Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.Ueber die Prüfung Die natürlichsten Proben, die man machen kann,sind die Erzählung und die Erdichtung selbst. Es zeigt schon einen hohen Grad von Einbildungs- kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder die Erdichtungen andrer gut beschreiben können; einen höhern, wenn wir selbst diese Begebenhei- ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir Personen, Sitten und Handlungen, wenn sie uns auch vor Augen sind, niemals in ein vollständi- ges und ähnliches Bild fassen, das diese Gegen- stände andern wieder kenntlich machte. Aber ohne einen weit höhern Grad werden wir uns nicht neue Personen und Begebenheiten zusammensetzen, die in der Zeichnung richtig und der Natur ähnlich, und doch ohne Original wären. Warum müssen also diejenigen Uebungen des Stils, die den fähi- gen Kopf am stärksten unterscheiden, und dem mit- telmäßigen die meiste Gelegenheit zum Unterrichte geben, warum müssen diese bey der Erziehung am wenigsten gebraucht werden? Dieß sind die Aeußerungen dieser Fähigkeit Ueber die Pruͤfung Die natuͤrlichſten Proben, die man machen kann,ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs- kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen; einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei- ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi- ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen- ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich, und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi- gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit- telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am wenigſten gebraucht werden? Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0048" n="42"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber die Pruͤfung</hi></fw><lb/> Die natuͤrlichſten Proben, die man machen kann,<lb/> ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es<lb/> zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs-<lb/> kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder<lb/> die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen;<lb/> einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei-<lb/> ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir<lb/> Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns<lb/> auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi-<lb/> ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen-<lb/> ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne<lb/> einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue<lb/> Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die<lb/> in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich,<lb/> und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen<lb/> alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi-<lb/> gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit-<lb/> telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte<lb/> geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am<lb/> wenigſten gebraucht werden?</p><lb/> <p>Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit<lb/> durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [42/0048]
Ueber die Pruͤfung
Die natuͤrlichſten Proben, die man machen kann,
ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es
zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs-
kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder
die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen;
einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei-
ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir
Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns
auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi-
ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen-
ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne
einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue
Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die
in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich,
und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen
alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi-
gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit-
telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte
geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am
wenigſten gebraucht werden?
Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit
durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die
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