliger Moment in der Entwickelung des menschlichen Gemüths und gehört mit
zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an und wird zu lange angehalten.
Beides thut großen Schaden. Besonders ist es jetzt schon närrisch, da dieses
unbewußte Anhalten mit eigensinnigem leerem Bewußtsein «ollführl wird, und wo
Bewußtsein eintreten sollte, wirkliche bewußtlose Starrheit wie eine Krankheit zu
heilen vor uns steht." — Die Abneigung gegen das Christenthum war ein wesent¬
liches Moment der damaligen Romantik, trotz ihrer spätern Bekehrung; Nadel
spricht sich noch ein anderes Mal über die Verkehrtheit aus, den religiösen Idealis¬
mus auf den Begriff der Sinne zu basiren.

Bei der Vorliebe für Fichte sollte man sich eigentlich über die immer wieder
hervortretende Abneigung gegen Schiller mindern, der doch im Princip mit Fichte
auf einem Boden steht. Charakteristisch ist es, was sie einmal über Schiller's
ideale Figuren sagt: „Thekla ist ganz und gar nur die tragische Guru, beide
ohne Knochen, Muskeln und Mark, ganz ohne menschliche Anatomie; so bewegen
sie sich auch, wo gar keine menschlichen Glieder sind, mir aber zum Erstaunen mit
dem Beifall des ganzen deutschen Publicums. Eben fällt mir aber nach langen
Jahren Wunderns ein, daß sich die Leute eben daran ergötzen, diese bei natür¬
licher Gliederung nicht hervorzubringenden Bewegungen zu sehen, und bei diesem
ihrer Moral schmeichelnden Schauspiele der gesunden menschlichen Organisation
vergessen." — Aber ganz das Nämliche würde von Fichte's Moralphilosophie
gelten. In philosophischen Dingen war sie aber überhaupt toleranter, als in
poetischen. Sie sagt einmal, als sie aus Spinoza zu sprechen kommt: „Mir
kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe, wenn sie nicht seicht sind.
Sie machen sich andre Terminologien, und den Unterschied finde ich nur darin,
daß sich jeder bei einem andern Nichtwissen beruhigt, entweder aus einem solchen
seine Deductionen anfängt, oder sie dahin führt, oder, weniger streng, es mit
drunter laufen läßt." — Darin hat sie vollkommen Recht, nur daß jenes Nicht¬
wissen auch der positiven Richtung des philosophischen Geistes einen bestimmten
Charakter giebt.

Mit Jean Paul, der in derselben Zeit bei den Berliner Damen der gefeierte
Liebling war, hat Nadel wenig zu thun gehabt; er war ihr zu weichlich. In
dem Briefwechsel findet sich ein auffallend verrückter Brief, in welchem er sie an¬
betet. Eben so zuwider war ihr die StaÄ, deren schnelle, hastige Cvmposttions-
gabe ihrem unendlich nach Ruhe lechzender Gemüth unerträglich wurde. Wir
wollen noch anführen, daß sie unter den früheren Schriftstellern in der Paradoxie
des Denkens und Empfindens Hamann am nächsten stehen dürste, und daß sie
selber auf Börne, den Zögling ihrer Freundin Henriette Herz, trotz seiner ab¬
weichenden Form einen sehr entschiedenen Einfluß ausgeübt hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/60>, abgerufen am 27.09.2024.