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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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dasselbe anwenden könnten. Mit unsrer gegenwärtigen Politik läßt sich nicht viel auf¬
stellen, und unsre Traditionen find sehr gering. Das Letztere liegt keineswegs
an einem Mangel historischen Lebens in unsrer Geschichte, wir haben unsre großen
Zeiten so gut gehabt, wie die Engländer und -Franzosen, es liegt lediglich in der
Zersplitterung unsrer Geschichte in kleine Kreise, die doch wieder nicht abgeschlossen
genug waren, um in sich selbst die Tradition lebendig zu erhalten. Mit Ausnahme
von wenig großen Persönlichkeiten, wie Luther und Friedrich der Große, stehn
uns die auswärtigen Helden fast näher, als unsre eigenen Erinnerungen. Darum
haben sich nicht blos unsre älteren Dichter, denen es überhaupt auf Nationalität
nicht viel ankam, sondern auch unsre historischen Romanschreiber fast immer nnr mit
einem gewissen Widerwillen an die deutsche Geschichte gemacht. Der Hof
Ludwig XIV., der Cardinal Richelieu, die Königin Elisabeth u. s. w. boten
ihnen bequemere Stoffe, als unsre Habsburgischen Kaiser, die man kaum als der
Weltgeschichte augehörig betrachten darf. Zu einem anziehenden historischen Ge¬
mälde gehört ein gewisser Reichthum an geschichtlichen Figuren, die sich an einen
und denselben Ort zusammenführen lassen. Wo sollte mau einen solchen Ort
in Deutschland suchen? Wenn sich auch in jedem Zeitalter eine ungefähr gleiche
Zahl bedeutender Männer hätte ausstellen lassen, als in dem gleichen Zeitalter
bei den Engländern und Franzosen, so hatte man sie doch an den entlegenste"
Orten zusammensuchen müssen) und ein Roman auf der Wanderschaft verstattet
kein einheitliches Gemälde.

Es hat uns weder an Talent, noch an Stoff gefehlt. Der letztere ist durch
Gelehrte und Ungelehrte in Märchen, Sagen, Liedern und Gedichten, Kupferstichen
und Holzschnitten von alten Domen und Schlössern, in Costümen und Pergamenten
so reichhaltig aufgespeichert, daß es uns an den nothwendigen Hilfsmitteln, irgend
ein beliebiges Zeitalter bis zu lebendiger Anschaulichkeit zu detailliren, wahrlich
nicht mangelte Aber anch die Talente waren vorhanden. Was hätte z. B. ans
Arnim's "Kronenwächtern" für ein herrlicher Roman werden können, wenn wir
uns nur an die einzelnen der Geschichte entnommenen Schilderungen halten, und
die Mystik bei Seite lassen! Dieses Talent zeigt sich auch bei Einzelnen seiner
kleinen Novellen in hohem Grade. Wie viel versprechend ist die Erzählung
Kleist's "Michael Kvhlhas!" Bereits in Hippel's "Lebeusläufeu" läßt sich diese-
Technik herauserkennen, die später immer nur zu kleinen Genrebildern verschwendet
wurde. Wo hat ferner eine Nation ein Drama von so historischer Färbung
(d. h. was das Detail betrifft), wie den ,,Götz von Berlichingen?" Trotz alle
dem hat es uns nicht gelingen wollen, in eAem großem Werk irgend eine Zeit
der deutsche" Geschichte so lebendig und den Anforderungen der Kunst entsprechend
wiederzugeben, wie es W. Scott in so vielen seiner Romane gelungen ist. Wenn
wir auch unsre Ansprüche nicht zu weit ausdehnen wollen, wenn wir auch nicht
verlangen, daß bei uns in derselben Kunstgattung ein Dichter von derselbe"


dasselbe anwenden könnten. Mit unsrer gegenwärtigen Politik läßt sich nicht viel auf¬
stellen, und unsre Traditionen find sehr gering. Das Letztere liegt keineswegs
an einem Mangel historischen Lebens in unsrer Geschichte, wir haben unsre großen
Zeiten so gut gehabt, wie die Engländer und -Franzosen, es liegt lediglich in der
Zersplitterung unsrer Geschichte in kleine Kreise, die doch wieder nicht abgeschlossen
genug waren, um in sich selbst die Tradition lebendig zu erhalten. Mit Ausnahme
von wenig großen Persönlichkeiten, wie Luther und Friedrich der Große, stehn
uns die auswärtigen Helden fast näher, als unsre eigenen Erinnerungen. Darum
haben sich nicht blos unsre älteren Dichter, denen es überhaupt auf Nationalität
nicht viel ankam, sondern auch unsre historischen Romanschreiber fast immer nnr mit
einem gewissen Widerwillen an die deutsche Geschichte gemacht. Der Hof
Ludwig XIV., der Cardinal Richelieu, die Königin Elisabeth u. s. w. boten
ihnen bequemere Stoffe, als unsre Habsburgischen Kaiser, die man kaum als der
Weltgeschichte augehörig betrachten darf. Zu einem anziehenden historischen Ge¬
mälde gehört ein gewisser Reichthum an geschichtlichen Figuren, die sich an einen
und denselben Ort zusammenführen lassen. Wo sollte mau einen solchen Ort
in Deutschland suchen? Wenn sich auch in jedem Zeitalter eine ungefähr gleiche
Zahl bedeutender Männer hätte ausstellen lassen, als in dem gleichen Zeitalter
bei den Engländern und Franzosen, so hatte man sie doch an den entlegenste»
Orten zusammensuchen müssen) und ein Roman auf der Wanderschaft verstattet
kein einheitliches Gemälde.

Es hat uns weder an Talent, noch an Stoff gefehlt. Der letztere ist durch
Gelehrte und Ungelehrte in Märchen, Sagen, Liedern und Gedichten, Kupferstichen
und Holzschnitten von alten Domen und Schlössern, in Costümen und Pergamenten
so reichhaltig aufgespeichert, daß es uns an den nothwendigen Hilfsmitteln, irgend
ein beliebiges Zeitalter bis zu lebendiger Anschaulichkeit zu detailliren, wahrlich
nicht mangelte Aber anch die Talente waren vorhanden. Was hätte z. B. ans
Arnim's „Kronenwächtern" für ein herrlicher Roman werden können, wenn wir
uns nur an die einzelnen der Geschichte entnommenen Schilderungen halten, und
die Mystik bei Seite lassen! Dieses Talent zeigt sich auch bei Einzelnen seiner
kleinen Novellen in hohem Grade. Wie viel versprechend ist die Erzählung
Kleist's „Michael Kvhlhas!" Bereits in Hippel's „Lebeusläufeu" läßt sich diese-
Technik herauserkennen, die später immer nur zu kleinen Genrebildern verschwendet
wurde. Wo hat ferner eine Nation ein Drama von so historischer Färbung
(d. h. was das Detail betrifft), wie den ,,Götz von Berlichingen?" Trotz alle
dem hat es uns nicht gelingen wollen, in eAem großem Werk irgend eine Zeit
der deutsche» Geschichte so lebendig und den Anforderungen der Kunst entsprechend
wiederzugeben, wie es W. Scott in so vielen seiner Romane gelungen ist. Wenn
wir auch unsre Ansprüche nicht zu weit ausdehnen wollen, wenn wir auch nicht
verlangen, daß bei uns in derselben Kunstgattung ein Dichter von derselbe»


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[0494] dasselbe anwenden könnten. Mit unsrer gegenwärtigen Politik läßt sich nicht viel auf¬ stellen, und unsre Traditionen find sehr gering. Das Letztere liegt keineswegs an einem Mangel historischen Lebens in unsrer Geschichte, wir haben unsre großen Zeiten so gut gehabt, wie die Engländer und -Franzosen, es liegt lediglich in der Zersplitterung unsrer Geschichte in kleine Kreise, die doch wieder nicht abgeschlossen genug waren, um in sich selbst die Tradition lebendig zu erhalten. Mit Ausnahme von wenig großen Persönlichkeiten, wie Luther und Friedrich der Große, stehn uns die auswärtigen Helden fast näher, als unsre eigenen Erinnerungen. Darum haben sich nicht blos unsre älteren Dichter, denen es überhaupt auf Nationalität nicht viel ankam, sondern auch unsre historischen Romanschreiber fast immer nnr mit einem gewissen Widerwillen an die deutsche Geschichte gemacht. Der Hof Ludwig XIV., der Cardinal Richelieu, die Königin Elisabeth u. s. w. boten ihnen bequemere Stoffe, als unsre Habsburgischen Kaiser, die man kaum als der Weltgeschichte augehörig betrachten darf. Zu einem anziehenden historischen Ge¬ mälde gehört ein gewisser Reichthum an geschichtlichen Figuren, die sich an einen und denselben Ort zusammenführen lassen. Wo sollte mau einen solchen Ort in Deutschland suchen? Wenn sich auch in jedem Zeitalter eine ungefähr gleiche Zahl bedeutender Männer hätte ausstellen lassen, als in dem gleichen Zeitalter bei den Engländern und Franzosen, so hatte man sie doch an den entlegenste» Orten zusammensuchen müssen) und ein Roman auf der Wanderschaft verstattet kein einheitliches Gemälde. Es hat uns weder an Talent, noch an Stoff gefehlt. Der letztere ist durch Gelehrte und Ungelehrte in Märchen, Sagen, Liedern und Gedichten, Kupferstichen und Holzschnitten von alten Domen und Schlössern, in Costümen und Pergamenten so reichhaltig aufgespeichert, daß es uns an den nothwendigen Hilfsmitteln, irgend ein beliebiges Zeitalter bis zu lebendiger Anschaulichkeit zu detailliren, wahrlich nicht mangelte Aber anch die Talente waren vorhanden. Was hätte z. B. ans Arnim's „Kronenwächtern" für ein herrlicher Roman werden können, wenn wir uns nur an die einzelnen der Geschichte entnommenen Schilderungen halten, und die Mystik bei Seite lassen! Dieses Talent zeigt sich auch bei Einzelnen seiner kleinen Novellen in hohem Grade. Wie viel versprechend ist die Erzählung Kleist's „Michael Kvhlhas!" Bereits in Hippel's „Lebeusläufeu" läßt sich diese- Technik herauserkennen, die später immer nur zu kleinen Genrebildern verschwendet wurde. Wo hat ferner eine Nation ein Drama von so historischer Färbung (d. h. was das Detail betrifft), wie den ,,Götz von Berlichingen?" Trotz alle dem hat es uns nicht gelingen wollen, in eAem großem Werk irgend eine Zeit der deutsche» Geschichte so lebendig und den Anforderungen der Kunst entsprechend wiederzugeben, wie es W. Scott in so vielen seiner Romane gelungen ist. Wenn wir auch unsre Ansprüche nicht zu weit ausdehnen wollen, wenn wir auch nicht verlangen, daß bei uns in derselben Kunstgattung ein Dichter von derselbe»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/494>, abgerufen am 21.12.2024.