Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_444.001 pdi_444.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0146" n="444"/><lb n="pdi_444.001"/> Dickens ganz die dichterische Belebung der <hi rendition="#g">Bilder, welche die <lb n="pdi_444.002"/> Aussenwelt</hi> ihnen bietet. Shakespeare scheint mit den Augen <lb n="pdi_444.003"/> aller Menschenarten in die Welt zu blicken. Er lebt mit seinem <lb n="pdi_444.004"/> Montaigne in der Analyse menschlicher Charaktere und Leidenschaften. <lb n="pdi_444.005"/> Er liefert in seinen grossen Dramen gleichsam Präparate <lb n="pdi_444.006"/> der Hauptaffecte. So scheint er ganz in solcher Hingabe <lb n="pdi_444.007"/> an die ihm gegenübertretende Wirklichkeit aufgegangen zu sein. <lb n="pdi_444.008"/> Wenn wir das in ihm nur aus seinen Werken schliessen, so sehen <lb n="pdi_444.009"/> wir es in Dickens. Dieser lebte in derselben Gesellschaft mit <lb n="pdi_444.010"/> Carlyle und Stuart Mill. Er liebte Carlyle. Aber in ihm war <lb n="pdi_444.011"/> nichts von dessen tiefsinniger Grübelei über die letzten Fragen <lb n="pdi_444.012"/> des Lebens. Auffassung der Gesellschaft um ihn, in Liebe und <lb n="pdi_444.013"/> Hass, unermüdliche Beobachtung der Menschennatur, mit dem <lb n="pdi_444.014"/> tiefen Blick, den der Glaube an die Menschheit giebt, und die <lb n="pdi_444.015"/> Ausbildung aller denkbaren Kunstgriffe des modernen Romans, <lb n="pdi_444.016"/> durch welche er der wahre Schöpfer dieser Kunstform wurde: <lb n="pdi_444.017"/> das erfüllte sein Leben. Dagegen ist der Faust Goethes aus <lb n="pdi_444.018"/> <hi rendition="#g">Lebensmomenten des Dichters</hi> selber zusammengesetzt. <lb n="pdi_444.019"/> So ist überhaupt in der Regel sein Verfahren. Für ein inneres <lb n="pdi_444.020"/> Erlebniss findet sich ein allgemein interessirender Vorgang. Mit <lb n="pdi_444.021"/> einem Schlage, durch Inspiration vollzieht sich eine Verschmelzung, <lb n="pdi_444.022"/> nud nun beginnt. ein Process langsamer Metamorphose und Ergänzung <lb n="pdi_444.023"/> an dem gefundenen Symbol. Jahrelang trägt er in dies <lb n="pdi_444.024"/> Gefäss einer vorgefundenen oder ersonnenen Geschichte seine <lb n="pdi_444.025"/> Leiden und Freuden, die Conflicte seines Herzens, die tiefsten <lb n="pdi_444.026"/> Erschütterungen seines Gemüthes. Manchmal ein halbes Leben <lb n="pdi_444.027"/> hindurch. „Auch bildet Faust keine Ausnahme in Bezug <lb n="pdi_444.028"/> auf Charakteristik, er ist nur der Gipfelpunkt dieser Kunst. <lb n="pdi_444.029"/> In Goethe's flüchtigsten Zetteln, in seinen lyrischen Gedichten <lb n="pdi_444.030"/> erscheint sein wunderbares Vermögen, Zustände auf <lb n="pdi_444.031"/> ihrem thatsächlichen Hintergrund als Bilder hinzustellen, auf <lb n="pdi_444.032"/> das zarteste auszudrücken und in Tropen zu veranschaulichen. <lb n="pdi_444.033"/> Dann stellt er, was ihn bewegt, in dem grossen <lb n="pdi_444.034"/> Tropus einer Handlung dar, welche in schöner Verkleidung das <lb n="pdi_444.035"/> innerste Erleben auszusprechen gestattet. Lauter und rein, wie <lb n="pdi_444.036"/> die Natur selber, stellt er dies Alles hin; nie ist Jemand wahrer </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [444/0146]
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Dickens ganz die dichterische Belebung der Bilder, welche die pdi_444.002
Aussenwelt ihnen bietet. Shakespeare scheint mit den Augen pdi_444.003
aller Menschenarten in die Welt zu blicken. Er lebt mit seinem pdi_444.004
Montaigne in der Analyse menschlicher Charaktere und Leidenschaften. pdi_444.005
Er liefert in seinen grossen Dramen gleichsam Präparate pdi_444.006
der Hauptaffecte. So scheint er ganz in solcher Hingabe pdi_444.007
an die ihm gegenübertretende Wirklichkeit aufgegangen zu sein. pdi_444.008
Wenn wir das in ihm nur aus seinen Werken schliessen, so sehen pdi_444.009
wir es in Dickens. Dieser lebte in derselben Gesellschaft mit pdi_444.010
Carlyle und Stuart Mill. Er liebte Carlyle. Aber in ihm war pdi_444.011
nichts von dessen tiefsinniger Grübelei über die letzten Fragen pdi_444.012
des Lebens. Auffassung der Gesellschaft um ihn, in Liebe und pdi_444.013
Hass, unermüdliche Beobachtung der Menschennatur, mit dem pdi_444.014
tiefen Blick, den der Glaube an die Menschheit giebt, und die pdi_444.015
Ausbildung aller denkbaren Kunstgriffe des modernen Romans, pdi_444.016
durch welche er der wahre Schöpfer dieser Kunstform wurde: pdi_444.017
das erfüllte sein Leben. Dagegen ist der Faust Goethes aus pdi_444.018
Lebensmomenten des Dichters selber zusammengesetzt. pdi_444.019
So ist überhaupt in der Regel sein Verfahren. Für ein inneres pdi_444.020
Erlebniss findet sich ein allgemein interessirender Vorgang. Mit pdi_444.021
einem Schlage, durch Inspiration vollzieht sich eine Verschmelzung, pdi_444.022
nud nun beginnt. ein Process langsamer Metamorphose und Ergänzung pdi_444.023
an dem gefundenen Symbol. Jahrelang trägt er in dies pdi_444.024
Gefäss einer vorgefundenen oder ersonnenen Geschichte seine pdi_444.025
Leiden und Freuden, die Conflicte seines Herzens, die tiefsten pdi_444.026
Erschütterungen seines Gemüthes. Manchmal ein halbes Leben pdi_444.027
hindurch. „Auch bildet Faust keine Ausnahme in Bezug pdi_444.028
auf Charakteristik, er ist nur der Gipfelpunkt dieser Kunst. pdi_444.029
In Goethe's flüchtigsten Zetteln, in seinen lyrischen Gedichten pdi_444.030
erscheint sein wunderbares Vermögen, Zustände auf pdi_444.031
ihrem thatsächlichen Hintergrund als Bilder hinzustellen, auf pdi_444.032
das zarteste auszudrücken und in Tropen zu veranschaulichen. pdi_444.033
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innerste Erleben auszusprechen gestattet. Lauter und rein, wie pdi_444.036
die Natur selber, stellt er dies Alles hin; nie ist Jemand wahrer
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