Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_428.001 Zu Dichter und Publicum tritt der Kritiker als dritte pdi_428.034 pdi_428.001 Zu Dichter und Publicum tritt der Kritiker als dritte pdi_428.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0130" n="428"/><lb n="pdi_428.001"/> sinnliche Kraft: das ist also die Basis aller echten Kunst. Daher <lb n="pdi_428.002"/> ist die moderne Technik, welche diese Grundlage gediegen und <lb n="pdi_428.003"/> tüchtig herzustellen strebt, in vollem Rechte gegenüber den <lb n="pdi_428.004"/> Gedankenmalern und Ideendichtern. Wie entstünde sonst die <lb n="pdi_428.005"/> Bewegung des Herzens, welche uns fremde Schicksale wie die <lb n="pdi_428.006"/> eigenen, erdichtete wie wirkliche erleben lässt? Dann muss <lb n="pdi_428.007"/> freilich der Gegenstand das Herz wirklich bewegen und durch <lb n="pdi_428.008"/> seine im Denken erfassbaren Beziehungen bedeutend sein; das <lb n="pdi_428.009"/> vergessen unsere heutigen Künstler zu oft. ─ Aus diesen Grundeigenschaften <lb n="pdi_428.010"/> des poetischen Genusses entspringen bemerkenswerthe <lb n="pdi_428.011"/> Folgen. Die dargestellten Vorgänge rufen nie von <lb n="pdi_428.012"/> unserer Seite äussere Willenshandlungen hervor. Man erzählt <lb n="pdi_428.013"/> von Personen, welche das Schauspiel unterbrachen, um den <lb n="pdi_428.014"/> Bühnenbösewicht zu züchtigen oder die leidende Unschuld zu <lb n="pdi_428.015"/> retten. Dies setzt immer einen Irrthum über das thatsächliche <lb n="pdi_428.016"/> Verhältniss der Personen, die spielen, zu denen, welche <lb n="pdi_428.017"/> von ihnen repräsentirt werden, voraus. Wie sehr auch ein <lb n="pdi_428.018"/> Vorgang als Wirklichkeit erschüttere: wir verlieren nie das Bewusstsein <lb n="pdi_428.019"/> der Illusion. Auch können wir, so das Dargestellte <lb n="pdi_428.020"/> nachlebend, viel schneller aus einem Zustande in den anderen <lb n="pdi_428.021"/> übergehen als im wirklichen Leben. In wenigen Stunden verfolgen <lb n="pdi_428.022"/> wir durch erstaunliche Contraste hindurch die Schicksale <lb n="pdi_428.023"/> einer Romanheldin. In einen einzigen Theaterabend kann ein <lb n="pdi_428.024"/> blutgieriger Dichter ein halbes Dutzend Todesfälle zusammendrängen. <lb n="pdi_428.025"/> Dies erklärt sich daraus, dass keiner dieser Vorgänge <lb n="pdi_428.026"/> uns in allen Gedanken und Gefühlen so fest bindet und nach <lb n="pdi_428.027"/> den realen Beziehungen unsrer Existenz so mächtig erregt, als <lb n="pdi_428.028"/> die Vorfälle des natürlichen Lebens thun. Schon die Sympathie <lb n="pdi_428.029"/> mit dem Zahnweh eines Anderen ist von eigenen Zahnschmerzen <lb n="pdi_428.030"/> sehr verschieden; kommt das Bewusstsein der Illusion hinzu, <lb n="pdi_428.031"/> dann wird Schmerz und Lust im Zuschauer dem fremden Schicksal <lb n="pdi_428.032"/> gegenüber zwar reiner, aber noch schwächer.</p> <lb n="pdi_428.033"/> <p> Zu Dichter und Publicum tritt <hi rendition="#g">der Kritiker</hi> als dritte <lb n="pdi_428.034"/> Person. Der Vorgang in ihm ist derselbe, als in einem idealen <lb n="pdi_428.035"/> Leser oder Hörer. Er sollte es wenigstens sein! Wie kommt es nun, <lb n="pdi_428.036"/> dass der Kritiker den Fehler in einem Charakter bemerkt? Von </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [428/0130]
pdi_428.001
sinnliche Kraft: das ist also die Basis aller echten Kunst. Daher pdi_428.002
ist die moderne Technik, welche diese Grundlage gediegen und pdi_428.003
tüchtig herzustellen strebt, in vollem Rechte gegenüber den pdi_428.004
Gedankenmalern und Ideendichtern. Wie entstünde sonst die pdi_428.005
Bewegung des Herzens, welche uns fremde Schicksale wie die pdi_428.006
eigenen, erdichtete wie wirkliche erleben lässt? Dann muss pdi_428.007
freilich der Gegenstand das Herz wirklich bewegen und durch pdi_428.008
seine im Denken erfassbaren Beziehungen bedeutend sein; das pdi_428.009
vergessen unsere heutigen Künstler zu oft. ─ Aus diesen Grundeigenschaften pdi_428.010
des poetischen Genusses entspringen bemerkenswerthe pdi_428.011
Folgen. Die dargestellten Vorgänge rufen nie von pdi_428.012
unserer Seite äussere Willenshandlungen hervor. Man erzählt pdi_428.013
von Personen, welche das Schauspiel unterbrachen, um den pdi_428.014
Bühnenbösewicht zu züchtigen oder die leidende Unschuld zu pdi_428.015
retten. Dies setzt immer einen Irrthum über das thatsächliche pdi_428.016
Verhältniss der Personen, die spielen, zu denen, welche pdi_428.017
von ihnen repräsentirt werden, voraus. Wie sehr auch ein pdi_428.018
Vorgang als Wirklichkeit erschüttere: wir verlieren nie das Bewusstsein pdi_428.019
der Illusion. Auch können wir, so das Dargestellte pdi_428.020
nachlebend, viel schneller aus einem Zustande in den anderen pdi_428.021
übergehen als im wirklichen Leben. In wenigen Stunden verfolgen pdi_428.022
wir durch erstaunliche Contraste hindurch die Schicksale pdi_428.023
einer Romanheldin. In einen einzigen Theaterabend kann ein pdi_428.024
blutgieriger Dichter ein halbes Dutzend Todesfälle zusammendrängen. pdi_428.025
Dies erklärt sich daraus, dass keiner dieser Vorgänge pdi_428.026
uns in allen Gedanken und Gefühlen so fest bindet und nach pdi_428.027
den realen Beziehungen unsrer Existenz so mächtig erregt, als pdi_428.028
die Vorfälle des natürlichen Lebens thun. Schon die Sympathie pdi_428.029
mit dem Zahnweh eines Anderen ist von eigenen Zahnschmerzen pdi_428.030
sehr verschieden; kommt das Bewusstsein der Illusion hinzu, pdi_428.031
dann wird Schmerz und Lust im Zuschauer dem fremden Schicksal pdi_428.032
gegenüber zwar reiner, aber noch schwächer.
pdi_428.033
Zu Dichter und Publicum tritt der Kritiker als dritte pdi_428.034
Person. Der Vorgang in ihm ist derselbe, als in einem idealen pdi_428.035
Leser oder Hörer. Er sollte es wenigstens sein! Wie kommt es nun, pdi_428.036
dass der Kritiker den Fehler in einem Charakter bemerkt? Von
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |