Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite
Von den glücklichen Umständen.
Cum prorepserunt primis animalia terris &c.

Sie dachten vermuthlich die Rede hätte zuerst
die Menschen zahm gemachet, und wäre anfäng-
lich nichts anders als zufällige rohe Töne gewesen,
welche dieser nakete Haufe umschweifender Sterb-
lichen von ungefehr von sich gegeben hatte.

Dieses vorausgesetzt folget daraus, daß sie diese
Töne in einer viel höhern Note geäussert, als wir
izo thun. Vielleicht wurden sie dazu erstlich durch
heftige Leidenschaften als Furcht, Wunder oder
Schmertzen veranlasset, da sie nachgehends densel-
ben Ton wieder gebraucht, wann entweder dieselbe
Sache oder derselbe Umstand ihnen wieder vorge-
kommen, oder wann sie etwas, das sie in dessen Ge-
genwart gefühlt hatten, beschreiben wollen. Das
Leben der Alten war den Zufällen und der Ge-
fahr weit mehr unterworffen, eh und bevor noch
Städte gebauet, und die Menschen durch bür-
gerliche Gesellschaften beschirmet wurden. Folg-
lich muß ihre Rede anfänglich gantz affectesvoll
und metaphorisch gewesen seyn. Die Metaphern
müssen von den kühnesten gewesen seyn, jedoch
gantz natürlich; bequem die höchsten Leidenschaf-
ten auszudrüken, und von den empfindlichsten
Sachen, welche in einem einsamen wilden Le-
ben vorkommen hergenommen.

Wann sich nachgehends die Sachen dieser ro-
hen Gemeinde ein wenig gebessert haben, so daß sie
in erträglicher Sicherheit leben, und ohne Furcht
um sich her schauen können, so wird dann Ver-
wunderung und Bestürtzung nachfolgen. Dieses
sind die eigenen Leidenschaften roher und unerfahrner

Leute
Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden.
Cum prorepſerunt primis animalia terris &c.

Sie dachten vermuthlich die Rede haͤtte zuerſt
die Menſchen zahm gemachet, und waͤre anfaͤng-
lich nichts anders als zufaͤllige rohe Toͤne geweſen,
welche dieſer nakete Haufe umſchweifender Sterb-
lichen von ungefehr von ſich gegeben hatte.

Dieſes vorausgeſetzt folget daraus, daß ſie dieſe
Toͤne in einer viel hoͤhern Note geaͤuſſert, als wir
izo thun. Vielleicht wurden ſie dazu erſtlich durch
heftige Leidenſchaften als Furcht, Wunder oder
Schmertzen veranlaſſet, da ſie nachgehends denſel-
ben Ton wieder gebraucht, wann entweder dieſelbe
Sache oder derſelbe Umſtand ihnen wieder vorge-
kommen, oder wann ſie etwas, das ſie in deſſen Ge-
genwart gefuͤhlt hatten, beſchreiben wollen. Das
Leben der Alten war den Zufaͤllen und der Ge-
fahr weit mehr unterworffen, eh und bevor noch
Staͤdte gebauet, und die Menſchen durch buͤr-
gerliche Geſellſchaften beſchirmet wurden. Folg-
lich muß ihre Rede anfaͤnglich gantz affectesvoll
und metaphoriſch geweſen ſeyn. Die Metaphern
muͤſſen von den kuͤhneſten geweſen ſeyn, jedoch
gantz natuͤrlich; bequem die hoͤchſten Leidenſchaf-
ten auszudruͤken, und von den empfindlichſten
Sachen, welche in einem einſamen wilden Le-
ben vorkommen hergenommen.

Wann ſich nachgehends die Sachen dieſer ro-
hen Gemeinde ein wenig gebeſſert haben, ſo daß ſie
in ertraͤglicher Sicherheit leben, und ohne Furcht
um ſich her ſchauen koͤnnen, ſo wird dann Ver-
wunderung und Beſtuͤrtzung nachfolgen. Dieſes
ſind die eigenen Leidenſchaften roher und unerfahrner

Leute
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0016" n="16"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von den glu&#x0364;cklichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden.</hi> </fw><lb/>
        <cit>
          <quote> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">Cum prorep&#x017F;erunt primis animalia terris &amp;c.</hi> </hi> </quote>
        </cit><lb/>
        <p>Sie dachten vermuthlich die Rede ha&#x0364;tte zuer&#x017F;t<lb/>
die Men&#x017F;chen zahm gemachet, und wa&#x0364;re anfa&#x0364;ng-<lb/>
lich nichts anders als zufa&#x0364;llige rohe To&#x0364;ne gewe&#x017F;en,<lb/>
welche die&#x017F;er nakete Haufe um&#x017F;chweifender Sterb-<lb/>
lichen von ungefehr von &#x017F;ich gegeben hatte.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es vorausge&#x017F;etzt folget daraus, daß &#x017F;ie die&#x017F;e<lb/>
To&#x0364;ne in einer viel ho&#x0364;hern Note gea&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ert, als wir<lb/>
izo thun. Vielleicht wurden &#x017F;ie dazu er&#x017F;tlich durch<lb/>
heftige Leiden&#x017F;chaften als Furcht, Wunder oder<lb/>
Schmertzen veranla&#x017F;&#x017F;et, da &#x017F;ie nachgehends den&#x017F;el-<lb/>
ben Ton wieder gebraucht, wann entweder die&#x017F;elbe<lb/>
Sache oder der&#x017F;elbe Um&#x017F;tand ihnen wieder vorge-<lb/>
kommen, oder wann &#x017F;ie etwas, das &#x017F;ie in de&#x017F;&#x017F;en Ge-<lb/>
genwart gefu&#x0364;hlt hatten, be&#x017F;chreiben wollen. Das<lb/>
Leben der Alten war den Zufa&#x0364;llen und der Ge-<lb/>
fahr weit mehr unterworffen, eh und bevor noch<lb/>
Sta&#x0364;dte gebauet, und die Men&#x017F;chen durch bu&#x0364;r-<lb/>
gerliche Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften be&#x017F;chirmet wurden. Folg-<lb/>
lich muß ihre Rede anfa&#x0364;nglich gantz affectesvoll<lb/>
und metaphori&#x017F;ch gewe&#x017F;en &#x017F;eyn. Die Metaphern<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en von den ku&#x0364;hne&#x017F;ten gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, jedoch<lb/>
gantz natu&#x0364;rlich; bequem die ho&#x0364;ch&#x017F;ten Leiden&#x017F;chaf-<lb/>
ten auszudru&#x0364;ken, und von den empfindlich&#x017F;ten<lb/>
Sachen, welche in einem ein&#x017F;amen wilden Le-<lb/>
ben vorkommen hergenommen.</p><lb/>
        <p>Wann &#x017F;ich nachgehends die Sachen die&#x017F;er ro-<lb/>
hen Gemeinde ein wenig gebe&#x017F;&#x017F;ert haben, &#x017F;o daß &#x017F;ie<lb/>
in ertra&#x0364;glicher Sicherheit leben, und ohne Furcht<lb/>
um &#x017F;ich her &#x017F;chauen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wird dann Ver-<lb/>
wunderung und Be&#x017F;tu&#x0364;rtzung nachfolgen. Die&#x017F;es<lb/>
&#x017F;ind die eigenen Leiden&#x017F;chaften roher und unerfahrner<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Leute</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0016] Von den gluͤcklichen Umſtaͤnden. Cum prorepſerunt primis animalia terris &c. Sie dachten vermuthlich die Rede haͤtte zuerſt die Menſchen zahm gemachet, und waͤre anfaͤng- lich nichts anders als zufaͤllige rohe Toͤne geweſen, welche dieſer nakete Haufe umſchweifender Sterb- lichen von ungefehr von ſich gegeben hatte. Dieſes vorausgeſetzt folget daraus, daß ſie dieſe Toͤne in einer viel hoͤhern Note geaͤuſſert, als wir izo thun. Vielleicht wurden ſie dazu erſtlich durch heftige Leidenſchaften als Furcht, Wunder oder Schmertzen veranlaſſet, da ſie nachgehends denſel- ben Ton wieder gebraucht, wann entweder dieſelbe Sache oder derſelbe Umſtand ihnen wieder vorge- kommen, oder wann ſie etwas, das ſie in deſſen Ge- genwart gefuͤhlt hatten, beſchreiben wollen. Das Leben der Alten war den Zufaͤllen und der Ge- fahr weit mehr unterworffen, eh und bevor noch Staͤdte gebauet, und die Menſchen durch buͤr- gerliche Geſellſchaften beſchirmet wurden. Folg- lich muß ihre Rede anfaͤnglich gantz affectesvoll und metaphoriſch geweſen ſeyn. Die Metaphern muͤſſen von den kuͤhneſten geweſen ſeyn, jedoch gantz natuͤrlich; bequem die hoͤchſten Leidenſchaf- ten auszudruͤken, und von den empfindlichſten Sachen, welche in einem einſamen wilden Le- ben vorkommen hergenommen. Wann ſich nachgehends die Sachen dieſer ro- hen Gemeinde ein wenig gebeſſert haben, ſo daß ſie in ertraͤglicher Sicherheit leben, und ohne Furcht um ſich her ſchauen koͤnnen, ſo wird dann Ver- wunderung und Beſtuͤrtzung nachfolgen. Dieſes ſind die eigenen Leidenſchaften roher und unerfahrner Leute

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/16
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/16>, abgerufen am 29.03.2024.