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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Hände voll zu thun hatte, und daß das "über den Haufen wsrfen" einer gleich
starken Anzahl englischer Truppen unter Wellington, an dem sich schon so viele
französische Marschälle versucht hatten, keine leichte Sache war, die man zum Früh¬
stück abmacht, um dann noch zum Vesperbrod eine zweite Armee auf einem andern
Schlachtfelde mit verzehren zu helfen.

Man müßte in der That eine sehr geringe Meinung von Napoleons Feldherrngenie
haben, wollte man ihm zutrauen, daß er wirklich einen solchen Befehl gegeben,
obgleich er ihn selbst in seinen Memoiren als Anklagegrund gegen Ney anführt.
Er ist vielmehr als eine der vielen Unwahrheiten zu betrachten, mit denen der
gestürzte Kaiser in der Bitterkeit des Exils das von dem eigenen Hochmuth ver¬
schuldete Mißgeschick zu beschönigen suchte. Die documentarischcn Beweise stellen
die Sache anch ganz anders dar. In dem Ordrebuch des Marschall Soult (des
Generalstabchcfs) sind nur vier am 16. Juni Ney ertheilte Befehle verzeichnet. Erst
der dritte spricht von einer Entsendung nach Ligny, sobald Ney die vor
ihm stehenden Truppen geschlagen habe. Der Befehl ist von zwei Uhr
Nachmittag datirt, und erwähnt eines früheren ähnlichen mit keinem Wort. Die vierte
Ordre befiehlt bestimmt, gegen die Rechte der Preußen zu manövriren. Sie ist von
V^. Uhr datirt, konnte bei den drei Stunden Entfernung von Ligny bis Frasne
frühestens halb fünf bei Ney eintreffen, so daß dieser, da ein Armeecorps sich
doch nicht so schnell wie ein einzelner Mann herum drehen kann, schwerlich vor
^9 Uhr Napoleon Hilfe leisten konnte, selbst wenn er Truppen zum Detachiren
übrig gehabt hätte. Mau muß also Ney vo" jedem Vorwurf der Pflichtversäumniß
freisprechen. >

Kehren wir jetzt uach Ligny zurück, um zu sehen, was Napoleon selbst zur
Vervollständigung seines Sieges that. Der Kampf hatte so spät geendet und
die Truppen waren so ermüdet, daß für die Verfolgung während der Nacht uicht
viel geschehen konnte. Napoleon selbst ritt nach Flenrus, um zu schlafen, und
bestellte Grouchy nächsten Morgen, um mit ihm die weiteren Maßregeln zur Ver¬
folgung zu besprechen. Da aber die Truppen nach den großen Anstrengungen vom
13.--16. durchaus längerer Nuhe bedurften, nahm der Kaiser am 17. den Marschall
erst mit auf das Schlachtfeld, besichtigte die preußischen Positionen, sprach über
die politischen Zustände von Paris, und über alles Mögliche, nur nichl über die
Verfolgung des Feindes. Endlich gegen Mittag befahl er einige Bewegungen
gegen Quatrebras und ertheilte dann Grouchy die allgemeine Ordre, "Blücher
auf den Fersen zu folgen und seine Niederlage zu vervollständigen." Da Blücher's
Operationsbasis Namur wurde, so vermuthete man, daß er sich dorthin gezogen,
und diese Vermuthung wurde dadurch bestärkt, daß man früh aus der Straße
nach Namur eine preußische Batterie weggenommen hatte. Blücher aber hatte
den nie genug zu lobenden kühnen Entschluß gesaßt, sich von seiner Operations-
basis zu Itreuuen, und sich über Wavre mit Wellington zu vereinigen, um


Hände voll zu thun hatte, und daß das „über den Haufen wsrfen" einer gleich
starken Anzahl englischer Truppen unter Wellington, an dem sich schon so viele
französische Marschälle versucht hatten, keine leichte Sache war, die man zum Früh¬
stück abmacht, um dann noch zum Vesperbrod eine zweite Armee auf einem andern
Schlachtfelde mit verzehren zu helfen.

Man müßte in der That eine sehr geringe Meinung von Napoleons Feldherrngenie
haben, wollte man ihm zutrauen, daß er wirklich einen solchen Befehl gegeben,
obgleich er ihn selbst in seinen Memoiren als Anklagegrund gegen Ney anführt.
Er ist vielmehr als eine der vielen Unwahrheiten zu betrachten, mit denen der
gestürzte Kaiser in der Bitterkeit des Exils das von dem eigenen Hochmuth ver¬
schuldete Mißgeschick zu beschönigen suchte. Die documentarischcn Beweise stellen
die Sache anch ganz anders dar. In dem Ordrebuch des Marschall Soult (des
Generalstabchcfs) sind nur vier am 16. Juni Ney ertheilte Befehle verzeichnet. Erst
der dritte spricht von einer Entsendung nach Ligny, sobald Ney die vor
ihm stehenden Truppen geschlagen habe. Der Befehl ist von zwei Uhr
Nachmittag datirt, und erwähnt eines früheren ähnlichen mit keinem Wort. Die vierte
Ordre befiehlt bestimmt, gegen die Rechte der Preußen zu manövriren. Sie ist von
V^. Uhr datirt, konnte bei den drei Stunden Entfernung von Ligny bis Frasne
frühestens halb fünf bei Ney eintreffen, so daß dieser, da ein Armeecorps sich
doch nicht so schnell wie ein einzelner Mann herum drehen kann, schwerlich vor
^9 Uhr Napoleon Hilfe leisten konnte, selbst wenn er Truppen zum Detachiren
übrig gehabt hätte. Mau muß also Ney vo» jedem Vorwurf der Pflichtversäumniß
freisprechen. >

Kehren wir jetzt uach Ligny zurück, um zu sehen, was Napoleon selbst zur
Vervollständigung seines Sieges that. Der Kampf hatte so spät geendet und
die Truppen waren so ermüdet, daß für die Verfolgung während der Nacht uicht
viel geschehen konnte. Napoleon selbst ritt nach Flenrus, um zu schlafen, und
bestellte Grouchy nächsten Morgen, um mit ihm die weiteren Maßregeln zur Ver¬
folgung zu besprechen. Da aber die Truppen nach den großen Anstrengungen vom
13.—16. durchaus längerer Nuhe bedurften, nahm der Kaiser am 17. den Marschall
erst mit auf das Schlachtfeld, besichtigte die preußischen Positionen, sprach über
die politischen Zustände von Paris, und über alles Mögliche, nur nichl über die
Verfolgung des Feindes. Endlich gegen Mittag befahl er einige Bewegungen
gegen Quatrebras und ertheilte dann Grouchy die allgemeine Ordre, „Blücher
auf den Fersen zu folgen und seine Niederlage zu vervollständigen." Da Blücher's
Operationsbasis Namur wurde, so vermuthete man, daß er sich dorthin gezogen,
und diese Vermuthung wurde dadurch bestärkt, daß man früh aus der Straße
nach Namur eine preußische Batterie weggenommen hatte. Blücher aber hatte
den nie genug zu lobenden kühnen Entschluß gesaßt, sich von seiner Operations-
basis zu Itreuuen, und sich über Wavre mit Wellington zu vereinigen, um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/258>, abgerufen am 27.09.2024.