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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Nation kann mir dadurch erstarken, daß sie sich jener Abgötterei entreißt -- so
viel bleibt auf der andern Seite ausgemacht, daß Goethe's Dichtung das Voll¬
endetste war, was die deutsche Nation hervorgebracht hat, und daß wir sie um
so wärmer lieben mußten, je stärker insgeheim das Gefühl in uns wurde, daß
diese Schönheit hektischer Natur war.

Die Schönheit, so wie die Krankhaftigkeit dex Goethe'schen Dichtung läßt
sich vielleicht am deutlichsten in seiner Grundtendenz zusammenfassen, aus dem
individuellen Leben ein Kunstmerk zu machen und alle Kraft seines
Geistes auf die Verklärung des individuellen Lebens zu wenden.
Unter der Herrschaft einer Philosophie, die das individuelle Leben harten, ver¬
knöcherten Begriffen aufopfern wollte, mußte diese Reaction der Individualität
als ein Werk der Befreiung von der Nation mit Jnbel begrüßt werdeu, und
namentlich von den Frauen, deren innerste Natur sich in der Idee der "schönen
Seele" verklärte. Aber jetzt sind wir von jener Philosophie befreit, und wir
müssen nunmehr begreifen, daß jene Verherrlichung des individuellen Lebens nichts
ist, als der feinste Epikuräismus, der die Kraft alles allgemeinen Lebens unter¬
gräbt. So lauge gerade bei den besten und vollkommensten Geistern der Nation
noch jene Goethischen Bilder herrschen, noch jene einseitige Sehnsucht schön zu
leben und höchstens durch Resignation sich mit der Tragik der Verhältnisse abzu¬
finden, so lauge bleibt Deutschland eine unproductive Nation, die keiner Elasticität,
keines historischen Aufschwungs fähig ist.

Die halleschen Jahrbücher brachten bei Gelegenheit der von Schlesier gesam¬
melten Gentz'schen Schriften einen sehr lesenswerthen Artikel: " Gentz und das
Princip der Genußsucht." Der Artikel war von Ludwig Rellstab. Er hob gerade
in dem Briefwechsel mit Nadel sehr scharfsinnig die Stellen hervor, in denen es
sich zeigte, wie dieser verfeinerte Pietismus, diese geistreich liebenswürdige Schön-
leligkeit, die aus dem Leben ein Kunstwerk, also ein Spiel, ein isolirtes Traum¬
dasein machen wollte, in ernsten Verhältnissen zum Abscheulichsten sichren könnte.
Denn wo man jede Natur mit ihrem eigenen Maßstab mißt, wird der edle Zorn
der Gerechtigkeit abgeschwächt; man findet auch in dem fein gebildeten Schlemmer,
der selbst in seinen Ausschweifungen nicht gemein und trivial wird, eine innere
Harmonie und vergißt daran zu denken, daß die Weltbegebenheiten, die er in
den Kreis seines schönen Lebens zieht, ein ganz anderes Ansetzn gewinnen, wenn
man sie im ernsten Licht der.Wirklichkeit betrachtet. Eine Frau von so edler
Gemnthsanlage und so Hellem klarem Verstände wie Rahel konnte diesen
Menschen, nachdem er für schnödes Gold seine Principien verrathen und sich der
rohesten Tyrannei verkauft hatte, noch mit voller Seele lieben und verehren, nicht
mit jener exceptionellen, - instinctartigen Liebe, die blind ist, sondern mit jener
ästhetischen Befriedigung, die das Ganze eines individuellen Lebens gelten läßt,
weil es ein Ganzes ist. Eine solche Verirrung des NechtSgesnhls bei einer edlen


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Nation kann mir dadurch erstarken, daß sie sich jener Abgötterei entreißt — so
viel bleibt auf der andern Seite ausgemacht, daß Goethe's Dichtung das Voll¬
endetste war, was die deutsche Nation hervorgebracht hat, und daß wir sie um
so wärmer lieben mußten, je stärker insgeheim das Gefühl in uns wurde, daß
diese Schönheit hektischer Natur war.

Die Schönheit, so wie die Krankhaftigkeit dex Goethe'schen Dichtung läßt
sich vielleicht am deutlichsten in seiner Grundtendenz zusammenfassen, aus dem
individuellen Leben ein Kunstmerk zu machen und alle Kraft seines
Geistes auf die Verklärung des individuellen Lebens zu wenden.
Unter der Herrschaft einer Philosophie, die das individuelle Leben harten, ver¬
knöcherten Begriffen aufopfern wollte, mußte diese Reaction der Individualität
als ein Werk der Befreiung von der Nation mit Jnbel begrüßt werdeu, und
namentlich von den Frauen, deren innerste Natur sich in der Idee der „schönen
Seele" verklärte. Aber jetzt sind wir von jener Philosophie befreit, und wir
müssen nunmehr begreifen, daß jene Verherrlichung des individuellen Lebens nichts
ist, als der feinste Epikuräismus, der die Kraft alles allgemeinen Lebens unter¬
gräbt. So lauge gerade bei den besten und vollkommensten Geistern der Nation
noch jene Goethischen Bilder herrschen, noch jene einseitige Sehnsucht schön zu
leben und höchstens durch Resignation sich mit der Tragik der Verhältnisse abzu¬
finden, so lauge bleibt Deutschland eine unproductive Nation, die keiner Elasticität,
keines historischen Aufschwungs fähig ist.

Die halleschen Jahrbücher brachten bei Gelegenheit der von Schlesier gesam¬
melten Gentz'schen Schriften einen sehr lesenswerthen Artikel: „ Gentz und das
Princip der Genußsucht." Der Artikel war von Ludwig Rellstab. Er hob gerade
in dem Briefwechsel mit Nadel sehr scharfsinnig die Stellen hervor, in denen es
sich zeigte, wie dieser verfeinerte Pietismus, diese geistreich liebenswürdige Schön-
leligkeit, die aus dem Leben ein Kunstwerk, also ein Spiel, ein isolirtes Traum¬
dasein machen wollte, in ernsten Verhältnissen zum Abscheulichsten sichren könnte.
Denn wo man jede Natur mit ihrem eigenen Maßstab mißt, wird der edle Zorn
der Gerechtigkeit abgeschwächt; man findet auch in dem fein gebildeten Schlemmer,
der selbst in seinen Ausschweifungen nicht gemein und trivial wird, eine innere
Harmonie und vergißt daran zu denken, daß die Weltbegebenheiten, die er in
den Kreis seines schönen Lebens zieht, ein ganz anderes Ansetzn gewinnen, wenn
man sie im ernsten Licht der.Wirklichkeit betrachtet. Eine Frau von so edler
Gemnthsanlage und so Hellem klarem Verstände wie Rahel konnte diesen
Menschen, nachdem er für schnödes Gold seine Principien verrathen und sich der
rohesten Tyrannei verkauft hatte, noch mit voller Seele lieben und verehren, nicht
mit jener exceptionellen, - instinctartigen Liebe, die blind ist, sondern mit jener
ästhetischen Befriedigung, die das Ganze eines individuellen Lebens gelten läßt,
weil es ein Ganzes ist. Eine solche Verirrung des NechtSgesnhls bei einer edlen


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[0053] Nation kann mir dadurch erstarken, daß sie sich jener Abgötterei entreißt — so viel bleibt auf der andern Seite ausgemacht, daß Goethe's Dichtung das Voll¬ endetste war, was die deutsche Nation hervorgebracht hat, und daß wir sie um so wärmer lieben mußten, je stärker insgeheim das Gefühl in uns wurde, daß diese Schönheit hektischer Natur war. Die Schönheit, so wie die Krankhaftigkeit dex Goethe'schen Dichtung läßt sich vielleicht am deutlichsten in seiner Grundtendenz zusammenfassen, aus dem individuellen Leben ein Kunstmerk zu machen und alle Kraft seines Geistes auf die Verklärung des individuellen Lebens zu wenden. Unter der Herrschaft einer Philosophie, die das individuelle Leben harten, ver¬ knöcherten Begriffen aufopfern wollte, mußte diese Reaction der Individualität als ein Werk der Befreiung von der Nation mit Jnbel begrüßt werdeu, und namentlich von den Frauen, deren innerste Natur sich in der Idee der „schönen Seele" verklärte. Aber jetzt sind wir von jener Philosophie befreit, und wir müssen nunmehr begreifen, daß jene Verherrlichung des individuellen Lebens nichts ist, als der feinste Epikuräismus, der die Kraft alles allgemeinen Lebens unter¬ gräbt. So lauge gerade bei den besten und vollkommensten Geistern der Nation noch jene Goethischen Bilder herrschen, noch jene einseitige Sehnsucht schön zu leben und höchstens durch Resignation sich mit der Tragik der Verhältnisse abzu¬ finden, so lauge bleibt Deutschland eine unproductive Nation, die keiner Elasticität, keines historischen Aufschwungs fähig ist. Die halleschen Jahrbücher brachten bei Gelegenheit der von Schlesier gesam¬ melten Gentz'schen Schriften einen sehr lesenswerthen Artikel: „ Gentz und das Princip der Genußsucht." Der Artikel war von Ludwig Rellstab. Er hob gerade in dem Briefwechsel mit Nadel sehr scharfsinnig die Stellen hervor, in denen es sich zeigte, wie dieser verfeinerte Pietismus, diese geistreich liebenswürdige Schön- leligkeit, die aus dem Leben ein Kunstwerk, also ein Spiel, ein isolirtes Traum¬ dasein machen wollte, in ernsten Verhältnissen zum Abscheulichsten sichren könnte. Denn wo man jede Natur mit ihrem eigenen Maßstab mißt, wird der edle Zorn der Gerechtigkeit abgeschwächt; man findet auch in dem fein gebildeten Schlemmer, der selbst in seinen Ausschweifungen nicht gemein und trivial wird, eine innere Harmonie und vergißt daran zu denken, daß die Weltbegebenheiten, die er in den Kreis seines schönen Lebens zieht, ein ganz anderes Ansetzn gewinnen, wenn man sie im ernsten Licht der.Wirklichkeit betrachtet. Eine Frau von so edler Gemnthsanlage und so Hellem klarem Verstände wie Rahel konnte diesen Menschen, nachdem er für schnödes Gold seine Principien verrathen und sich der rohesten Tyrannei verkauft hatte, noch mit voller Seele lieben und verehren, nicht mit jener exceptionellen, - instinctartigen Liebe, die blind ist, sondern mit jener ästhetischen Befriedigung, die das Ganze eines individuellen Lebens gelten läßt, weil es ein Ganzes ist. Eine solche Verirrung des NechtSgesnhls bei einer edlen 6*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/53>, abgerufen am 27.09.2024.