in einem Zimmer mit einander zuzubringen, sie in Ge¬ sprächen die Stunden durchwachten ohne sich zu berüh¬ ren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das chi¬ nesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird da¬ durch ferner bestehen."
"Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman, fuhr Goethe fort, habe ich an den Liedern von Beranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider seyn würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Beranger die Gegenstände behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmuthig werden. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz das Gegentheil sind?"
Ein solches Talent wie Beranger, sagte ich, würde an sittlichen Stoffen nichts zu thun finden. "Sie ha¬ ben Recht, sagte Goethe, eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Beranger seine bessere Natur." Aber, sagte ich, ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten? "Keineswegs, sagte Goethe, die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten."
in einem Zimmer mit einander zuzubringen, ſie in Ge¬ ſpraͤchen die Stunden durchwachten ohne ſich zu beruͤh¬ ren. Und ſo unzaͤhlige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch dieſe ſtrenge Maͤßigung in allem hat ſich denn auch das chi¬ neſiſche Reich ſeit Jahrtauſenden erhalten und wird da¬ durch ferner beſtehen.“
„Einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Gegenſatz zu dieſem chineſiſchen Roman, fuhr Goethe fort, habe ich an den Liedern von Béranger, denen faſt allen ein unſittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider ſeyn wuͤrden, wenn nicht ein ſo großes Talent wie Béranger die Gegenſtaͤnde behandelt haͤtte, wodurch ſie denn ertraͤglich, ja ſogar anmuthig werden. Aber ſagen Sie ſelbſt, iſt es nicht hoͤchſt merkwuͤrdig, daß die Stoffe des chineſiſchen Dichters ſo durchaus ſittlich und diejenigen des jetzigen erſten Dichters von Frankreich ganz das Gegentheil ſind?“
Ein ſolches Talent wie Béranger, ſagte ich, wuͤrde an ſittlichen Stoffen nichts zu thun finden. „Sie ha¬ ben Recht, ſagte Goethe, eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger ſeine beſſere Natur.“ Aber, ſagte ich, iſt denn dieſer chineſiſche Roman vielleicht einer ihrer vorzuͤglichſten? „Keineswegs, ſagte Goethe, die Chineſen haben deren zu Tauſenden und hatten ihrer ſchon, als unſere Vorfahren noch in den Waͤldern lebten.“
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in einem Zimmer mit einander zuzubringen, ſie in Ge¬
ſpraͤchen die Stunden durchwachten ohne ſich zu beruͤh¬
ren. Und ſo unzaͤhlige von Legenden, die alle auf das
Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch dieſe
ſtrenge Maͤßigung in allem hat ſich denn auch das chi¬
neſiſche Reich ſeit Jahrtauſenden erhalten und wird da¬
durch ferner beſtehen.“
„Einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Gegenſatz zu dieſem
chineſiſchen Roman, fuhr Goethe fort, habe ich an den
Liedern von Béranger, denen faſt allen ein unſittlicher,
liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im
hohen Grade zuwider ſeyn wuͤrden, wenn nicht ein ſo
großes Talent wie Béranger die Gegenſtaͤnde behandelt
haͤtte, wodurch ſie denn ertraͤglich, ja ſogar anmuthig
werden. Aber ſagen Sie ſelbſt, iſt es nicht hoͤchſt
merkwuͤrdig, daß die Stoffe des chineſiſchen Dichters
ſo durchaus ſittlich und diejenigen des jetzigen erſten
Dichters von Frankreich ganz das Gegentheil ſind?“
Ein ſolches Talent wie Béranger, ſagte ich, wuͤrde
an ſittlichen Stoffen nichts zu thun finden. „Sie ha¬
ben Recht, ſagte Goethe, eben an den Verkehrtheiten
der Zeit offenbart und entwickelt Béranger ſeine beſſere
Natur.“ Aber, ſagte ich, iſt denn dieſer chineſiſche
Roman vielleicht einer ihrer vorzuͤglichſten? „Keineswegs,
ſagte Goethe, die Chineſen haben deren zu Tauſenden
und hatten ihrer ſchon, als unſere Vorfahren noch in
den Waͤldern lebten.“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/344>, abgerufen am 23.11.2024.
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