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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Kaum deutet die Magnetnadel nach entschiednen Welt-
gegenden, so beobachtet man, daß sie sich eben so ent-
schieden zur Erde nieder neigt.

Im Sittlichen gehen ähnliche große Wirkungen
und Gegenwirkungen vor. Das Schießpulver ist kaum
erfunden, so verliert sich die persönliche Tapferkeit aus
der Welt, oder nimmt wenigstens eine andre Richtung.
Das tüchtige Vertrauen auf seine Faust und Gott lös't
sich auf in die blindeste Ergebenheit unter ein unaus-
weichlich bestimmendes, unwiederruflich gebietendes
Schicksal. Kaum wird durch Buchdruckerey Cultur all-
gemeiner verbreitet, so macht sich schon die Censur nö-
thig, um dasjenige einzuengen, was bisher in einem
natürlich beschränkten Kreise frey gewesen war.

Doch unter allen Entdeckungen und Ueberzeugun-
gen möchte nichts eine größere Wirkung auf den mensch-
lichen Geist hervorgebracht haben, als die Lehre des Co-
pernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt
und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das
ungeheure Vorrecht Verzicht thun, der Mittelpunct des
Weltalls zu seyn. Vielleicht ist noch nie eine größere
Forderung an die Menschheit geschehen: denn was
ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und
Rauch auf: ein zweytes Paradies, eine Welt der Un-
schuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugniß der
Sinne, die Ueberzeugung eines poetisch-religiösen Glau-
bens; kein Wunder, daß man dieß alles nicht wollte
fahren lassen, daß man sich auf alle Weise einer sol-

Kaum deutet die Magnetnadel nach entſchiednen Welt-
gegenden, ſo beobachtet man, daß ſie ſich eben ſo ent-
ſchieden zur Erde nieder neigt.

Im Sittlichen gehen aͤhnliche große Wirkungen
und Gegenwirkungen vor. Das Schießpulver iſt kaum
erfunden, ſo verliert ſich die perſoͤnliche Tapferkeit aus
der Welt, oder nimmt wenigſtens eine andre Richtung.
Das tuͤchtige Vertrauen auf ſeine Fauſt und Gott loͤſ’t
ſich auf in die blindeſte Ergebenheit unter ein unaus-
weichlich beſtimmendes, unwiederruflich gebietendes
Schickſal. Kaum wird durch Buchdruckerey Cultur all-
gemeiner verbreitet, ſo macht ſich ſchon die Cenſur noͤ-
thig, um dasjenige einzuengen, was bisher in einem
natuͤrlich beſchraͤnkten Kreiſe frey geweſen war.

Doch unter allen Entdeckungen und Ueberzeugun-
gen moͤchte nichts eine groͤßere Wirkung auf den menſch-
lichen Geiſt hervorgebracht haben, als die Lehre des Co-
pernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt
und in ſich ſelbſt abgeſchloſſen, ſo ſollte ſie auf das
ungeheure Vorrecht Verzicht thun, der Mittelpunct des
Weltalls zu ſeyn. Vielleicht iſt noch nie eine groͤßere
Forderung an die Menſchheit geſchehen: denn was
ging nicht alles durch dieſe Anerkennung in Dunſt und
Rauch auf: ein zweytes Paradies, eine Welt der Un-
ſchuld, Dichtkunſt und Froͤmmigkeit, das Zeugniß der
Sinne, die Ueberzeugung eines poetiſch-religioͤſen Glau-
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[213/0247] Kaum deutet die Magnetnadel nach entſchiednen Welt- gegenden, ſo beobachtet man, daß ſie ſich eben ſo ent- ſchieden zur Erde nieder neigt. Im Sittlichen gehen aͤhnliche große Wirkungen und Gegenwirkungen vor. Das Schießpulver iſt kaum erfunden, ſo verliert ſich die perſoͤnliche Tapferkeit aus der Welt, oder nimmt wenigſtens eine andre Richtung. Das tuͤchtige Vertrauen auf ſeine Fauſt und Gott loͤſ’t ſich auf in die blindeſte Ergebenheit unter ein unaus- weichlich beſtimmendes, unwiederruflich gebietendes Schickſal. Kaum wird durch Buchdruckerey Cultur all- gemeiner verbreitet, ſo macht ſich ſchon die Cenſur noͤ- thig, um dasjenige einzuengen, was bisher in einem natuͤrlich beſchraͤnkten Kreiſe frey geweſen war. Doch unter allen Entdeckungen und Ueberzeugun- gen moͤchte nichts eine groͤßere Wirkung auf den menſch- lichen Geiſt hervorgebracht haben, als die Lehre des Co- pernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in ſich ſelbſt abgeſchloſſen, ſo ſollte ſie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht thun, der Mittelpunct des Weltalls zu ſeyn. Vielleicht iſt noch nie eine groͤßere Forderung an die Menſchheit geſchehen: denn was ging nicht alles durch dieſe Anerkennung in Dunſt und Rauch auf: ein zweytes Paradies, eine Welt der Un- ſchuld, Dichtkunſt und Froͤmmigkeit, das Zeugniß der Sinne, die Ueberzeugung eines poetiſch-religioͤſen Glau- bens; kein Wunder, daß man dieß alles nicht wollte fahren laſſen, daß man ſich auf alle Weiſe einer ſol-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/247>, abgerufen am 19.04.2024.