Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_456.001 Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen pdi_456.027 pdi_456.001 Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen pdi_456.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0158" n="456"/><lb n="pdi_456.001"/> die der Affecte: sie ist mathematische Prosa. Diese Zeitmessung <lb n="pdi_456.002"/> der Phantasie wird kunstvoll dadurch unterstützt, dass ausdrückliche <lb n="pdi_456.003"/> und äusserliche Zeitbestimmungen thunlichst umgangen <lb n="pdi_456.004"/> werden. In ähnlicher Weise werden die <hi rendition="#g">Orte</hi> durch die unsinnlichen, <lb n="pdi_456.005"/> aber starken Beziehungen der Personen und Handlungen <lb n="pdi_456.006"/> auf einander sich nahe gebracht. Hier wird der Tiefsinn <lb n="pdi_456.007"/> des Dichters die geographische Bestimmtheit vermeiden und lieber <lb n="pdi_456.008"/> mit Shakespeare in die Geographie der Märchenwelt zurückkehren. <lb n="pdi_456.009"/> Der Zusammenhang nach <hi rendition="#g">Ursache</hi> und <hi rendition="#g">Wirkung</hi> <lb n="pdi_456.010"/> wird auf wenige nothwendige Glieder eingeschränkt. Er könnte <lb n="pdi_456.011"/> so in der Wirklichkeit nicht functioniren, und er soll auch nur den <lb n="pdi_456.012"/> Schein der Wirklichkeit hervorrufen. Daher konnten scharfe <lb n="pdi_456.013"/> ästhetische Kritiker die Lücken in dem Causalzusammenhang <lb n="pdi_456.014"/> des Wilhelm Meister, des Faust, ja der Shakespeare'schen Dramen <lb n="pdi_456.015"/> leicht aufweisen, aber sie haben damit weder Goethe noch <lb n="pdi_456.016"/> Shakespeare getroffen, sondern nur gezeigt, dass sie den Unterschied <lb n="pdi_456.017"/> von Poesie und Prosa nicht verstanden. Wir sollen nur <lb n="pdi_456.018"/> daran glauben, Folgerichtigkeit zu sehen. Nur der Schein von <lb n="pdi_456.019"/> Wirklichkeit soll erweckt werden. Und dies geschieht nicht <lb n="pdi_456.020"/> durch sorgfältige lückenlose Motivirung, sondern durch jene <lb n="pdi_456.021"/> schlanke Art von Führung der Handlung, welche diese auf <lb n="pdi_456.022"/> wenige Glieder zurückbringt, dann aber dieselben in breiten, <lb n="pdi_456.023"/> lebenswahren Scenen ausgestaltet. Eine solche ganz ausgebildete <lb n="pdi_456.024"/> Scene führt dann von einem Ruhezustand aufwärts zum höchsten <lb n="pdi_456.025"/> Affect.</p> <lb n="pdi_456.026"/> <p> Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen <lb n="pdi_456.027"/> und Schicksalen in ihr sich nur in der Phantasie eines Hörers <lb n="pdi_456.028"/> oder Lesers aufbaut und dort ihre Existenz hat, steht sie zugleich <lb n="pdi_456.029"/> unter dem Gesetz der Seele, in welche sie tritt; der erworbene <lb n="pdi_456.030"/> Zusammenhang des ganzen Seelenlebens muss zu ihrer <lb n="pdi_456.031"/> Auffassung mitwirken. So muss sie den Gesetzen gemäss sein, <lb n="pdi_456.032"/> welche unser Erkennen an der Wirklichkeit gefunden hat. Sie <lb n="pdi_456.033"/> muss die Gefühlswerthe der Menschen und Dinge richtig ausdrücken, <lb n="pdi_456.034"/> wie sie ein reifer Geist am Leben entwickelt hat. Sie <lb n="pdi_456.035"/> muss ein Verhältniss der Willen und einen Zusammenhang der <lb n="pdi_456.036"/> Zwecke zeigen, wie ihn männlicher Sinn an seiner Arbeit erworben </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [456/0158]
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die der Affecte: sie ist mathematische Prosa. Diese Zeitmessung pdi_456.002
der Phantasie wird kunstvoll dadurch unterstützt, dass ausdrückliche pdi_456.003
und äusserliche Zeitbestimmungen thunlichst umgangen pdi_456.004
werden. In ähnlicher Weise werden die Orte durch die unsinnlichen, pdi_456.005
aber starken Beziehungen der Personen und Handlungen pdi_456.006
auf einander sich nahe gebracht. Hier wird der Tiefsinn pdi_456.007
des Dichters die geographische Bestimmtheit vermeiden und lieber pdi_456.008
mit Shakespeare in die Geographie der Märchenwelt zurückkehren. pdi_456.009
Der Zusammenhang nach Ursache und Wirkung pdi_456.010
wird auf wenige nothwendige Glieder eingeschränkt. Er könnte pdi_456.011
so in der Wirklichkeit nicht functioniren, und er soll auch nur den pdi_456.012
Schein der Wirklichkeit hervorrufen. Daher konnten scharfe pdi_456.013
ästhetische Kritiker die Lücken in dem Causalzusammenhang pdi_456.014
des Wilhelm Meister, des Faust, ja der Shakespeare'schen Dramen pdi_456.015
leicht aufweisen, aber sie haben damit weder Goethe noch pdi_456.016
Shakespeare getroffen, sondern nur gezeigt, dass sie den Unterschied pdi_456.017
von Poesie und Prosa nicht verstanden. Wir sollen nur pdi_456.018
daran glauben, Folgerichtigkeit zu sehen. Nur der Schein von pdi_456.019
Wirklichkeit soll erweckt werden. Und dies geschieht nicht pdi_456.020
durch sorgfältige lückenlose Motivirung, sondern durch jene pdi_456.021
schlanke Art von Führung der Handlung, welche diese auf pdi_456.022
wenige Glieder zurückbringt, dann aber dieselben in breiten, pdi_456.023
lebenswahren Scenen ausgestaltet. Eine solche ganz ausgebildete pdi_456.024
Scene führt dann von einem Ruhezustand aufwärts zum höchsten pdi_456.025
Affect.
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Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen pdi_456.027
und Schicksalen in ihr sich nur in der Phantasie eines Hörers pdi_456.028
oder Lesers aufbaut und dort ihre Existenz hat, steht sie zugleich pdi_456.029
unter dem Gesetz der Seele, in welche sie tritt; der erworbene pdi_456.030
Zusammenhang des ganzen Seelenlebens muss zu ihrer pdi_456.031
Auffassung mitwirken. So muss sie den Gesetzen gemäss sein, pdi_456.032
welche unser Erkennen an der Wirklichkeit gefunden hat. Sie pdi_456.033
muss die Gefühlswerthe der Menschen und Dinge richtig ausdrücken, pdi_456.034
wie sie ein reifer Geist am Leben entwickelt hat. Sie pdi_456.035
muss ein Verhältniss der Willen und einen Zusammenhang der pdi_456.036
Zwecke zeigen, wie ihn männlicher Sinn an seiner Arbeit erworben
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