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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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und Vasen reich, als an Sculpturen. So liegt das ganze geistige Leben des
einzigen Mannes offen vor uns, und die Nation, der wir diese Anschauung ver¬
danken (mögen wir Deutsche auch sonst wenig Grund haben, sie zu lieben), hat
einen unvergänglichen Anspruch auf die Dankbarkeit der Gebildeten aller Länder.

Ich will versuchen, eine kurze Uebersicht über den wesentlichen Inhalt des
Museums zu geben. Es ist oft gesagt worden, daß Thorvaldsen in der Plastik
die Antike reproducirt habe. Dies ist sehr wahr, wenn man es nur richtig ver¬
steht. Die alte Plastik, die mit Recht die Darstellung der menschlichen Gestalt
als ihre Aufgabe betrachtete, hat durch sie die allgemein menschlichen und deshalb
ewig wahren und zu allen Zeiten verständlichen Erscheinungen des Lebens dar¬
gestellt, immer streng auf das Wesen, auf den geistigen Inhalt der Dinge gerichtet
und bemüht, diesen so rein als möglich von allem Zufälligen und Nebensächlichen
entkleidet zum Ausdruck kommen zu lassen. Dieser strenge Idealismus giebt ihren
Werken sür uns, die wir durch die neuere Kunst vielmehr realistisch gewöhnt oder
verwöhnt sind, etwas Kaltes und Fremdes; überdies fehlt es nicht an nationalen
Verschiedenheiten zwischen uns und den Griechen in Auffassung und Behandlung
der Formen und Geberden, und so bedarf es heutzutage einer mehr oder minder
großen Abstraction, um die Schönheit zu erkennen, die nach Winckelmann's un¬
vergleichlichen Ausdruck in den Werken der Alten versteckt liegt. Bedurfte doch
selbst Thorvaldsen der Unterstützung seines trefflichen Landsmanns Zoega zum
Verständniß der Antike: Zoega half ihm "den nordischen Schnee schmelzen," der
seine Augenlider noch bedeckte, als er nach Italien kam. Wenn nun der Künstler,
der die Antike nachschaffen will, sich mit dem äußerlichen Wiedergeben ihrer Formen
begnügt, sei es in der Poesie oder in den bildenden Künsten, so entstehen zwit¬
terhafte Geschöpfe ohne Lebensfähigkeit, die kein wahres Interesse erregen können.
Die Formen der antiken Kunst sind keineswegs unvergänglicher Natur, vielmehr
das Product einer bestimmten Zeit und Nation; aber ihr Geist ist unvergänglich,
denn es ist der Geist der Schönheit und Wahrheit von den Schlacken der Wirk¬
lichkeit gereinigt; und wenn der Künstler für seine Zeit der Dolmetscher dieses
Geistes, der Vermittler zwischen antiker und moderner Bildung werden will, so
muß er ihn in Formen erscheinen lassen, die seiner Zeit verständlich und vertraut
sind. Dies hat Goethe in der Poesie, hat Thorvaldsen in der Plastik gethan:
und wie der größte wissenschaftliche Kenner der griechischen Dichtung, Gottfried
Herrmann, in Goethe den begrüßte, der Deutschland den zarten Hauch der griechi¬
schen Kanone verstehen gelehrt, so hätte Winckelmann in Thorvaldsen den begrüßen
dürfen, der die Gestalten des Skopas und Praxiteles aus zweitausendjährigen
Schlimmer in'S Leben beschwor. Goethe's Elegien und Iphigenien werden mehr
zum Verständniß der alten Poesie beitragen, als viele gelehrte Commentare,
Thorvaldsen's Alexanderzug, Liebesgötter, Nacht und Morgen mehr Empfäng¬
lichkeit für alte Kunst verbreiten, als unzählige Abhandlungen der Epigonen


und Vasen reich, als an Sculpturen. So liegt das ganze geistige Leben des
einzigen Mannes offen vor uns, und die Nation, der wir diese Anschauung ver¬
danken (mögen wir Deutsche auch sonst wenig Grund haben, sie zu lieben), hat
einen unvergänglichen Anspruch auf die Dankbarkeit der Gebildeten aller Länder.

Ich will versuchen, eine kurze Uebersicht über den wesentlichen Inhalt des
Museums zu geben. Es ist oft gesagt worden, daß Thorvaldsen in der Plastik
die Antike reproducirt habe. Dies ist sehr wahr, wenn man es nur richtig ver¬
steht. Die alte Plastik, die mit Recht die Darstellung der menschlichen Gestalt
als ihre Aufgabe betrachtete, hat durch sie die allgemein menschlichen und deshalb
ewig wahren und zu allen Zeiten verständlichen Erscheinungen des Lebens dar¬
gestellt, immer streng auf das Wesen, auf den geistigen Inhalt der Dinge gerichtet
und bemüht, diesen so rein als möglich von allem Zufälligen und Nebensächlichen
entkleidet zum Ausdruck kommen zu lassen. Dieser strenge Idealismus giebt ihren
Werken sür uns, die wir durch die neuere Kunst vielmehr realistisch gewöhnt oder
verwöhnt sind, etwas Kaltes und Fremdes; überdies fehlt es nicht an nationalen
Verschiedenheiten zwischen uns und den Griechen in Auffassung und Behandlung
der Formen und Geberden, und so bedarf es heutzutage einer mehr oder minder
großen Abstraction, um die Schönheit zu erkennen, die nach Winckelmann's un¬
vergleichlichen Ausdruck in den Werken der Alten versteckt liegt. Bedurfte doch
selbst Thorvaldsen der Unterstützung seines trefflichen Landsmanns Zoega zum
Verständniß der Antike: Zoega half ihm „den nordischen Schnee schmelzen," der
seine Augenlider noch bedeckte, als er nach Italien kam. Wenn nun der Künstler,
der die Antike nachschaffen will, sich mit dem äußerlichen Wiedergeben ihrer Formen
begnügt, sei es in der Poesie oder in den bildenden Künsten, so entstehen zwit¬
terhafte Geschöpfe ohne Lebensfähigkeit, die kein wahres Interesse erregen können.
Die Formen der antiken Kunst sind keineswegs unvergänglicher Natur, vielmehr
das Product einer bestimmten Zeit und Nation; aber ihr Geist ist unvergänglich,
denn es ist der Geist der Schönheit und Wahrheit von den Schlacken der Wirk¬
lichkeit gereinigt; und wenn der Künstler für seine Zeit der Dolmetscher dieses
Geistes, der Vermittler zwischen antiker und moderner Bildung werden will, so
muß er ihn in Formen erscheinen lassen, die seiner Zeit verständlich und vertraut
sind. Dies hat Goethe in der Poesie, hat Thorvaldsen in der Plastik gethan:
und wie der größte wissenschaftliche Kenner der griechischen Dichtung, Gottfried
Herrmann, in Goethe den begrüßte, der Deutschland den zarten Hauch der griechi¬
schen Kanone verstehen gelehrt, so hätte Winckelmann in Thorvaldsen den begrüßen
dürfen, der die Gestalten des Skopas und Praxiteles aus zweitausendjährigen
Schlimmer in'S Leben beschwor. Goethe's Elegien und Iphigenien werden mehr
zum Verständniß der alten Poesie beitragen, als viele gelehrte Commentare,
Thorvaldsen's Alexanderzug, Liebesgötter, Nacht und Morgen mehr Empfäng¬
lichkeit für alte Kunst verbreiten, als unzählige Abhandlungen der Epigonen


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[0505] und Vasen reich, als an Sculpturen. So liegt das ganze geistige Leben des einzigen Mannes offen vor uns, und die Nation, der wir diese Anschauung ver¬ danken (mögen wir Deutsche auch sonst wenig Grund haben, sie zu lieben), hat einen unvergänglichen Anspruch auf die Dankbarkeit der Gebildeten aller Länder. Ich will versuchen, eine kurze Uebersicht über den wesentlichen Inhalt des Museums zu geben. Es ist oft gesagt worden, daß Thorvaldsen in der Plastik die Antike reproducirt habe. Dies ist sehr wahr, wenn man es nur richtig ver¬ steht. Die alte Plastik, die mit Recht die Darstellung der menschlichen Gestalt als ihre Aufgabe betrachtete, hat durch sie die allgemein menschlichen und deshalb ewig wahren und zu allen Zeiten verständlichen Erscheinungen des Lebens dar¬ gestellt, immer streng auf das Wesen, auf den geistigen Inhalt der Dinge gerichtet und bemüht, diesen so rein als möglich von allem Zufälligen und Nebensächlichen entkleidet zum Ausdruck kommen zu lassen. Dieser strenge Idealismus giebt ihren Werken sür uns, die wir durch die neuere Kunst vielmehr realistisch gewöhnt oder verwöhnt sind, etwas Kaltes und Fremdes; überdies fehlt es nicht an nationalen Verschiedenheiten zwischen uns und den Griechen in Auffassung und Behandlung der Formen und Geberden, und so bedarf es heutzutage einer mehr oder minder großen Abstraction, um die Schönheit zu erkennen, die nach Winckelmann's un¬ vergleichlichen Ausdruck in den Werken der Alten versteckt liegt. Bedurfte doch selbst Thorvaldsen der Unterstützung seines trefflichen Landsmanns Zoega zum Verständniß der Antike: Zoega half ihm „den nordischen Schnee schmelzen," der seine Augenlider noch bedeckte, als er nach Italien kam. Wenn nun der Künstler, der die Antike nachschaffen will, sich mit dem äußerlichen Wiedergeben ihrer Formen begnügt, sei es in der Poesie oder in den bildenden Künsten, so entstehen zwit¬ terhafte Geschöpfe ohne Lebensfähigkeit, die kein wahres Interesse erregen können. Die Formen der antiken Kunst sind keineswegs unvergänglicher Natur, vielmehr das Product einer bestimmten Zeit und Nation; aber ihr Geist ist unvergänglich, denn es ist der Geist der Schönheit und Wahrheit von den Schlacken der Wirk¬ lichkeit gereinigt; und wenn der Künstler für seine Zeit der Dolmetscher dieses Geistes, der Vermittler zwischen antiker und moderner Bildung werden will, so muß er ihn in Formen erscheinen lassen, die seiner Zeit verständlich und vertraut sind. Dies hat Goethe in der Poesie, hat Thorvaldsen in der Plastik gethan: und wie der größte wissenschaftliche Kenner der griechischen Dichtung, Gottfried Herrmann, in Goethe den begrüßte, der Deutschland den zarten Hauch der griechi¬ schen Kanone verstehen gelehrt, so hätte Winckelmann in Thorvaldsen den begrüßen dürfen, der die Gestalten des Skopas und Praxiteles aus zweitausendjährigen Schlimmer in'S Leben beschwor. Goethe's Elegien und Iphigenien werden mehr zum Verständniß der alten Poesie beitragen, als viele gelehrte Commentare, Thorvaldsen's Alexanderzug, Liebesgötter, Nacht und Morgen mehr Empfäng¬ lichkeit für alte Kunst verbreiten, als unzählige Abhandlungen der Epigonen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/505>, abgerufen am 27.09.2024.