Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

reich. Dort fand er mittlerweile die ihm angebotene Stelle aufgehoben, und sollte
warten, bis die neue ihm versprochene frei würde. Unterdeß wurde er in den
Kreis der Frau v. Stael gezogen und lebte bei ihr und ihren Freunden bis
zum Sommer des Jahres 18-12, in der ersten Zeit mit Studien über ältere
französische Literatur und mit einer Uebersetzung der Vorlesungen von Schlegel
beschäftigt, später, als die Feindin Napoleon's von dem Zorn des Mächtigen nach
der Schweiz gedrängt worden war, und dort allein, gebeugt, fast verzweifelnd,
von den meisten ihrer Freunde verlassen und verrathen hauste,, da hielt der treue
Chamisso es für unrecht, die Unglückliche zu verlassen, der es unerträglich war,
ohne Anregung, Anerkennung, und ohne'Seelen zu sein, welche vou ihr abhingen.
Diese Zeit seines Lebens hat Chamisso selbst immer für sehr interessant gehalten.
Er bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den Persönlichkeiten, mit denen er
zusammen lebte. Vortrefflich und höchst ergötzlich sind seine Schilderungen dieser
Menschen. August Wilhelm v. Schlegel, als artiger, eitler, eifersüchtiger Egoist, ganz
in dem Cliquenwesen seiner Schule besangen, ein Tyrann für die kleinen Gefühls¬
capricen seiner Freundin, die StaÄ selbst ein imponirender Geist, unsrem Cha¬
misso vielfach überlegen, edel und ehrlich in ihrem Empfinden, aber oft wunder¬
lich in ihrer Erscheinung, kleiner Emotionen und vieler Anerkennung bedürftig,
und um sie herum ein Kreis von sehr verschiedenen Persönlichkeiten, die alle
durch eine wunderliche Hausordnung zusammengehalten werden, im Stillen gegen
einander intriguiren, in dem Conversationszimmer sich nur schriftlich unterhalten
durch kleine Zettel, welche Eins dem Andern zusteckt, und alle mündlichen Er¬
klärungen und Explications, deren es sehr viele gab, in einer Allee des Gartens
abmachen müssen. Diese geistreiche Kolonie zieht von Schloß zu Schloß, immer
von Napoleon oder durch andere rohe Wirklichkeiten verjagt. So -haben sie sich
auf dem Schlosse Chaumont mit zweifelhafter Berechtigung einquartiert, und
auf einmal kommt der Eigenthümer, der nach der Meinung der StaÄ Fußbäder
im Mississippi nimmt, aus Nordamerika zurück, pocht an die Thür seines Schlosses,
und will mit Bonne, Kindern und großem Train einziehen. Die StaÄ bittet
ihn zu Tische. Er zieht wieder ab und läßt den Ansiedlern drei Tage Zeit, nach
einem andern Schlosse zu wandern. Die drollige Laune Chamisso's und seine
unendliche Gutherzigkeit waren in diesem Kreise sehr angebracht, sowol um ihn
zu schildern, als in ihm auszudauern.

Endlich im Jahre -18-12, in der Schweiz, fängt Chamisso an Pflanzen zu
sammeln, legt sich ein Herbarium an, und wirft sich mit allem Eifer ans das Studium
der Naturwissenschaften. Er geht nach Berlin zurück, läßt sich als Student bei
der medicinischen Facultät einschreiben, secirt in der Anatomie, und fühlt sich selig,
endlich einen Beruf gefunden zu haben und mit einigen seiner Jugendfreunde
leben zu können. Die großen Kämpfe der nächsten Jahre verfolgt er mit warmem
Interesse, nicht ohne manchen geheimen Schmerz, denn noch kämpften in ihm die


reich. Dort fand er mittlerweile die ihm angebotene Stelle aufgehoben, und sollte
warten, bis die neue ihm versprochene frei würde. Unterdeß wurde er in den
Kreis der Frau v. Stael gezogen und lebte bei ihr und ihren Freunden bis
zum Sommer des Jahres 18-12, in der ersten Zeit mit Studien über ältere
französische Literatur und mit einer Uebersetzung der Vorlesungen von Schlegel
beschäftigt, später, als die Feindin Napoleon's von dem Zorn des Mächtigen nach
der Schweiz gedrängt worden war, und dort allein, gebeugt, fast verzweifelnd,
von den meisten ihrer Freunde verlassen und verrathen hauste,, da hielt der treue
Chamisso es für unrecht, die Unglückliche zu verlassen, der es unerträglich war,
ohne Anregung, Anerkennung, und ohne'Seelen zu sein, welche vou ihr abhingen.
Diese Zeit seines Lebens hat Chamisso selbst immer für sehr interessant gehalten.
Er bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den Persönlichkeiten, mit denen er
zusammen lebte. Vortrefflich und höchst ergötzlich sind seine Schilderungen dieser
Menschen. August Wilhelm v. Schlegel, als artiger, eitler, eifersüchtiger Egoist, ganz
in dem Cliquenwesen seiner Schule besangen, ein Tyrann für die kleinen Gefühls¬
capricen seiner Freundin, die StaÄ selbst ein imponirender Geist, unsrem Cha¬
misso vielfach überlegen, edel und ehrlich in ihrem Empfinden, aber oft wunder¬
lich in ihrer Erscheinung, kleiner Emotionen und vieler Anerkennung bedürftig,
und um sie herum ein Kreis von sehr verschiedenen Persönlichkeiten, die alle
durch eine wunderliche Hausordnung zusammengehalten werden, im Stillen gegen
einander intriguiren, in dem Conversationszimmer sich nur schriftlich unterhalten
durch kleine Zettel, welche Eins dem Andern zusteckt, und alle mündlichen Er¬
klärungen und Explications, deren es sehr viele gab, in einer Allee des Gartens
abmachen müssen. Diese geistreiche Kolonie zieht von Schloß zu Schloß, immer
von Napoleon oder durch andere rohe Wirklichkeiten verjagt. So -haben sie sich
auf dem Schlosse Chaumont mit zweifelhafter Berechtigung einquartiert, und
auf einmal kommt der Eigenthümer, der nach der Meinung der StaÄ Fußbäder
im Mississippi nimmt, aus Nordamerika zurück, pocht an die Thür seines Schlosses,
und will mit Bonne, Kindern und großem Train einziehen. Die StaÄ bittet
ihn zu Tische. Er zieht wieder ab und läßt den Ansiedlern drei Tage Zeit, nach
einem andern Schlosse zu wandern. Die drollige Laune Chamisso's und seine
unendliche Gutherzigkeit waren in diesem Kreise sehr angebracht, sowol um ihn
zu schildern, als in ihm auszudauern.

Endlich im Jahre -18-12, in der Schweiz, fängt Chamisso an Pflanzen zu
sammeln, legt sich ein Herbarium an, und wirft sich mit allem Eifer ans das Studium
der Naturwissenschaften. Er geht nach Berlin zurück, läßt sich als Student bei
der medicinischen Facultät einschreiben, secirt in der Anatomie, und fühlt sich selig,
endlich einen Beruf gefunden zu haben und mit einigen seiner Jugendfreunde
leben zu können. Die großen Kämpfe der nächsten Jahre verfolgt er mit warmem
Interesse, nicht ohne manchen geheimen Schmerz, denn noch kämpften in ihm die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0319" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/95300"/>
          <p xml:id="ID_920" prev="#ID_919"> reich. Dort fand er mittlerweile die ihm angebotene Stelle aufgehoben, und sollte<lb/>
warten, bis die neue ihm versprochene frei würde. Unterdeß wurde er in den<lb/>
Kreis der Frau v. Stael gezogen und lebte bei ihr und ihren Freunden bis<lb/>
zum Sommer des Jahres 18-12, in der ersten Zeit mit Studien über ältere<lb/>
französische Literatur und mit einer Uebersetzung der Vorlesungen von Schlegel<lb/>
beschäftigt, später, als die Feindin Napoleon's von dem Zorn des Mächtigen nach<lb/>
der Schweiz gedrängt worden war, und dort allein, gebeugt, fast verzweifelnd,<lb/>
von den meisten ihrer Freunde verlassen und verrathen hauste,, da hielt der treue<lb/>
Chamisso es für unrecht, die Unglückliche zu verlassen, der es unerträglich war,<lb/>
ohne Anregung, Anerkennung, und ohne'Seelen zu sein, welche vou ihr abhingen.<lb/>
Diese Zeit seines Lebens hat Chamisso selbst immer für sehr interessant gehalten.<lb/>
Er bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den Persönlichkeiten, mit denen er<lb/>
zusammen lebte. Vortrefflich und höchst ergötzlich sind seine Schilderungen dieser<lb/>
Menschen. August Wilhelm v. Schlegel, als artiger, eitler, eifersüchtiger Egoist, ganz<lb/>
in dem Cliquenwesen seiner Schule besangen, ein Tyrann für die kleinen Gefühls¬<lb/>
capricen seiner Freundin, die StaÄ selbst ein imponirender Geist, unsrem Cha¬<lb/>
misso vielfach überlegen, edel und ehrlich in ihrem Empfinden, aber oft wunder¬<lb/>
lich in ihrer Erscheinung, kleiner Emotionen und vieler Anerkennung bedürftig,<lb/>
und um sie herum ein Kreis von sehr verschiedenen Persönlichkeiten, die alle<lb/>
durch eine wunderliche Hausordnung zusammengehalten werden, im Stillen gegen<lb/>
einander intriguiren, in dem Conversationszimmer sich nur schriftlich unterhalten<lb/>
durch kleine Zettel, welche Eins dem Andern zusteckt, und alle mündlichen Er¬<lb/>
klärungen und Explications, deren es sehr viele gab, in einer Allee des Gartens<lb/>
abmachen müssen. Diese geistreiche Kolonie zieht von Schloß zu Schloß, immer<lb/>
von Napoleon oder durch andere rohe Wirklichkeiten verjagt. So -haben sie sich<lb/>
auf dem Schlosse Chaumont mit zweifelhafter Berechtigung einquartiert, und<lb/>
auf einmal kommt der Eigenthümer, der nach der Meinung der StaÄ Fußbäder<lb/>
im Mississippi nimmt, aus Nordamerika zurück, pocht an die Thür seines Schlosses,<lb/>
und will mit Bonne, Kindern und großem Train einziehen. Die StaÄ bittet<lb/>
ihn zu Tische. Er zieht wieder ab und läßt den Ansiedlern drei Tage Zeit, nach<lb/>
einem andern Schlosse zu wandern. Die drollige Laune Chamisso's und seine<lb/>
unendliche Gutherzigkeit waren in diesem Kreise sehr angebracht, sowol um ihn<lb/>
zu schildern, als in ihm auszudauern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_921" next="#ID_922"> Endlich im Jahre -18-12, in der Schweiz, fängt Chamisso an Pflanzen zu<lb/>
sammeln, legt sich ein Herbarium an, und wirft sich mit allem Eifer ans das Studium<lb/>
der Naturwissenschaften. Er geht nach Berlin zurück, läßt sich als Student bei<lb/>
der medicinischen Facultät einschreiben, secirt in der Anatomie, und fühlt sich selig,<lb/>
endlich einen Beruf gefunden zu haben und mit einigen seiner Jugendfreunde<lb/>
leben zu können. Die großen Kämpfe der nächsten Jahre verfolgt er mit warmem<lb/>
Interesse, nicht ohne manchen geheimen Schmerz, denn noch kämpften in ihm die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0319] reich. Dort fand er mittlerweile die ihm angebotene Stelle aufgehoben, und sollte warten, bis die neue ihm versprochene frei würde. Unterdeß wurde er in den Kreis der Frau v. Stael gezogen und lebte bei ihr und ihren Freunden bis zum Sommer des Jahres 18-12, in der ersten Zeit mit Studien über ältere französische Literatur und mit einer Uebersetzung der Vorlesungen von Schlegel beschäftigt, später, als die Feindin Napoleon's von dem Zorn des Mächtigen nach der Schweiz gedrängt worden war, und dort allein, gebeugt, fast verzweifelnd, von den meisten ihrer Freunde verlassen und verrathen hauste,, da hielt der treue Chamisso es für unrecht, die Unglückliche zu verlassen, der es unerträglich war, ohne Anregung, Anerkennung, und ohne'Seelen zu sein, welche vou ihr abhingen. Diese Zeit seines Lebens hat Chamisso selbst immer für sehr interessant gehalten. Er bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den Persönlichkeiten, mit denen er zusammen lebte. Vortrefflich und höchst ergötzlich sind seine Schilderungen dieser Menschen. August Wilhelm v. Schlegel, als artiger, eitler, eifersüchtiger Egoist, ganz in dem Cliquenwesen seiner Schule besangen, ein Tyrann für die kleinen Gefühls¬ capricen seiner Freundin, die StaÄ selbst ein imponirender Geist, unsrem Cha¬ misso vielfach überlegen, edel und ehrlich in ihrem Empfinden, aber oft wunder¬ lich in ihrer Erscheinung, kleiner Emotionen und vieler Anerkennung bedürftig, und um sie herum ein Kreis von sehr verschiedenen Persönlichkeiten, die alle durch eine wunderliche Hausordnung zusammengehalten werden, im Stillen gegen einander intriguiren, in dem Conversationszimmer sich nur schriftlich unterhalten durch kleine Zettel, welche Eins dem Andern zusteckt, und alle mündlichen Er¬ klärungen und Explications, deren es sehr viele gab, in einer Allee des Gartens abmachen müssen. Diese geistreiche Kolonie zieht von Schloß zu Schloß, immer von Napoleon oder durch andere rohe Wirklichkeiten verjagt. So -haben sie sich auf dem Schlosse Chaumont mit zweifelhafter Berechtigung einquartiert, und auf einmal kommt der Eigenthümer, der nach der Meinung der StaÄ Fußbäder im Mississippi nimmt, aus Nordamerika zurück, pocht an die Thür seines Schlosses, und will mit Bonne, Kindern und großem Train einziehen. Die StaÄ bittet ihn zu Tische. Er zieht wieder ab und läßt den Ansiedlern drei Tage Zeit, nach einem andern Schlosse zu wandern. Die drollige Laune Chamisso's und seine unendliche Gutherzigkeit waren in diesem Kreise sehr angebracht, sowol um ihn zu schildern, als in ihm auszudauern. Endlich im Jahre -18-12, in der Schweiz, fängt Chamisso an Pflanzen zu sammeln, legt sich ein Herbarium an, und wirft sich mit allem Eifer ans das Studium der Naturwissenschaften. Er geht nach Berlin zurück, läßt sich als Student bei der medicinischen Facultät einschreiben, secirt in der Anatomie, und fühlt sich selig, endlich einen Beruf gefunden zu haben und mit einigen seiner Jugendfreunde leben zu können. Die großen Kämpfe der nächsten Jahre verfolgt er mit warmem Interesse, nicht ohne manchen geheimen Schmerz, denn noch kämpften in ihm die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/319
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/319>, abgerufen am 27.09.2024.