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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Bein, kräftig und wahr und zugleich schön -- ein Werk, wie es die Natur in
günstigen Momenten hervorzubringen im Stande ist. Und dennoch ist sie nur
Trägerin des Kindes -- des Welterlösers. Ju diesem sollte sich die ganze
schöpferische Kraft des Künstlers concentriren. Darum schuf Rafael ein Kind in den
schönsten kindlichen Formen mit dem Ausdruck eines Alles durchdringenden Geistes.
Dieser Gegensai) von Form und Geist, geeinigt durch die überwältigende Natur-
wahrheit in der Erscheinung, gesteigert durch die naiv dreinschauenden Kinder¬
köpfchen, welche die Mitte des untern Bilderraumcs füllen, die ebeu so innerlich
ergreifende Naturwahrheit, mit der die zu deu Seiten der Madonna knieenden
Figuren erfaßt und wiedergegeben'send, rücken das ganze Werk unsrer Natur so
nahe, daß wir, ohne die Allegorie zu ahnen, sofort von der Macht des Dar¬
gestellten ergriffen und erhoben werden. Wie anders wirken dagegen Bilder, wie
das von Seelilie, in welchem Alles, ja selbst die Farbe zur Allegorie geworden
ist. Nirgends zeigte sich uns ein Anknüpfpunkt an die Natur, nach dem unser
Gefühl so sehr verlangt. Ueberall werden wir kalt zurückgewiesen, bis wir, un¬
ruhig über uns selbst, an eine Zergliederung des Werkes gehen, um es uns klar
und verständlich zu machen. Mit dieser, durch die Allegorie hervorgerufenen spe¬
kulativen Zergliederung des Werkes aber ist die künstlerisch und sittlich wirkende
Macht desselben bereits gebrochen. Wir haben dasselbe verstanden und wir ver¬
lassen es, ohne es eigentlich empfunden zu haben. -- So ging es uns
wenigstens mit diesem Bilde, dem wir um so mehr Aufmerksamkeit widmen,
als es vorläufig das einzig bedeutsame Werk dieser Gattung ist, das die
Ausstellung bringt, und es außerdem als ein Nepräsentativbild einer besondern
Richtung der modern kirchlichen Kunst zu betrachten ist. Ja, wir können
dasselbe nicht verlassen, bevor wir nicht noch ein zweites, mehr äußerliches
Moment hervorgehoben haben, das sich an demselben fühlbar macht. Es ist die
kuttstlerisch religiöse Tradition, die von Hanse aus dem freien Gedanken hemmend
entgegentritt. Wir erblicken nämlich die Gestalt Christi vom Kopf bis zur Zehe
in den althergebrachten Formen jener schwächlich sentimentalen Richtung, die aus
einem kaum glaublichen Mißverstand der altchristlichen Bilder hervorgegangen ist
und die sich zum großen Theil der modernen Heiligeumalerei bemächtigt hat. --
Es ist freilich uicht' Jedermanns Sache, einen Weltenerlöser in jener körperlich
mächtigen Bildung' hinzustellen, wie dies ein Michel Angelo in seinem jüngsten
Gericht zu thun wagte. Aber Fleisch und Blut, Knochen und Muskulatur, mit
einem Wort Lebensfähigkeit und Lebensfrische, überhaupt aber einen gesunden
Körper sollte man doch wenigstens dem Gottmenschen geben -- ihm um so mehr,
als er zum fühl- und sichtbare", irdischen Repräsentanten des rein Göttlichen be¬
stimmt war. Statt dessen erblicken wir hier jene, nur allzubekauute kränkelnde
Gestalt mit in der Mitte sorgfältig gescheitelten, lang herabwallenden blondem
Lockenhaar, langem Gesicht und fein, fast zierlich geformtem doppeltem Kinnbart,


Bein, kräftig und wahr und zugleich schön — ein Werk, wie es die Natur in
günstigen Momenten hervorzubringen im Stande ist. Und dennoch ist sie nur
Trägerin des Kindes — des Welterlösers. Ju diesem sollte sich die ganze
schöpferische Kraft des Künstlers concentriren. Darum schuf Rafael ein Kind in den
schönsten kindlichen Formen mit dem Ausdruck eines Alles durchdringenden Geistes.
Dieser Gegensai) von Form und Geist, geeinigt durch die überwältigende Natur-
wahrheit in der Erscheinung, gesteigert durch die naiv dreinschauenden Kinder¬
köpfchen, welche die Mitte des untern Bilderraumcs füllen, die ebeu so innerlich
ergreifende Naturwahrheit, mit der die zu deu Seiten der Madonna knieenden
Figuren erfaßt und wiedergegeben'send, rücken das ganze Werk unsrer Natur so
nahe, daß wir, ohne die Allegorie zu ahnen, sofort von der Macht des Dar¬
gestellten ergriffen und erhoben werden. Wie anders wirken dagegen Bilder, wie
das von Seelilie, in welchem Alles, ja selbst die Farbe zur Allegorie geworden
ist. Nirgends zeigte sich uns ein Anknüpfpunkt an die Natur, nach dem unser
Gefühl so sehr verlangt. Ueberall werden wir kalt zurückgewiesen, bis wir, un¬
ruhig über uns selbst, an eine Zergliederung des Werkes gehen, um es uns klar
und verständlich zu machen. Mit dieser, durch die Allegorie hervorgerufenen spe¬
kulativen Zergliederung des Werkes aber ist die künstlerisch und sittlich wirkende
Macht desselben bereits gebrochen. Wir haben dasselbe verstanden und wir ver¬
lassen es, ohne es eigentlich empfunden zu haben. — So ging es uns
wenigstens mit diesem Bilde, dem wir um so mehr Aufmerksamkeit widmen,
als es vorläufig das einzig bedeutsame Werk dieser Gattung ist, das die
Ausstellung bringt, und es außerdem als ein Nepräsentativbild einer besondern
Richtung der modern kirchlichen Kunst zu betrachten ist. Ja, wir können
dasselbe nicht verlassen, bevor wir nicht noch ein zweites, mehr äußerliches
Moment hervorgehoben haben, das sich an demselben fühlbar macht. Es ist die
kuttstlerisch religiöse Tradition, die von Hanse aus dem freien Gedanken hemmend
entgegentritt. Wir erblicken nämlich die Gestalt Christi vom Kopf bis zur Zehe
in den althergebrachten Formen jener schwächlich sentimentalen Richtung, die aus
einem kaum glaublichen Mißverstand der altchristlichen Bilder hervorgegangen ist
und die sich zum großen Theil der modernen Heiligeumalerei bemächtigt hat. —
Es ist freilich uicht' Jedermanns Sache, einen Weltenerlöser in jener körperlich
mächtigen Bildung' hinzustellen, wie dies ein Michel Angelo in seinem jüngsten
Gericht zu thun wagte. Aber Fleisch und Blut, Knochen und Muskulatur, mit
einem Wort Lebensfähigkeit und Lebensfrische, überhaupt aber einen gesunden
Körper sollte man doch wenigstens dem Gottmenschen geben — ihm um so mehr,
als er zum fühl- und sichtbare», irdischen Repräsentanten des rein Göttlichen be¬
stimmt war. Statt dessen erblicken wir hier jene, nur allzubekauute kränkelnde
Gestalt mit in der Mitte sorgfältig gescheitelten, lang herabwallenden blondem
Lockenhaar, langem Gesicht und fein, fast zierlich geformtem doppeltem Kinnbart,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/25>, abgerufen am 27.09.2024.