GEDÄCHTNISREDE
AUF
FRIEDRICH KOHLRAUSCH
VON
H. RUBENS.
AUS DEN ABHANDLUNGEN DER KÖNIGL. PREUSS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
VOM JAHRE 1910.
BERLIN 1910.
VERLAG DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN KOMMISSION BEI GEORG REIMER.
GEDÄCHTNISREDE
AUF
FRIEDRICH KOHLRAUSCH
VON
H. RUBENS.
AUS DEN ABHANDLUNGEN DER KÖNIGL. PREUSS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
VOM JAHRE 1910.
BERLIN 1910.
VERLAG DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN KOMMISSION BEI GEORG REIMER.
Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 30. Juni 1910.
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 16. Juli 1910.
Friedrich Kohlrausch wurde der deutschen Wissenschaft am 17. Januar
d. J. durch den Tod entrissen. Mit ihm ist einer der großen Männer dahin-
gegangen, welchen der mächtige Bau der modernen Physik seine Aufrichtung
verdankt. Uns Hinterbliebenen ist es Pflicht und Trost, die großen Verdienste
des Verstorbenen zu verstehen und zu würdigen.
Friedrich Kohlrausch hat unserer Akademie 11 Jahre als korrespon-
dierendes Mitglied, 10 Jahre als ordentliches Mitglied und 5 Jahre als Ehren-
mitglied angehört. Er entstammt einer alten Gelehrtenfamilie, welche seit
mehreren Generationen bedeutende Männer hervorgebracht hat. Sein Groß-
vater Heinrich Friedrich Theodor, geboren 1780 in Landolfshausen bei
Göttingen, war ursprünglich Theologe und widmete sich später vorwiegend
der Geschichtswissenschaft und Pädagogik. Seine deutsche Geschichte, ein
viel gelesenes zweibändiges Werk, hat die stattliche Zahl von 16 Auflagen
erreicht. Er starb 1867 in hohem Ansehen, nachdem er lange als Chef des
Oberschulkollegiums zu Hannover gewirkt hatte. Sein Sohn Rudolf, ge-
boren 1809 in Göttingen, studierte in seiner Vaterstadt, in welcher damals
das Doppelgestirn Gauß und Weber leuchtete, Physik und Mathematik.
Er wurde 1833 Lehrer an der Ritterakademie zu Lüneburg und lehrte dann
nacheinander an den Gymnasien zu Rinteln, Cassel und Marburg, wo er zu-
gleich als Professor extraordinarius an der Universität Vorlesungen hielt.
1857 folgte er einem Ruf als ordentlicher Professor nach Erlangen; doch ist
ihm daselbst nur eine kurze Zeit des Wirkens beschieden gewesen. Schon
im darauffolgenden Jahre raffte ein inneres Leiden den im besten Mannesalter
stehenden Forscher nach längerem Krankenlager dahin. Rudolf Kohlrausch
hat sich durch seine berühmte, in Gemeinschaft mit Wilhelm Weber
ausgeführte Messung des Verhältnisses der elektrostatischen und elektro-
magnetischen Stromeinheit ein bleibendes Denkmal in der Geschichte unserer
Wissenschaft errichtet. Seinem Sohne Friedrich aber war es beschieden,
den angestammten väterlichen Namen zu noch höherem Ansehen zu bringen.
1*
4 RUBENS:
Geboren am 14. Oktober 1840 zu Rinteln, bestimmten ihn natürliche
Veranlagung und das väterliche Beispiel dazu, sich gleichfalls der Physik
zu widmen. Er studierte in Erlangen und Göttingen und geriet dort,
ebenso wie sein Vater unter den Einfluß der machtvollen Persönlichkeit
Wilhelm Webers. 1863 promovierte er mit einer Arbeit über die elasti-
sche Nachwirkung und erhielt bereits im folgenden Jahre einen Ruf als
Dozent an den Physikalischen Verein zu Frankfurt a. M., eine bescheidene
Stellung, welche ihm aber reichlich Zeit zu eigenen Arbeiten gewährte.
Über die äußeren Hilfsmittel, welche ihm das Frankfurter Laboratorium
darbot, erfahren wir einiges Charakteristische aus einem Briefe, welchen
er 1908 an den Physikalischen Verein gelegentlich der Einweihung des
neuen Laboratoriums richtete. Er schreibt:
»Damals, in den Jahren 1864—66, hatte Kollege BoettgerDozent für Chemie an dem Physikalischen Verein. eine Höhle
neben dem Hörsaal, einer anderen Höhle; und auf der anderen Seite vom
Hörsaal bildete eine dritte Höhle die Physikalische Sammlung mit mir.
Außer diesem Raum stand mir ein Zimmer im dritten Stock zur Verfügung.
Es war also dafür gesorgt, daß der junge Physiker reichlich Bewegung
hatte, um gesund zu bleiben, welch letzteres in der Tat erzielt wurde. Und
erzogen wurde er zu einfachen Ansprüchen, und zwar solchen, die ihn bis
auf die Reinigungsarbeiten, zu denen täglich ein Frankfurter Militärinvalide
einmal erschien, ganz auf sich selbst anwiesen, einschließlich teilweise der
Ofenheizung. In Summa Zustände, die der jetzigen Generation als unmög-
lich erscheinen würden.
Die Einfachheit brachte aber auf der anderen Seite den unschätzbaren
Vorteil, daß man durch Verwaltung und andere Nebendinge nicht belästigt
wurde. Alles in allem, hätte ich heute zwischen einem glänzenden Institut
zu wählen und den damaligen Höhlen, ich würde mich vielleicht für die
letzteren entscheiden.«
Hier tritt Kohlrauschs einfacher und bescheidener Sinn, welcher
eine der wesentlichsten Seiten seines Charakters bildete, in besonders ge-
winnender Weise hervor.
Im Jahre 1866 folgte Kohlrausch einem Ruf als außerordentlicher
Professor nach Göttingen, wo er in Gemeinschaft mit Wilhelm Weber
eine intensive Lehr- und Forschertätigkeit ausübte. Seine weitere Lauf-
Gedächtnisrede auf Friedrich Kohlrausch. 5>
bahn führte ihn 1870 als Ordinarius an das Polytechnikum in Zürich, 1871
in gleicher Eigenschaft an die Technische Hochschule in Darmstadt, 1875
endlich als Nachfolger August Kundts an die Universität in Würzburg,
an welcher er 13 Jahre hindurch eine glückliche Lehr- und Forschertätig-
keit entfaltete. Diese Zeit seiner Würzburger Professur ist in wissenschaft-
licher Beziehung die fruchtbarste seines Lebens geworden. Hier hat er
seine berühmten Versuche über elektrische Maßbestimmungen und über die
Leitfähigkeit der Elektrolyte vollendet; hier ist es ihm zuerst möglich ge-
wesen, in dem neuerbauten physikalischen Institut den systematischen La-
boratoriumsunterricht in der von ihm angestrebten Weise durchzuführen.
Als August Kundt 1888 nach Berlin berufen wurde, gelang es der Straß-
burger Fakultät, Kohlrausch zur Annahme der frei gewordenen Professur
zu bestimmen, und als sechs Jahre später August Kundt der Wissen-
schaft durch einen jähen Tod entrissen wurde, erging wiederum an Kohl-
rausch der Ruf, den verwaisten Lehrstuhl an der Berliner Universität zu
besetzen. Die Frage, ob er diesem ehrenvollen Ruf folgen solle, ob es für
ihn richtig sei, die größere Ruhe und geistige Konzentration, welche die
kleinere Universität bietet, gegen die in mancher Beziehung großartigere
Lehrtätigkeit an der Riesenuniversität der Reichshauptstadt zu vertauschen,
hat ihn lange und intensiv beschäftigt. Aber kaum war Friedrich Kohl-
rausch nach reiflicher Ūberlegung zu einem ablehnenden Bescheid gelangt,
als er von neuem vor diese Frage in etwas veränderter Form gestellt
wurde. Wenige Monate nach August Kundts Tod verlor die deutsche
Wissenschaft auch denjenigen Mann, welcher neben Galilei und Newton
als der größte Meister der Physik angesehen werden muß, Hermann von
Helmholtz. Es ergab sich die Notwendigkeit, unter den Physikern
Deutschlands nach einem geeigneten Präsidenten der physikalisch-tech-
nischen Reichsanstalt Umschau zu halten, und hier konnte die Wahl nicht
zweifelhaft sein. Gerade auf dem hier in Betracht kommenden Gebiete
der exakten Messungen hatte Kohlrausch in Deutschland nicht seines-
gleichen. Als Nachfolger von Helmholtz an die Reichsanstalt berufen,
hat er sich der Verpflichtung, sein vielseitiges Wissen und die reichen
Schätze seiner Erfahrung in den Dienst dieses wohl einzig in der Welt da-
stehenden Forschungsinstituts zu stellen, nicht entziehen mögen. Zehn
Jahre hindurch hat er sich mit der ihm eigenen Pflichttreue dem großen
Werke gewidmet, und es darf ihm das hohe Lob gespendet werden, daß
6 RUBENS:
es ihm gelungen ist, die Reichsanstalt während dieser Zeit auf der gleichen
Höhe wissenschaftlichen Ansehens und Ruhmes zu halten, welche sie unter
seinem großen Vorgänger eingenommen hatte. Leider war jedoch Kohl-
rauschs zarte Gesundheit der großen Arbeitslast, welche ihm insbesondere
der Verwaltungsapparat des weitverzweigten Betriebes aufnötigte, auf die
Dauer nicht gewachsen. So kam es, daß er im Jahre 1905 von seinem
Amte zurücktrat, um den Rest seines Lebens der Pflege seiner Gesundheit
und der geliebten wissenschaftlichen Forschungsarbeit im stillen Labora-
torium, fernab von dem Getriebe der Großstadt, zu widmen. Er wählte
Marburg als Aufenthaltsort, welches ihm von der Jugendzeit her vertraut
war. Dort richtete ihm Professor Richarz in den Räumen des physi-
kalischen Universitätsinstituts ein gutes Privatlaboratorium ein. Von Mar-
burg aus hatte es Kohlrausch auch nicht weit zu dem ihm ans Herz
gewachsenen Jugenheim an der Bergstraße, wo er über 40 Jahre lang
gegenüber dem Wechsel seiner Aufenthaltsorte gleichsam eine zweite
ruhende Heimat gefunden hatte. Sein Gesundheitszustand hatte sich
sichtlich gebessert, und das Erscheinen einer Reihe von interessanten Ab-
handlungen bewies, daß auch seine alte Schaffensfreudigkeit nicht ge-
schwunden war. So traf Friedrich Kohlrauschs plötzlicher Tod, welcher
ihn kurz vor der Vollendung seines 70. Lebensjahres dahinraffte, seine Fach-
genossen und Freunde völlig überraschend. Zu seinem 70. Geburtstage
hatten ihm seine Schüler und Kollegen eine großartige Ehrung vorbereitet.
Das unerbittliche Schicksal hat diesen freudigen Ausdruck dankbarer Ver-
ehrung für den lebenden Forscher in eine Gedenkfeier für den großen Toten
verwandelt.
Kohlrauschs wissenschaftliche Arbeiten ließen von Anfang an die
Eigenart seiner Begabung klar und deutlich hervortreten. Zwar verfügte
er über ein bedeutendes theoretisches Wissen, welches ihm insbesondere
in der Auswahl der Probleme von Nutzen war, aber stets ist sein Ziel in
erster Linie auf die Feststellung des Tatbestandes gerichtet gewesen. Über-
raschend groß ist auch die Zahl neuer experimenteller Methoden und sinn-
reich konstruierter Meßinstrumente, mit welchen er die Physik bereichert
hat. Die Geschicklichkeit und Sorgfalt, mit welcher Kohlrausch diese
Instrumente und Methoden selbst anzuwenden verstand, ist wohl von keinem
Physiker übertroffen worden. Mit berechtigtem Stolze dürfen wir auf diesem
Gebiete unseren Friedrich Kohlrausch mit dem großen französischen
Gedächtnisrede auf Friedrich Kohlrausch. 7
Meister der physikalischen Meßkunde Henri Victor Régnault auf eine
Stufe stellen.
Unter Friedrich Kohlrauschs metrologischen Arbeiten sind in erster
Linie seine Ohmbestimmung und die in Gemeinschaft mit seinem Bruder
Wilhelm 1885 ausgeführte Messung des elektrochemischen Äquivalents
des Silbers zu nennen. Die große Bedeutung dieser beiden klassischen
Untersuchungen liegt nicht nur in der bewundernswerten Genauigkeit des
gewonnenen Zahlenergebnisses, welche durch neuere Arbeiten nicht über-
troffen worden ist; ein fast ebenso großer Nutzen ist in der für die ge-
samte Physik äußerst wichtigen Durchbildung der erdmagnetischen Meß-
methoden und in der Konstruktion bequemer und genauer magnetischer
Meßinstrumente zu erblicken, welche in jenen Arbeiten zur Anwendung
gelangten. Auch verdanken wir ihnen dasjenige Verfahren zur Vergleichung
kleiner Widerstände, welches bis auf den heutigen Tag als das beste gilt,
die Methode des übergreifenden Nebenschlusses.
Aus der Fülle seiner übrigen Arbeiten sollen an dieser Stelle nur
wenige hervorgehoben werden, welche einen besonders großen Einfluß auf
die Entwicklung unserer Wissenschaft ausgeübt haben.
Wertvollen Einblick in ein bis dahin wenig aufgeklärtes Gebiet ge-
währte Kohlrauschs Untersuchung über Thermoelektrizität, Wärme- und
Elektrizitätsleitung. Angeregt durch einen zuerst von seinem Freunde L. Her-
mann in Zürich ausgesprochenen Gedanken, hat Kohlrausch den erfolg-
reichen Versuch unternommen, die elektromotorische Kraft der Thermo-
elemente nicht, wie bis dahin üblich, durch einen in der Kontaktfläche
der aneinander grenzenden Metalle sich abspielenden Vorgang darzustellen,
sondern die beobachteten Erscheinungen auf Grund der Annahme zu be-
schreiben, daß mit jedem Wärmestrom in bestimmtem, von der Natur des
Leiters abhängigen Maße ein elektrischer Strom verbunden sei. Er ergänzte
diese Hypothese durch die weitere Annahme, daß durch einen elektrischen
Strom auch die Wärme in bestimmter Weise mitbewegt würde. Es findet
dann nicht nur das Auftreten des bekannten Peltierschen Phänomens seine
Erklärung, sondern die Kohlrauschsche Strömungstheorie ist auch im-
stande, über den sogenannten Thomsoneffekt Aufschluß zu geben, was die
Kohlrauschsche Erklärungsweise der Thermoelektrizität durch eine auf
die ältere Theorie nicht zu leisten vermochte. Erst in neuester Zeit ist
der modernen Elektronentheorie fußende Anschauung abgelöst worden, welche
8 RUBENS:
wir in erster Linie Paul Drude verdanken. Aber auch die Drudesche
Theorie erklärt die Thermokräfte und den Peltiereffekt nicht durch Vor-
gänge in der Grenzfläche, sondern durch Bewegung der Elektronen in den
Leitern selbst. Sie schließt sich in diesem Punkte der Anschauung Kohl-
rauschs an und darf in diesem Sinne als eine Weiterentwicklung der-
selben angesehen werden.
Aber auf keinem Gebiete ist der Name Friedrich Kohlrauschs so
innig mit der Geschichte unserer Wissenschaft verknüpft wie in der Lehre
von der elektrolytischen Leitung. Die Verdienste, welche er sich um
diesen Zweig der physikalischen Forschung erworben hat, sind allein aus-
reichend, um ihm einen Ehrenplatz in der Reihe der ersten Experimen-
tatoren aller Zeiten zu sichern. Es ist erforderlich, hier auf diese Unter-
suchungen etwas näher einzugehen.
Während man über den Widerstand metallischer Leiter seit Ohms
epochemachender Entdeckung in weitgehendem Maße unterrichtet war,
lagen auf dem Gebiete der elektrolytischen Leitung, als sich Kohlrausch
diesem Gegenstande zuerst widmete, außer einigen spärlichen Zahlen von
Beetz und Paalzow keine Angaben vor. Durch Verwendung von Wechsel-
strom an Stelle des bis dahin ausschließlich angewendeten Gleichstroms
gelang es Kohlrausch mit einem Schlage, die größte Schwierigkeit,
welche erfolgreichen Messungen auf diesem Gebiet entgegengestanden
hatte, nämlich die Einwirkung der Polarisation, vollkommen zu beseitigen
und damit ein großes neues Gebiet der Forschung zu erschließen. Er be-
gann diese berühmte Reihe von Experimentaluntersuchungen mit einer
sorgfältigen Prüfung des Ohmschen Gesetzes für Leiter zweiter Klasse.
Es gelang ihm im Jahre 1869 in Gemeinschaft mit W. A. Nippoldt den
Nachweis zu führen, daß bis herab zu elektromotorischen Kräften von
\nicefrac{1}{429000} Grove das Ohmsche Gesetz innerhalb der Grenzen der Beobachtungs-
fehler für Elektrolyte Geltung besitzt. Als Beispiel für die Anwendung seiner
neuen Methode, bei welcher ein Sinusinduktor als Stromquelle, ein Weber-
sches Elektrodynamometer als Meßinstrument verwendet wurde, bestimmte
er das Leitvermögen der Schwefelsäure bei verschiedener Konzentration.
Im Jahre 1875 war Kohlrauschs Wechselstrommethode zur Bestimmung
des elektrolytischen Leitvermögens schon so weit verbessert, daß nach des
Autors eigenen Worten »von den drei Größen, deren Messung gefordert
wird, nämlich Prozentgehalt, Temperatur und elektrolytischer Widerstand,
Gedächtnisrede auf Friedrich Kohlrausch. 9
der letztgenannte bei gleichem Aufwand von Sorgfalt die geringsten Fehler-
quellen enthält«. Es wurden 35 Salzlösungen bei drei verschiedenen Tem-
peraturen untersucht. 1876 kam eine große Zahl von Säuren hinzu, 1879
weitere 158 Lösungen von 40 verschiedenen Körpern. Auch wurden in dem-
selben Jahre drei wichtige experimentelle Verbesserungen eingeführt: die
Vergrößerung der Elektrodenflächen durch Überziehen mit Platinschwarz,
die Verwendung des Induktoriums mit Neefschem Hammer an Stelle des
Sinusinduktors und der Ersatz des Elektrodynamometers durch das Bell-
sche Telephon. Das nunmehr vorliegende gewaltige Beobachtungsmaterial
gestattete schon eine ziemlich gute Übersicht und ließ ein Gesetz von
fundamentaler Wichtigkeit erkennen, welches aussagt, daß innerhalb einer
stark verdünnten Lösung einer jeden Ionengattung ein ganz bestimmter
Widerstand zukommt, dessen Größe von der Zusammensetzung des Mole-
küls unabhängig ist, aus welchem sich das Ion durch Dissoziation gebildet
hat. Ist der Widerstand einer jeden Ionenart ein für allemal bestimmt,
so läßt sich daraus das Leitvermögen verdünnter Lösungen berechnen.
Dieses Gesetz von der unabhängigen Wanderung der Ionen bildet heute die
Grundlage unserer Anschauung auf dem Gebiet der elektrolytischen Leitung
und ist deshalb auch für die physikalische Chemie von großer Bedeutung.
Unter Kohlrauschs elektrolytischen Arbeiten beansprucht die in Ge-
meinschaft mit Hrn. Heydweiller angestellte Untersuchung der Leitfähigkeit
des reinen Wassers besonderes Interesse. Durch Eindestillieren des Wassers
in Glasgefäße unter Luftabschluß, welche durch lange Berührung mit Wasser
fast alle löslichen Bestandteile der Wände abgegeben hatten, war es den
Verfassern möglich, ein Wasser von nie dagewesener Reinheit, entsprechend
geringem Leitvermögen und hohem Temperaturkoeffizienten zu erzielen.
Es ergab sich, daß dieses Wasser etwa 200mal schlechter leitete, als das
unter gewöhnlichen Bedingungen an der Luft destillierte, und es ließ sich
theoretisch berechnen, daß es sich in seinem Leitvermögen von dem ab-
solut reinen Wasser nur noch um etwa 10 Prozent unterschied.
Kohlrausch hat in einem besonderen Werk, welches er 1898 zusammen
mit Hrn. Holborn veröffentlichte, die experimentellen Methoden zur Be-
stimmung des Leitvermögens von Elektrolyten, das gesamte auf die moderne
Widerstandseinheit umgerechnete Beobachtungsmaterial und die theoreti-
schen Folgerungen, welche sich aus den Versuchsergebnissen ziehen lassen,
in übersichtlicher Weise zusammengestellt. Die imponierende Größe des
Phys.-math. Klasse. 1910. Gedächtnisr. I. 2
10 RUBENS:
von Kohlrausch geschaffenen Werks tritt uns in diesem Buche besonders
klar vor Augen.
Der Einfluß, welchen Kohlrausch auf unsere Wissenschaft ausgeübt
hat, ist jedoch keineswegs auf seine Forschertätigkeit beschränkt geblieben.
Als Lehrer gehört er zu den großen Reformatoren, denen wir die Durch-
bildung des modernen physikalischen Laboratoriumsunterrichts verdanken.
Hierzu haben nicht nur die von ihm selbst abgehaltenen Vorlesungen und
Übungen, sondern in erster Linie sein klassisches Lehrbuch der praktischen
Physik beigetragen.
Als Kohlrausch in Göttingen die ersten praktischen Übungen ab-
hielt, waren die Anfänge eines systematischen physikalischen Laboratoriums-
unterrichts wohl nur bei Magnus in Berlin und bei Neumann in Königs-
berg vorhanden. Erwiesen sich schon die Apparatensammlungen der meisten
physikalischen Kabinette für die Zwecke physikalischer Übungen als unzu-
reichend, so war dies doch in noch viel höherem Grade von den vorhandenen
Lehrbüchern zu behaupten. Bei der Lösung der meisten Aufgaben war der
Praktikant genötigt, sich die erforderlichen praktischen Anweisungen aus
den Originalabhandlungen zusammenzusuchen. Diese Schwierigkeit hatte
Kohlrausch dazu veranlaßt, eine kleine Aufgabensammlung mit kurzen
theoretischen und praktischen Erörterungen für den speziellen Gebrauch
der unter seiner Leitung arbeitenden Praktikanten zusammenzustellen. Erst
viel später entschloß er sich dazu, auf den Rat seines Lehrers Wilhelm
Weber, dieses Werk unter dem Titel eines Leitfadens der praktischen
Physik der Öffentlichkeit zu übergeben. Seit dieser Zeit ist mehr als ein
Menschenalter vergangen. In elf Auflagen hat dieses in seiner Art einzig
dastehende Werk auf die Entwicklung der Physik hervorragenden Einfluß
ausgeübt. Daß es dabei im Laufe der Zeit, den Fortschritten der Wissen-
schaft folgend, an Inhalt und auch an Umfang zunehmen mußte, war
unvermeidlich. Aus dem »Leitfaden« ist ein stattliches »Lehrbuch« ge-
worden. Aber Kohlrausch hat es meisterhaft verstanden, trotz des be-
deutend erweiterten Inhalts den Umfang des Lehrbuchs in mäßigen Grenzen
zu halten.
Einen wie großen Teil seiner Lebensarbeit Kohlrausch auf die wissen-
schaftliche Durcharbeitung seines Lehrbuchs verwendet hat, geht am besten
aus seinen eigenen Worten hervor, mit welchen er die Vorrede zu der
letzten, in diesem Jahre erschienenen Auflage beginnt. Diese Worte lauten:
Gedächtnisrede auf Friedrich Kohlrausch. 11
»Jeder muß schließlich mit dem Geschick rechnen, daß seine Kräfte
eine bisher gewohnte Arbeit nicht mehr leisten, und es wird kaum eine
falsche Prognose sein, wenn ich, ungeachtet der vielseitigen und hingebenden
Unterstützung, bei einer etwaigen künftigen Auflage jenen Zeitpunkt für
den Verfasser als eingetreten erachte. Es empfiehlt sich deswegen, zur
Sicherheit Abschied zu nehmen von dieser Arbeit, die sich zudem in
40 Jahren, getrieben durch die Entwickelung des Unterrichts und der
Forschung so erweitert und zu einem so starken Bruchteil der Lebenstätig-
keit ausgewachsen hat, daß der Verfasser zweifelt, ob er sie mit dieser
Aussicht unternommen haben würde.«
Es klingt in diesen Worten wie Todesahnung. Kurze Zeit nach ihrer
Niederschrift hat uns der Tod des großen Mannes beraubt, welcher bis
dahin der Stolz unserer Wissenschaft und eine Zierde unserer Akademie
gewesen war.
Seine wissenschaftlichen Werke sichern ihm Unsterblichkeit. Solange
es Menschen geben wird, welchen Freude am Erkennen eigen ist, welche
Verständnis für die großen Ziele unserer Wissenschaft besitzen und Hoch-
achtung empfinden vor der ehrlichen Gelehrtenarbeit im großen wie im
kleinen, wird Friedrich Kohlrauschs Name unvergessen sein. Uns aber,
die wir des Glückes teilhaftig geworden sind, ihm als Freunde, Kollegen
und Schüler näherzutreten, uns wird sein gütiges Herz, sein einfaches und
vornehmes Wesen, seine edle Persönlichkeit einen nicht weniger tiefen und
bleibenden Eindruck hinterlassen.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
Sonderabdrucke aus den Abhandlungen der Akademie
von den Jahren 1906, 1907, 1908, 1909, 1910.
Physikalisch-mathematische Classe.
KLEIN: Studien über Meteoriten, vorgenommen auf Grund des Materials der
Sammlung der Universität Berlin. 1906 . . . . . . . . . . . ℳ 7.—
BRANCA: Die Anwendung der Röntgenstrahlen in der Paläontologie. 1906 . » 5.—
HERTWIG und H. POLL: Zur Biologie der Mäusetumoren. 1907 . . . . . » 4.—
BRANCA und E. FRAAS: Die Lagerungsverhältnisse Bunter Breccie an der
Bahnlinie Donauwörth-Treuchtlingen und ihre Bedeutung für das Ries-
problem. 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . » 3.—
BRANCA: Sind alle im Innern von Ichthyosauren liegenden Jungen ausnahmslos
Embryonen? 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . » 2.—
STRUVE: Beobachtungen des Saturnstrabanten Titan am Königsberger und
Berliner Refractor. 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . » 2.50
BRANCA: Fossile Flugthiere und Erwerb des Flugvermögens. 1908 . . . . » 2.—
WALDEYER: Der Processus retromastoideus. 1909. . . . . . . . . . » 3.—
L. EDINGER: Über das Gehirn von Myxine glutinosa. 1906 . . . . . . . ℳ 4.50
N. HERZ: Sterncatalog für die Zone von 6° bis 10° südlicher Declination.
Erste Abtheilung. 1906. ℳ 5.—. Zweite Abtheilung. 1907 . . . . » 4.—
K. GORSANOVIĆ-KRAMBERGER: Die geotektonischen Verhältnisse des Agramer
Gebirges und die mit denselben im Zusammenhang stehenden Erschei-
nungen. 1907. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . » 2.50—
L. JACOBSOHN: Über die Kerne des menschlichen Rückenmarks. 1908 . . . » 5.50
L. JACOBSOHN: Über die Kerne des menschlichen Hirnstamms. 1909 . . . » 5.—
A. KORN: Über Minimalflächen, deren Randkurven wenig von ebenen Kurven
abweichen. 1909 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . » 2.—
E. MALONE: Über die Kerne des menschlichen Diencephalon. 1910 . . . » 6.—
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.