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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Komische muss im Lustspiel eine andere Wucht haben als in pdi_425.005
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müssen ferner eine in sich abgegrenzte und geschlossene pdi_425.007
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bilden. Hiervon ist eine Anwendung die berühmte pdi_425.008
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3. Die Technik des Dichters.
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vor. Nachdem nun eine Grundlegung der Poetik gewonnen ist, pdi_425.014
ändert sich die Methode. Die literarhistorische Empirie hat jetzt pdi_425.015
die Führung. Sie muss, dem Geiste der modernen Forschung pdi_425.016
entsprechend, das ganze Gebiet der Dichtung umfassen und gerade pdi_425.017
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der bisherigen Literaturgeschichte nirgend respectiren, sondern pdi_425.022
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nehmen, wo sie sie findet. Diese muss sie dann durch die Methode pdi_425.024
"der wechselseitigen Erhellung", wie sie Scherer bezeichnet hat, pdi_425.025
unterstützen und so durch das Nahe und Zugängliche das Zeitferne pdi_425.026
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zur Verallgemeinerung benutzen und Gleichförmigkeiten ableiten. pdi_425.028
Hierbei wird sie überall von den Ergebnissen der psychologischen pdi_425.029
Grundlegung getragen und kann in keinem Punkte der psychologischen pdi_425.030
Erklärung entbehren. Denn eine Poetik ohne Psychologie pdi_425.031
benutzt eben populäre und unhaltbare Classenbegriffe und pdi_425.032
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des Drama 1863, S. 24 ff. als Regeln des Dramas zusammen mit dem Princip pdi_425.035
der Wahrscheinlichkeit entwickelt worden.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/127>, abgerufen am 23.11.2024.