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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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für die epische Poesie.


Es giebt Dinge, welche zwar in allen Welt-
altern begegnen, aber doch sehr schwer zu beschrei-
ben sind. Wenig Leute sind tüchtig sie zu be-
merken; und darum sind keine Worte gemacht
worden, solche Begriffe auszudrüken, welche von
den entferntesten Einsichten in die menschlichen
Sachen hergenommen sind. Von dieser Art ist
ein Umstand, welcher das Schiksal aller Natio-
nen begleitet. Man mag ihn den Fortgang oder
Anwachß der Sitten nennen. Er entsteht grö-
stentheils von unserm Glück oder Unglück. So
wie unsere Sachen ins Aufnehmen oder Abneh-
men kommen, so leben wir auch und so lenken
wir uns. Die grössesten Veränderungen in
denselben verursachen die merklichsten Verände-
rungen bey einer Nation: Denn die Sitten
eines Volkes bleiben selten auf einem Orte be-
stehen, sondern putzen sich aus, oder verschlim-
mern sich. Bey Nationen, wo viele Jahre lang kei-
ne merkliche Glükesveränderungen begegnen, wird
das mannigfaltige Aufnehmen oder Abnehmen in
ihrem moralischen Character desto weniger wahr-
genommen: Aber wann durch einen Landesüber-
fall oder Eroberung und Bezwingung die Gestalt
der Dinge gantz und gar verkehret; oder wenn
die Ureinwohner und ersten Anbauer eines Landes
mittelst Policey und guter Verfassungen aus ei-
nem Stand der Unwissenheit und Barbarey zu
Reichthum und Macht gelangen, alsdann werden
die Stufen des Anwachses merklich: Wir kön-

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fuͤr die epiſche Poeſie.


Es giebt Dinge, welche zwar in allen Welt-
altern begegnen, aber doch ſehr ſchwer zu beſchrei-
ben ſind. Wenig Leute ſind tuͤchtig ſie zu be-
merken; und darum ſind keine Worte gemacht
worden, ſolche Begriffe auszudruͤken, welche von
den entfernteſten Einſichten in die menſchlichen
Sachen hergenommen ſind. Von dieſer Art iſt
ein Umſtand, welcher das Schikſal aller Natio-
nen begleitet. Man mag ihn den Fortgang oder
Anwachß der Sitten nennen. Er entſteht groͤ-
ſtentheils von unſerm Gluͤck oder Ungluͤck. So
wie unſere Sachen ins Aufnehmen oder Abneh-
men kommen, ſo leben wir auch und ſo lenken
wir uns. Die groͤſſeſten Veraͤnderungen in
denſelben verurſachen die merklichſten Veraͤnde-
rungen bey einer Nation: Denn die Sitten
eines Volkes bleiben ſelten auf einem Orte be-
ſtehen, ſondern putzen ſich aus, oder verſchlim-
mern ſich. Bey Nationen, wo viele Jahre lang kei-
ne merkliche Gluͤkesveraͤnderungen begegnen, wird
das mannigfaltige Aufnehmen oder Abnehmen in
ihrem moraliſchen Character deſto weniger wahr-
genommen: Aber wann durch einen Landesuͤber-
fall oder Eroberung und Bezwingung die Geſtalt
der Dinge gantz und gar verkehret; oder wenn
die Ureinwohner und erſten Anbauer eines Landes
mittelſt Policey und guter Verfaſſungen aus ei-
nem Stand der Unwiſſenheit und Barbarey zu
Reichthum und Macht gelangen, alsdann werden
die Stufen des Anwachſes merklich: Wir koͤn-

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[7/0007] fuͤr die epiſche Poeſie. Es giebt Dinge, welche zwar in allen Welt- altern begegnen, aber doch ſehr ſchwer zu beſchrei- ben ſind. Wenig Leute ſind tuͤchtig ſie zu be- merken; und darum ſind keine Worte gemacht worden, ſolche Begriffe auszudruͤken, welche von den entfernteſten Einſichten in die menſchlichen Sachen hergenommen ſind. Von dieſer Art iſt ein Umſtand, welcher das Schikſal aller Natio- nen begleitet. Man mag ihn den Fortgang oder Anwachß der Sitten nennen. Er entſteht groͤ- ſtentheils von unſerm Gluͤck oder Ungluͤck. So wie unſere Sachen ins Aufnehmen oder Abneh- men kommen, ſo leben wir auch und ſo lenken wir uns. Die groͤſſeſten Veraͤnderungen in denſelben verurſachen die merklichſten Veraͤnde- rungen bey einer Nation: Denn die Sitten eines Volkes bleiben ſelten auf einem Orte be- ſtehen, ſondern putzen ſich aus, oder verſchlim- mern ſich. Bey Nationen, wo viele Jahre lang kei- ne merkliche Gluͤkesveraͤnderungen begegnen, wird das mannigfaltige Aufnehmen oder Abnehmen in ihrem moraliſchen Character deſto weniger wahr- genommen: Aber wann durch einen Landesuͤber- fall oder Eroberung und Bezwingung die Geſtalt der Dinge gantz und gar verkehret; oder wenn die Ureinwohner und erſten Anbauer eines Landes mittelſt Policey und guter Verfaſſungen aus ei- nem Stand der Unwiſſenheit und Barbarey zu Reichthum und Macht gelangen, alsdann werden die Stufen des Anwachſes merklich: Wir koͤn- nen A 4

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/7>, abgerufen am 29.03.2024.