Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_384.001
gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen pdi_384.002
zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es pdi_384.003
ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die pdi_384.004
äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen pdi_384.005
stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu pdi_384.006
umständlich, um hier geführt werden zu können.

pdi_384.007

Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur pdi_384.008
Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen pdi_384.009
Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit pdi_384.010
ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton pdi_384.011
diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel pdi_384.012
und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder pdi_384.013
aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem pdi_384.014
Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und pdi_384.015
Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und pdi_384.016
der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen pdi_384.017
oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von pdi_384.018
Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst pdi_384.019
erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in pdi_384.020
historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen, pdi_384.021
kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt pdi_384.022
werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten pdi_384.023
Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon pdi_384.024
haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen pdi_384.025
kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen pdi_384.026
jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich pdi_384.027
nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu pdi_384.028
reden sein wird.

pdi_384.029

Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische pdi_384.030
Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie, pdi_384.031
dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material pdi_384.032
für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes pdi_384.033
Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss pdi_384.034
der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter pdi_384.035
dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner pdi_384.036
Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht

pdi_384.001
gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen pdi_384.002
zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es pdi_384.003
ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die pdi_384.004
äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen pdi_384.005
stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu pdi_384.006
umständlich, um hier geführt werden zu können.

pdi_384.007

  Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur pdi_384.008
Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen pdi_384.009
Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit pdi_384.010
ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton pdi_384.011
diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel pdi_384.012
und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder pdi_384.013
aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem pdi_384.014
Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und pdi_384.015
Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und pdi_384.016
der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen pdi_384.017
oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von pdi_384.018
Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst pdi_384.019
erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in pdi_384.020
historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen, pdi_384.021
kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt pdi_384.022
werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten pdi_384.023
Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon pdi_384.024
haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen pdi_384.025
kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen pdi_384.026
jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich pdi_384.027
nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu pdi_384.028
reden sein wird.

pdi_384.029

  Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische pdi_384.030
Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie, pdi_384.031
dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material pdi_384.032
für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes pdi_384.033
Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss pdi_384.034
der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter pdi_384.035
dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner pdi_384.036
Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0086" n="384"/><lb n="pdi_384.001"/>
gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen <lb n="pdi_384.002"/>
zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es <lb n="pdi_384.003"/>
ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die <lb n="pdi_384.004"/>
äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen <lb n="pdi_384.005"/>
stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu <lb n="pdi_384.006"/>
umständlich, um hier geführt werden zu können.</p>
          <lb n="pdi_384.007"/>
          <p>  Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur <lb n="pdi_384.008"/>
Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen <lb n="pdi_384.009"/>
Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit <lb n="pdi_384.010"/>
ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton <lb n="pdi_384.011"/>
diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel <lb n="pdi_384.012"/>
und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder <lb n="pdi_384.013"/>
aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem <lb n="pdi_384.014"/>
Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und <lb n="pdi_384.015"/>
Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und <lb n="pdi_384.016"/>
der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen <lb n="pdi_384.017"/>
oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von <lb n="pdi_384.018"/>
Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst <lb n="pdi_384.019"/>
erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in <lb n="pdi_384.020"/>
historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen, <lb n="pdi_384.021"/>
kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt <lb n="pdi_384.022"/>
werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten <lb n="pdi_384.023"/>
Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon <lb n="pdi_384.024"/>
haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen <lb n="pdi_384.025"/>
kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen <lb n="pdi_384.026"/>
jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich <lb n="pdi_384.027"/>
nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu <lb n="pdi_384.028"/>
reden sein wird.</p>
          <lb n="pdi_384.029"/>
          <p>  Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische <lb n="pdi_384.030"/>
Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie, <lb n="pdi_384.031"/>
dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material <lb n="pdi_384.032"/>
für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes <lb n="pdi_384.033"/>
Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss <lb n="pdi_384.034"/>
der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter <lb n="pdi_384.035"/>
dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner <lb n="pdi_384.036"/>
Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[384/0086] pdi_384.001 gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen pdi_384.002 zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es pdi_384.003 ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die pdi_384.004 äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen pdi_384.005 stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu pdi_384.006 umständlich, um hier geführt werden zu können. pdi_384.007   Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur pdi_384.008 Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen pdi_384.009 Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit pdi_384.010 ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton pdi_384.011 diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel pdi_384.012 und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder pdi_384.013 aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem pdi_384.014 Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und pdi_384.015 Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und pdi_384.016 der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen pdi_384.017 oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von pdi_384.018 Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst pdi_384.019 erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in pdi_384.020 historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen, pdi_384.021 kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt pdi_384.022 werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten pdi_384.023 Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon pdi_384.024 haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen pdi_384.025 kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen pdi_384.026 jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich pdi_384.027 nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu pdi_384.028 reden sein wird. pdi_384.029   Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische pdi_384.030 Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie, pdi_384.031 dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material pdi_384.032 für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes pdi_384.033 Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss pdi_384.034 der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter pdi_384.035 dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner pdi_384.036 Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/86
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/86>, abgerufen am 23.11.2024.