Armuth.
In Wirklichkeit ist allerdings die Armuth eine Ausjäte-
Erscheinung, die Schwächsten fallen ihr am ehesten zum
Opfer. Allein dies ist doch nicht immer der Fall, eine
beträchtliche Quote der Armuth, wie z. B. ein Theil des
Krisenelends ist sicher nonselectorischen Charakters. Jeden-
falls besitzen wir in dem oekonomischen Kampf um’s Dasein
eine ausserordentlich wirksame Art der natürlichen Auslese.
Dies behält dadurch nicht minder seine Bedeutung, wenn
wir zugeben, dass die Armuth in Folge unserer wirthschaft-
lichen EinrichtungenVgl. Marx, Karl. Das Capital. I. Bd. III. Aufl. Hamburg 1883. in beinahe demselben Grade be-
bestehen würde, wenn alle Individuen gleich hoch begabt
wären. Es trifft nur eben nicht zu, dass „alle Menschen,
gleich geboren, sind ein adliges Geschlecht,“ sondern so
sehr es in vielen Fällen unmöglich ist, zwischen ursprüng-
licher Anlage und späteren Wirkungen der Umgebung zu
unterscheiden, so wird doch kein Naturwissenschaftler, am
wenigsten ein Arzt, die grossen natürlichen Unterschiede
in den Anlagen der Menschen abläugnen.
Wir wollen die ökonomische Ausjäte hier noch etwas
genauer in’s Auge fassen, da sie auch für das nächste
Capitel, in dem die Folgen ihres Fortfalls besprochen wer-
den sollen, eine hervorragende Bedeutung hat. Besonders
wird es nöthig sein, das Märchen vom gesunden armen
Mann, dem seine frugale Lebensweise die Kraft erhalten
hat, mit der Statistik zu confrontiren, um zu sehen, ob
etwa dadurch die ausjätende Potenz der Armuth in Frage
gestellt wird.
Zur ökonomischen Ausmerzung würde jede Schädi-
gung der Individuen in Zeugung und Kinderpflege aus
Mangel oder aus einem Zuviel an sogenannten wirthschaft-
lichen Tugenden gehören, indem die nothwendigen Güter
zur Gewinnung eines Gatten und zur Pflege der Kinder,
natürlich auch zur eigenen Erhaltung nicht gesammelt oder
bewahrt werden können.
Die Zahl der Nährstellen ist eine stets schwankende,
hier anschwellend, z. B. durch Eröffnung neuer Siedelungs-
oder Waarenabsatz-Gebiete, dort zurückgehend durch Krisen
oder stark arbeitsparende Maschinen. Aber stets ist sie
auf die Dauer eine verhältnissmässig beschränkte und zwingt
desshalb, abgesehen von den nonselectorischen Momenten
in Krisen, Strikes, Lockouts, zum wirthschaftlichen Kampf
um’s Dasein unter den zu zahlreichen Bewerbern. Die
Eigenschaften, die darin zum Siege helfen, sind bei der
Verschiedenheit der Anforderungen, die an diese Bewerber
um die verschiedenen Nährstellen gestellt werden, jeden-
falls sehr mannigfaltig. Im Grossen und Ganzen kann man
aber doch sagen, dass sie bestehen in einer guten Con-
stitutionskraft, vor allem gut entwickelter Intelligenz und
Arbeitskraft, einigen moralischen Hemmungen, einem ge-
wissen Verhältniss von Altruismus und Egoismus und last
not least einer ziemlichen Fähigkeit zu lügen und zu heucheln.
Die gute Constitutionskraft sichert geistige und körper-
liche Arbeitsfähigkeit und Widerstandskraft gegen die Schäd-
lichkeiten der Arbeit. Ihr Intelligenztheil zeigt den Haupt-
punkt bei aller Wirthschaft, das richtige Verhältniss zwischen
Kostenwerth und Gebrauchs-, bezw. Tauschwerth, zwischen
Ausgabe und Einnahme, vergrössert die Ergiebigkeit der
Arbeit und schützt vor dem Strafgesetz und sonstigen allzu
starken Conflicten mit Gesellschaft oder den Individuen.
Die moralischen Hemmungen leisten dieses Letztere eben-
falls, nur auf anderem Wege. Das richtige Verhältniss
altruistischer und egoistischer Neigungen sorgt für ein
günstiges, die Individual-Wirthschaft nicht beeinträchtigendes
Verhältniss zwischen den empfangenen Leistungen, wie sie
den Altruisten vielfach von den Nebenmenschen zu Theil
werden, und den Rückleistungen, die der Egoismus nicht
zu hoch ansteigen lässt. Es giebt natürlich auch genug
Fälle, wo ein ungemischter Egoismus — auch ohne non-
selectorische Glücksmomente — den grössten wirthschaft-
lichen Erfolg davonträgt, wie z. B. im Falle Jay Gould’s,
allein für die grosse Masse trifft das wohl kaum zu, mindestens
muss ein gewisses Maass von Altruismus geheuchelt werden.
Was die Heuchelei anlangt, so weiss Jeder, dass oft genug,
abgesehen von den directen Lügen aus Habgier, von den
conventionellen Lügen bis zur groben Heuchelei alles auf-
gewandt wird, um den Anschauungsabstand von den Mit-
menschen nicht zu gross erscheinen zu lassen. Sonst würde
für einen Bewerber um wirthschaftliche Gunst die Gefahr
zu gross, von einem Anderen verdrängt zu werden, dessen
zur Schau getragene Meinungen in dem Gehirn des Gunst-
verleihers nicht so viele Reibungen verursachen.
Nebenbei gesagt, liegt hierin eine grosse und allge-
meine Entwürdigung, in die das heutige capitalistische System
die übergrosse Mehrzahl der Menschen hineinzwängt.
Die Ausmerzung nun in diesem wirthschaftlichen Kampf
um’s Dasein besteht hauptsächlich aus Folgendem: erstens
Tod in Folge von Hunger oder Krankheiten, die durch
Mangel, Schmutz, Unwissenheit, Sorgen und andere Be-
gleiterscheinungen der Armuth entstehen, kurz Armuths-
Sterblichkeit; zweitens Ehelosigkeit oder verminderte Kinder-
zeugung durch absolute oder relative Armuth, auch Ar-
muths-Krankheiten, sowie durch sonstige geistige und
körperliche Folgezustände der Armuth, kurz Armuths-
Praevention; endlich drittens jede Schädigung, von denen
die Keime und die Kinder während der Zeit ihres Heran-
wachsens durch die Armuth der Eltern getroffen werden.
Die Schädigungen dieser letzten Kategorie würden natür-
lich für eine spätere Zeit auch entweder auf Armuths-Tod
oder Armuths-Praevention hinauslaufen, so dass es nur
dann Werth hat, diese Kategorie überhaupt aufzustellen,
wenn die gesammte wirthschaftliche Ausjäte zu einem ge-
gebenen Zeitpunkt betrachtet werden soll.
Um nun den Inhalt der wirthschaftlichen Ausjätung
etwas specialisiren zu können, wollen wir die Einflüsse der
Armuth schlechtweg auf Gesundheitszustand, Eheschliessung
und Geburtenziffer in’s Auge fassen. Das ist insofern nicht
ganz correct, als die Armuth in ihrer Gesammtheit nicht
die Folge des wirthschaftlichen Kampfes um’s Dasein allein
ist, sondern ausserdem giebt es ja noch die Armuth durch
die nonselectorischen Einflüsse der Krisen, der Einführung
von Maschinen etc. und des blossen Umstandes der Geburt
in Familien, die durch solche nonselectorischen Momente
arm geworden sind. Aber der Fehler bezieht sich haupt-
sächlich nur darauf, dass der Begriff der Gesammt-Armuth
ein quantitativ umfassenderer ist, als der der wirthschaftlichen
Ausjäte, ihre spezielle Beschaffenheit und die Art ihrer
Folgen sind so ziemlich dieselben. Höchstens könnte man
anführen, dass bei der nonselectorischen Armuth die Ent-
artung des Familienlebens und das hoffnungslose Erlahmen
nicht so häufig eintritt eben durch das öftere Vorhanden-
sein guter wirthschaftlicher Eigenschaften, so dass also die
nonselectorische Armuth im Allgemeinen die weniger schäd-
liche Art wäre. Allein es ist unmöglich, darüber eine ge-
gründete Meinung auszusprechen, da wohl in sehr vielen
Fällen die guten wirthschaftlichen Eigenschaften den Ar-
muths-Einflüssen bald zur Beute fallen.
Eine vage Anschauung von dem gegenseitigen Verhältnis
des selectorischen und nonselectorischen wirthschaftlichen
Untergangs in gewissen Kreisen des Volks mögen folgende
von dem World AlmanacThe World Almanac und Encyclopedia. New-York 1894. S. 176. nach Bradstreet’s Journal
gelieferten Zahlen geben. Von den 12394 Bankerotten
des Jahres 1891 in den Vereinigten Staaten von Amerika
kamen in Procenten auf folgende Ursachen und hatten
folgende Procente der Gesammtverpflichtungen aller
Bankerotteure:
Den Posten mit der Bezeichnung Mangel an Capital
müssen wir aus der Betrachtung fortlassen, da in ihm ja
schon viele Ärmere inbegriffen sind, was auch dadurch
documentirt wird, dass der Antheil dieses Postens an den
Verpflichtungen (32 $%$) ein gut Theil hinter seinem Antheil
an der Zahl der Bankerotte (39,2 $%$) zurückbleibt. Von
den noch übrig bleibenden 61 $%$ können wir 34, d. h.
etwa die Hälfte, eher als wirthschaftliche Ausjäte betrachten,
nämlich die Posten Unfähigkeit, Unerfahrenheit, unkluger
Credit, Verschwendung, Nachlässigkeit, Speculation und
Betrug, und 27, die kleinere Hälfte, eher als Folge non-
selectorischer wirthschaftlicher Factoren ansehen, nämlich
die Posten Bankerott Anderer, Concurrenz, Unglücke und
Krisen. Einen exacten Werth können diese Zahlen natürlich
schon deshalb nicht haben, weil die wahren Ursachen
der Bankerotte nicht immer leicht festzustellen sind.
Wir haben demnach gar keine andere Möglichkeit, als
uns an die Gesammt-Armuth zu halten. Eine Betrachtung
der Beziehungen der Armuth zur Constitutionskraft und zur
Qualität der erzeugten Devarianten ist nicht nur nothwendig,
um die Folgen der ökonomischen Ausjätung zu charakte-
risiren, sondern wir müssen auch die der nonselectorisch
entstandenen Armuth näher kennen lernen, um die Be-
deutung dieses letzteren Factors für den Rassenprocess
würdigen zu können.
Was zunächst den directen Hungertod anlangt, so mag
er ja in seiner acuten Form nicht so sehr häufig auftreten,
trotzdem z. B. 1887 in London in 36 Fällen der Tod
durch buchstäbliches Verhungern von den Leichenbeschauern
constatirt wurde. Allein in der langsamen indirecten Form,
die kaum noch mit Hungergefühl ausser grade nach andrer
und besserer Nahrung einhergeht, ist er häufiger, indem
die mangelhafte Ernährung das Auftreten vieler Krank-
heiten erleichtert und ihren Verlauf schlimmer gestaltet.In Bezug auf die grosse Erkrankungsziffer der niederen Volks-
schichten findet sich viel Material in den Berichten der verschiedenen
Fabrikinspectoren; besonders instructiv ist die ausgezeichnete Arbeit
der Herren Dr. F. Schuler, eidgenössischer Fabrikinspector in Mollis
Man hört so oft von der Gesundheit reden, die dem Armen
als Lohn für seine einfache Lebensweise zu Theil wird,
gegenüber der Kränklichkeit des Wohlhabenden in Folge
üppiger Lebensweise, und tritt auch wohl manchmal mit
dieser Behauptung allzu unzufriedenen Elementen entgegen.
Allein die Statistik lehrt doch etwas ganz Anderes.
Über die Morbidität und Mortalität der Gesammtheit der
Armen und der der Wohlhabenden in einem Lande ist
mir nur wenig Material zugänglich. Was das allmählige
Erlöschen der Familien des hohen Adels anlangt, so spielen
dabei Inzucht, künstliche Verminderung der Geburten und
häufiges Heirathen von Erbinnen, d. h. Töchter kinder-
armer Eltern, eine ziemlich bedeutende Rolle. Im übrigen
aber steht Morbidität und Mortalität unter sonst gleichen
Umständen im umgekehrten Verhältniss zum Einkommen.
Einige Zahlen mögen dies für die Sterblichkeit, resp. das
durchschnittliche Lebensalter darthun.
„Für England hat die Berufs-Statistik als durchschnitt-
liches Lebensalter festgestellt:
in den höheren Klassen 44 Jahre
in dem niederen Mittelstand 26 „
bei den arbeitenden Klassen 22 „
Nach derselben Quelle beträgt die Sterblichkeitsziffer
für das ganze Land 22 ‰
für den Wohnsitz der höheren Klassen 17 „
für die Arbeiter-Districte 36 „
und Dr. A. E. Burkhardt, Professor für Hygiene in Basel: Ueber
die Gesundheitsverhältnisse der Fabrik-Bevölkerung in der Schweiz,
ferner die Arbeit von Dr. H. Rauchberg: Ueber die Erkrankungs-
und Sterblichkeits-Verhältnisse bei der allgemeinen Arbeiter-Kranken-
und Invalidenkasse in Wien 1887. Einen kurzen Auszug daraus giebt
Dr. H. Lux in seinem geschickt zusammengestellten Socialpolitischen
Handbuch. Berlin 1892. — Vgl. ferner Engels. Fr. Die Lage der
arbeitenden Klassen in England. II. Aufl. 1892. — Marx, K. Das
Kapital. 1. Band. III. Aufl. Hamburg 1883.
Dr. Anderson Lux, a. a. O. S. 68. Daselbst auch Angabe voriger Seite. in Dundee wies nach, dass bei
einer Gesammtsterblichkeit von 20,7 ‰ die Sterblichkeit
je nach der verschiedenen Grösse der Wohnung, die ja ein
indirecter Maasstab des Einkommens ist, sich folgender-
maassen verhält:
in Wohnungen mit 4 und mehr Zimmern 12,3 ‰
„ „ „ 3 „ 17,2 „
„ „ „ 2 „ 18,8 „
„ „ „ 1 „ 23,3 „
VillerméCitirt in Haushofer, Lehr- und Handbuch der Statistik.
Wien 1882. macht für Paris interessante Angaben
über das Verhältniss der Wohnungspreise in den einzelnen
Quartiren zu der Sterblichkeit in ihnen von 1821—1826.
Der bekannte Statistiker KolbCulturgeschichte der Menschheit. III. Aufl. Leipzig 1885. S. 33. äussert sich folgender-
maassen über den ausjätenden Einfluss der Armuth: „Wohl-
stand und Armuth sind es, welche auf das Gedeihen und
Verkümmern der Menschen am gewaltigsten einwirken!
Heirathen, Geburten und Sterbefälle vermehren oder ver-
mindern sich mit den Preisen der Lebensmittel und der
Arbeitsgelegenheit. In dem ziemlich ausgedehnten Zeit-
raume von 1694—1784, also in 90 Jahren, betrug die durch-
schnittliche Sterblichkeit zu Paris:
in den 10 theucrsten Jahren je 21174 Sterbefälle
„ „ 10 wohlfeilsten „ „ 17529 „
Ebenso zählte man zu London:
in 7 englischen Grafschaften:
Nicander fand, das in Schweden die Zahl der Sterbe-
fälle durch die Theuerung vermehrt wurde: im Jahre 1762
um ⅕, 1763 um 1/7, 1772 um ¼, 1733 um ⅓, 1799 um
1/7, 1800 um ⅙. Die Wirkung der Theurung ist aber um
so furchtbarer, da nicht die Gesammtheit der Einwohner
ihren gleichmässigen Beitrag zu dieser Vermehrung der
Todesfälle liefert, sondern die ganze Erhöhung zunächst
von den Armen herrührt, welche also nicht etwa bloss
1/7, ¼ u. s. w. mehr als gewöhnlich an Todten liefern,
sondern noch ungleich härter betroffen werden, da sie auch
einen grossen Theil der auf die Reichen treffenden Quote
zu liefern haben.
In Übereinstimmung hiermit zeigt sich dann auch die
gewaltige Einwirkung von Wohlstand oder Armuth, wenn
wir nicht bloss einzelne Jahre sondern die Lebensverhältnisse
ganzer Menschenklassen in’s Auge fassen. Die Schriften
von Benviston, Morgan, Dr. Casper und Quetelet enthalten
reiches Material. Nach Caspar’s Untersuchungen leben von
1000 zu gleicher Zeit geborenen Menschen nach
Die Zahlen der ersten Colonne (Wohlhabende) nahm
Caspar aus Zusammenstellungen der bei adligen Familien
eingetretenen Sterbefälle, jene der zweiten (Arme) aus den
Listen der seit vielen Jahren in Berlin verstorbenen Stadt-
armen. — Die mittlere Lebensdauer stellt sich bei den
Reichen auf 50, bei den Armen nur auf 32 Jahre. …
Das Missverhältniss tritt, wie man sieht, schon in der
frühesten Zeit ein, es dauert aber im höheren Alter ohne
Minderung fort und wäre noch ungleich grösser, wenn sich
die Reichen nicht häufig durch ein Übermaass von Genüssen
selbst das Leben verkürzten; Villermé’s Beobachtungen
stimmen damit überein. Er ermittelte, dass in dem mehr
von Reichen bewohnten 1. Stadtbezirk von Paris jährlich
nur 1/53, in dem mehr von Armen bewohnten 12. Bezirk
mindestens 1/40 der Gesammtbevölkerung starb. Ebenso
entreisst der Tod in den wohlhabenden Departements
Frankreichs jährlich 1/53, in den armen 1/46 der Ein-
wohnerschaft. Lord Ebrington fand zu London eine durch-
schnittliche Sterblichkeit von 25‰, jedoch stieg sie in
einigen Quartieren auf 40, während sie in andern nur 13
betrug. Ebenso berechnete er an einigen Orten eine mittlere
Lebensdauer im Handwerkerstande von 19—20, in der
Klasse der Handelsleute und Gentlemen eine von 40—45
Jahren. Und dabei darf nicht übersehen werden, welche
bedeutende Annäherung der Ziffern dadurch stattfindet, dass
nirgends bloss Reiche, nirgends bloss Arme vorhanden
sind; schon der partielle Unterschied erzeugt solche Ab-
weichungen. Thatsachen dieser Art — und die Zahl der
Beispiele liesse sich ungemein vermehren — führen von
selbst zu dem Axiom: Je geringer die Civilisation und der
Wohlstand, je grösser die Uncultur und das Elend, desto
furchtbarer rafft der Tod die Menschen hinweg; mit der
Cultur und dem Wohlstand erhöht sich die Lebensdauer.“
Wie eine schlechte Ernährung auch das Zurückbleiben
der allgemeinen Körperentwicklung bedingt, zeigte Keleti
durch Nachweis der Harmonie, die in den einzelnen un-
garischen Comitaten zwischen dem auf den Kopf kommenden
Eiweiss-Gehalt der Nahrung und der Zahl der Militär-
tauglichen besteht. Keleti, Dr. Karl. Die Ernährungstatistik der Bevölkerung
Ungarns auf physiologischer Grundlage bearbeitet. Uebersetzung aus
den ungarischen Amtlichen statistischen Mittheilungen. Budapest.
1887. Refer. im Arch. f. soc. Gesetzgeb. u. Statistik. 1. Bd. S. 346.
Tübingen 1888.
Was die Verfolgung der näheren Art und Weise an-
langt, wie die Armuth durch schlechte Ernährung, enge
Wohnung, Schmutz, Unwissenheit, Prostitution, Zwang zur
Arbeit unter gesundheitsschädlichen Bedingungen u. s. w.
eine Schädigung der Entwickelung, Krankheit und früh-
zeitigen Tod hervorbringt, so führt das zu weit ab in’s
medicinische Gebiet.
Die Armuths-Krankheiten vermindern unter den von
ihnen Betroffenen natürlich die Eheschliessungen und die
Zahl der Nachkommenschaft und liefern dadurch Material
für die Armuths-Praevention. Aber die Armuth wirkt auch
praeventiv in mehr directer Weise. Ein Theil der ärmeren
Männer scheut die Kosten der Ehe, als Zuflucht bleiben ja
die Prostituirten, und ein Theil der ärmeren Mädchen bleibt
wegen zu geringer Mitgift unverheirathet oder fällt durch
Noth und Verführung der Prostitution zum Opfer, wobei
die Wahrscheinlichkeit sich zu verheirathen und Kinder zu
erzeugen bekanntlich minimal, dagegen die Sterblichkeit
gross ist. Dass die Prostitution sich so gut wie ausschliess-
lich aus armen Mädchen rekrutirt, zeigt eine Ermittelung
des Berliner Polizei-PraesidiumsLux, a. a. O. pag. 135. in den Jahren 1871 bis
1878 über den vorherigen Erwerb von 2224 Prostituirten.
Darnach waren
Dienstmädchen 794 = 35,7 $%$
Fabrikarbeiterinnen 355 = 16,0 „
in Hausindustrie und Ladengeschäft 936 = 42,0 „
Aufwärterinnen in Verkaufslokalen 139 = 6,3 „
11
Parent Duchatelet fand unter 3084 Prostituirten nur drei
Bemittelte mit einem jährlichen Einkommen von 300 bis
1000 Franken. Der Antheil, den defecte Gehirnanlagen an
den Ursachen der Prostitution haben, ist also nicht so aus-
schlaggebend, wie man nach TarnowskyCitirt in Ploss, Das Weib. III. Auflage. Leipzig 1891.
S. 345. und Lom-
brosoLombroso, C. und Ferrero. Das Weib als Ver-
brecherin und Prostituirte. Deutsch von Kurella. Hamburg 1894. glauben könnte, sondern die Armuth spielt als
Quelle ebenfalls eine bedeutende Rolle.
Bei den schlecht bezahlten Arbeitern, besonders in
Gegenden, wo viel Frauenarbeit herrscht, scheint das ge-
ringe Einkommen die Ehe nicht so leicht zu hindern, als
andere Momente in den höheren Ständen. Die Ehen
werden wenigstens bei den Arbeitern im Durchschnitt
früher geschlossen. Nach einer officiellen englischen Sta-
tistikNeue Zeit. 1887. pag. 190. aus den Jahren 1884 und 1885 ist das durchschnitt-
liche Heirathsalter der
Bergwerksarbeiter 23,56 Jahre
Arbeiter in Textilfabriken 23,88 „
Schuster und Schneider 24,42 „
geschickten Arbeiter 24,85 „
Taglöhner 25,06 „
Handlungs-Commis 25,75 „
Detail-Händler 26,17 „
Pächterssöhne 28,73 „
Gebildeten und Unabhängigen 30,72 „
Übrigens darf man grade in Bezug auf Eheschliessung
die Armen schlechtweg durchaus nicht als die Unter-
liegenden ansehen. Das Unterliegen ist relativ und richtet
sich nach der gewohnheisgemässen Lebenshaltung der
Concurrirenden; der Kampf wird also, wie in mancher an-
deren Beziehung, zum grossen Theil innerhalb der Stände
ausgefochten. Ein reicher Adliger z. B. unterliegt im Kampf
um die Familie oft schon, wenn er auf eine Lebenshaltung
herabgedrückt wird oder werden soll, die dem gewöhnlichen
Arbeiter noch als sehr hoch vorkommt. So muss man
verschiedene, natürlich nicht scharf abgegrenzte Classen
von Lebenshaltungen unterscheiden, deren Mitglieder den
Kampf um die Familie schon von Anfang an auf einer
andern Basis ausfechten. Aber diese Art relativer ökono-
mischer Ehehindernisse erscheint doch immer, auch bei
Wohlhabenden, im Gefolge einer wirthschaftlichen Schädi-
gung selectorischer oder nonselectorischer Natur oder im
Gefolge der Furcht vor einer solchen Schädigung, gehört also
durch ihren selectorischen Theil zur wirthschaftlichen Ausjäte.
Es wird interessant sein, einige Zahlen über die Ehe-
losigkeit überhaupt anzuführen. In Berlin waren 1890
24 $%$ der Männer, die über 25 Jahre, und 31 $%$ der Frauen,
die über 20 Jahre waren, ledig. In den Jahrgängen von 30
bis 35 waren von den Männern noch über 27 $%$ ledig, in
den Jahrgängen von 35 bis 40 bei den Männern über 15 $%$,
bei den Frauen über 17 $%$, wobei die grössere Sterblich-
keit der Ledigen ihr Verhältniss zu den Verheiratheten und
damit auch die Rate der sexuellen Ausjäte noch günstiger
erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit ist.
Für das Deutsche Reiche und einige andere Staaten
geben folgende Ziffern Statistik des Deutschen Reichs. Neue Folge. Bd. 44. Berlin 1892. einen Anhalt:
Es waren in den 70er Jahren ledig in
11*
Complicirter liegen die Dinge bei dem Theil der
Armuths-Ausmerze, der sich direct in der Verminderung
der Geburten kundgiebt, die auf eine Ehe kommen könnten.
Es ist wohl keine Frage, dass durch die Armuth insofern
ein vermindernder Einfluss ausgeübt wird, als die Sterblich-
keit der Armen eine grössere ist und also oft genug zu
frühzeitigem Aufhören der Kindererzeugung führen muss.
Dieser Einfluss wird sich besonders zeigen, wenn man die
Kinderzahl pro Ehe bei der industriellen Reserve-Armee,
den Ärmsten unter den Armen, vergleicht mit derjenigen
der mehr stetig beschäftigten, wenn auch immerhin noch
armen Arbeiter. Auch unter letzteren werden die durch
vorzeitigen Tod gelösten Ehen zahlreicher sein als unter
den wohlhabenden Classen.
Allein diesem Einfluss steht ein viel mächtigerer ent-
gegen: mit zunehmendem Einkommen vermindert sich im
Grossen und Ganzen die Zahl der Geburten, die auf eine
Ehe kommen. Marx sagt: „In der That steht nicht
nur die Masse der Geburten und Todesfälle, sondern die
absolute Grösse der Familien im umgekehrten Verhältniss
zur Höhe des Arbeitslohnes.Marx, Karl. Das Kapital. I. Bd. III. Aufl. Hamburg
1883. S. 661.
DumontDumont, A. Dépopulation et civilisation. Paris 1890.
pag. 80 und folg. erklärt: „Es giebt kaum etwas Gesicher-
teres in der Demographie, als dass das Elend fruchtbar,
der Reichthum und die Wohlhabenheit verhältnissmässig
unfruchtbar sind.“ Er citirt Legoyt, (Revue scientifique,
4. Sept. 1880): „Nach den Arbeiten von Quételet für
Brüssel, W. Farr für London, de Villermé und Benoiston
de Chateanneuf für Paris wird das Maximum der Geburten
erzeugt in den Quartieren der arbeitenden Klassen und
das Minimum in den Quartieren der Reichen oder der
einfach Wohlhabenden.“
Der Grund dieser Erscheinung liegt wohl nur zum
allerkleinsten Theil darin, dass wohlgenährte Eltern rein
physiologisch eine geringere Zeugungspotenz haben als
schlecht genährte.
Die Aerzte wissen zwar, dass Fettsucht unfruchtbar
machen kann, allein über den Einfluss der blossen guten
Ernährung und des behaglichen Lebens überhaupt auf die
Fruchtbarkeit der Menschen liegen keine einwandsfreien
Beobachtungen vor. Darwin kommt bei der Betrachtung
dieses Gegenstandes zu dem von den Hausthieren abge-
leiteten Analogie-Schluss, man dürfe erwarten, dass
civilisirte Menschen wegen ihrer nahrhaften Kost frucht-
barer seien als wilde.Darwin. Abstammung des Menschen. Deutsch von Carus.
1. Bd. S. 57. Es wäre auch wohl anzunehmen,
dass eine eventuelle rasche Abnahme der Zeugungskraft
der Wohlhabenden sich nicht nur in der Menge, sondern
auch in der Güte der Kinder offenbaren würde, wogegen
die bessere Entwickelung der Kinder von Wohlhabenden
spricht. Es bleibt nur übrig, den Hauptgrund der Er-
scheinung in der grösseren Abneigung der Wohlhabenden
gegen Kinderzeugung und -Pflege zu suchen und in ihrer
grösseren Macht, Zeugung und Geburt zu verhindern.
Abneigung der Eltern gegen eine grössere Zahl Kinder
besteht wohl ausnahmslos sowohl bei den Armen, wie bei
den Wohlhabenden. Mir ist auf zahlreiche Anfragen noch
nie der Bescheid geworden, dass mehr wie zwei bis drei
Kinder erwünscht seien. Im Gegentheil wurden mir sogar
von wohlhabenden, verheiratheten Frauen nicht nur prae-
ventiver Verkehr, sondern auch mehrfacher künstlicher
Abort eingestanden. Eine kinderlose Amerikanerin erzählte
mir in der Consultationsstunde in der harmlosesten Weise,
sie hätte drei künstliche Fehlgeburten durchgemacht. Dabei
hat sie Kinder sehr gern und scheut sogar kleine Reisen
nicht, um hübsche Babies zu besuchen, von Katzen und
Hunden, die sie hält, ganz zu schweigen. Trotz Mutter-
instinct also keine Kinder. Man scheut die Mühen und
die Gefahren der Schwangerschaft und Geburt, die Unbe-
quemlichkeit und die Kosten der Kindererziehung, den Ver-
lust der schönen Leibesformen und vor Allem auch die
Beeinträchtigung der eigenen Bewegungs- und Vergnügungs-
Freiheit durch die Kinder. Dass diese Hemmungen bei
den besseren Klassen stärker ausgesprochen sind als bei
den niederen, kann nicht Wunder nehmen, wenn man
bedenkt, dass die Mitglieder der ersteren im Allgemeinen
feinfühliger sind, und dass ihnen die Vergnügungen in
ganz anderer Art zugänglich sind, als den Armen.
Dasselbe gilt für einen weiteren, rein wirthschaftlichen
Grund der Kinder-Beschränkung: man will den bereits
erzeugten Kindern keine neuen Mitbewerber schaffen in
Bezug auf gute Ausbildung und Erbtheilung. Bei den
ärmeren Classen spielt das eine geringe Rolle, sie haben
ihren Kindern keine Erziehung zu geben und kein Erbe zu
hinterlassen; im Gegentheil, wenigstens die Fabrik- und
besitzlosen Landarbeiter können von einem grösseren Nach-
wuchs eher Vortheil erhoffen, da die Kinder früh selbst
verdienen können und als eine Art Alters-Versicherung
angesehen werden.
Noch ein weiteres Moment müssen wir in Betracht
ziehen. Haben die Wohlhabenden schon in höherem
Maasse das Bestreben, die Kinderzahl zu beschränken, so
kommt noch hinzu, dass es ihnen auch bedeutend leichter
ist, ihr Bestreben durchzuführen. Sie haben erstens durch
ihre vorwiegend geistige Beschäftigung mehr Übung in der
Selbstzucht, sie können sich besser „vorsehen“, ein Um-
stand, der besonders bei der so häufigen Form des coitus
interruptus eine Rolle spielt. Sodann sind sie durch Lectüre
und Aerzte besser über die Technik des praeventiven
Verkehrs unterrichtet und können sich Pessare, Condome
etc. eher verschaffen. Und was nicht gering angeschlagen
werden darf, Hebamme, Apotheker und andere Helfer können
eher bezahlt, also benutzt werden. Die Praeventiv-Mittel
sind eben alle nicht ganz sicher, bei Armen wie bei Reichen
„passirt“ doch manchmal etwas. Die ärmere Frau kann
nur unvollkommene Anstrengungen machen, „ihre Regeln
wieder zu bekommen“, die wohlhabende dagegen findet
oft genug Hände bereit, ihr aus der Noth zu helfen. Man
braucht nur einen Blick in den Annoncen-Theil gewisser
grossstädtischer Blätter zu werfen, um zu erfahren, wie
ausgedehnt dieses Geschäft betrieben wird. Bebel, August. Die Frau. S. 53. Ploss sagt:
„Es ist bekannt, dass unter den Weissen Nord-Amerika’s
die Abtreibung sehr üblich ist, und dass insbesondere in
allen grossen Städten eigene Anstalten existiren, in denen
Mädchen und Frauen eine frühzeitige Entbindung bewerk-
stelligen.“. Ferner: „Auch in Europas grossen Städten
scheint die Frucht-Abtreibung überhand zu nehmen. …
Nach der Ansicht aller Sachverständigen wird die Frucht-
abtreibung in Paris vollkommen handwerksmässig nament-
lich durch die Hebammen und in den Privat-Entbindungs-
anstalten betrieben, deren wahrer Zweck allgemein bekannt
ist.“Ploss, Das Weib. I. Bd. S. 543 u. ff. Lombroso spricht sich in seinem Buche „Das
Weib als Verbrecherin und Prostituirte“ ähnlich aus: „In
den vereinigten Staaten ist der Abort ein specifisches locales
Gelegenheits-Verbrechen, das vor der öffentlichen Meinung
nicht mehr als strafbar gilt. … In diesem Lande, wo
die Frauen immer mehr an der Berufsarbeit und den
Geschäften Theil nehmen, wozu die Entwickelung des
Capitalismus drängt, ist die Mutterschaft oft ein sociales
Übel, der Abort fast eine Nothwendigkeit; die öffentliche
Meinung richtet ihr Urtheil nach dieser Lage der Dinge.“
Dass nicht Abnahme der natürlichen Fruchtbarkeit,
sondern absichtliche Verhütung der Empfängniss oder der
regelmässigen Geburt der überwiegende Grund der geringen
Geburtenrate ist, darin stimmen viele Beobachter überein.
Ich erinnere an die schon früher angeführten Worte von
Dumont: „Die wahre Ursache des Herabgehens unserer
(der französischen) Geburtenziffer ist der Wille, nur wenig
oder keine Kinder zu haben,“ und von Comte: „Die
Krankheit der Gesellschaft wird als physisch angesehen,
während sie ausschliesslich moralisch ist.“
Hier können wir also constatiren, dass die Armuth auch
einmal einen Vortheil im Kampf um’s Dasein mit sich
bringt, dass sie in sich neben so vielen ausmerzenden
Momenten auch eines birgt, das ihre Opfer in der Erzeugung
der Nachkommenschaft schützen hilft.
Dieser Schutz betrifft jedoch nur die Zahl der Nach-
kommen, keineswegs ihre Güte. Im Gegentheil, die Kinder
der Armen haben eine bedeutend grössere Sterblichkeit als
die der Wohlhabenden, und zwar fällt die Kindersterblichkeit
ganz regelmässig, wenn das Einkommen der Eltern steigt.
Einige Zahlenangaben mögen dies belegen. Nach A. Wolff’s
Untersuchungen über die Kinder-SterblichkeitCitirt in Oldendorff, A. Die Säuglingssterblichkeit in
ihrer socialen Bedeutung. Archiv für sociale Gesetzgebung und
Statistik. I. Jahrg. S. 89. beträgt in
Erfurt die Mortalität der Säuglinge
im Arbeiterstande 30,5 $%$,
im Mittelstande 17,3 $%$,
in den höheren Ständen 8,9 $%$.
In Braunschweig starben nach Reck (Bericht über die
Gesundheitsverhältnisse der Stadt Braunschweig)Citirt in Wurm, Die Volksernährung, Dresden 1888. S. 199.
Die noch folgenden Angaben werden von UffelmannUffelmann. J., Handbuch d. Hygiene des Kindes. Leipzig
1881. S. 93.
citirt. Nach Clay leben von 100 lebend Geborenen in
England nach Verlauf von 10 Jahren:
aus den vornehmen Ständen noch 81
aus dem Handels-Stande „ 56
aus dem Arbeiter-Stande „ 38
In dem wegen seiner musterhaften Arbeiterverhältnisse
fälschlich berühmt gewesenen Mühlhausen i. Els. sterben
50 $%$ der Kinder der Arbeiterclasse vor dem 8. Jahre,
während 50 $%$ der Kinder von Fabrikanten das 29. Jahr
erreichen.
Nach dem Bericht des Oberbürgermeisters Bachem
starben in Köln von Eltern mit einem Einkommen
bis 600 Mark 29 $%$ der Säuglinge
von 600—1500 „ 25 „ „ „
von 1500—3000 „ 18 „ „ „
von über 3000 „ 15 „ „ „
Dass diese Erscheinung auch für die reichsten Familien
gilt, zeigte Casper: unter 1000 Sterbefällen in fürstlichen
Familien trafen 57, von 1000 Sterbefällen in armen Familien
dagegen 345 auf Kinder bis zu 5 Jahren.
Die Vermögens-Verhältnisse der Eltern haben nicht
nur einen Einfluss auf die Sterblichkeit, sondern auch auf
die Körperentwickelung der Kinder. Kinder armer Eltern
sind schlechter entwickelt. VillerméCitirt in Lux, H. a. a. O. S. 105., ein hervorragen-
der französischer Statistiker, constatirt, dass „der Mensch
um so grösser wird und sein Wachsthum um so schneller
seine Vollendung erreicht, je reicher unter im Übrigen
gleichen Umständen das Land, je allgemeiner der Wohl-
stand ist, je besser die Kleidung, die Wohnung, besonders
aber die Nahrung, und je geringer die Noth, die Anstren-
gungen und Entbehrungen sind, die man in der Kindheit
erfährt.“
Geissler und Uhlitzsch (Die Grössenverhältnisse
der Schulkinder des Freiberger Bezirks 1888) maassen
unter einer Bevölkerung, in der sich der Bergmanns-Beruf
forterbt, 10343 Knaben und 10830 Mädchen, wobei sich
ergab, dass die Bergmanns-Kinder durchschnittlich um
2, 3 bis 5 Centimeter kleiner waren als die Bürgerkinder.
Die „Neue Zeit“ (XI. Jahrgang, 1. Band. No. 27) liefert
ähnliche Belege durch folgende Ziffern der Professoren
Hasse in Leipzig, Bowditch in Boston und Pagliani
in Turin. Die Durchschnittsgrösse der Kinder betrug in
Centimetern
nach Hasse:
nach Bowditch:
nach Pagliani:
nach Geissler und Uhlitzsch:
Ganz ähnliche Unterschiede stellten diese Autoren für
das Gewicht der Untersuchten, Pagliani auch noch für
die Lungencapacität fest, woraus hervorgeht, dass das
Überwiegen der Länge bei den Kindern der Wohlhabenden
kein ungesundes in die Höhe Schiessen ist, sondern ein
durchaus gesundes Wachsthum. Die obigen Ziffern be-
ziehen sich auf Städte mit beträchtlicher Industrie-Bevöl-
kerung. Man könnte geneigt sein, diesem Umstand die
grössere Sterblichkeit der armen Kinder zuzuschreiben.
Vielleicht möchte es sich auf dem Lande anders verhalten.
Es liegt mir zwar keine direct verwendbare Angabe hier-
über vor, allein die Thatsache, dass die Durchschnitts-
Sterblichkeit aller Kinder der Landbewohner immer noch
ziemlich viel höher ist als die der Kinder von reichen
Städtern, lässt darauf schliessen, dass auch auf dem Lande
die Kinder der Armen eine grössere Sterblichkeit haben
als die der Reichen. Der Unterschied ist nur nicht so be-
deutend wie in den Städten, da die Gesammt-Sterblichkeit
der Kinder der Landbewohner ein gut Theil geringer ist
als die der Stadtkinder.
Uffelmann Uffelmann. Hygiene des Kindes. S. 87. sagt: „Schon Süssmilch berechnete,
dass auf 100 Todesfälle im Alter von 0—5 Jahren kamen
in Städten 46,4
auf dem Lande 38,2.
Nach Oesterlen starben in sieben europäischen
Staaten im Mittel von 100 Geborenen (incl. Todtgeborenen)
vor Ablauf des 5. Jahres
in Städten 33,60 $%$
auf dem Lande 27,28 „.
In England traten unter 100 Todesfällen aller Alters-
classen ein bei Kindern bis zu 10 Jahren
im Mittel 44,91 $%$
in Städten mit 100000 Einwohnern und mehr 51,39 „
„ „ „ weniger als 20000 Einwohnern 46,79 „
in feldbauenden Landdistricten 35,40 „
Ausnahmen sind selten.“
Mit diesen Ziffern über die Kindersterblichkeit auf dem
Lande vergleiche man die oben besprochene Sterblichkeit
der reichen Stadtkinder, und man wird den Unterschied
zu Gunsten der letzteren ziemlich gross finden.
Wieviel von der mangelhaften Körperentwickelung und
grossen Sterblichkeit der Kinder armer Leute auf ange-
borene Schwäche und wieviel auf die späteren Einflüsse
der Armuth zu setzen ist, ist nicht zu bestimmen. Es wird
der grössten Wahrscheinlichkeit nach beides zusammen
wirken, besonders in den Gegenden, wo viel Frauenarbeit
herrscht.
Der ausjätende Charakter der Armuth erhellt auch
noch wenigstens zum Theil aus dem Vergleich der körper-
lichen Beschaffenheit von erwachsenen Armen und Reichen.
Bebel Die Frau und der Socialismus. XII. Aufl. Stuttgart 1892,
S. 185. erzählt folgende Beobachtung: „In unseren
Industriebezirken bilden Arbeiter und Unternehmer schon
äusserlich einen solchen Gegensatz, als gehörten sie zwei
verschiedenen Menschenrassen an. Obgleich an diesen
Gegensatz gewöhnt, kam er uns doch in einer fast er-
schreckenden Weise anlässlich einer Wahlversammlung vor
die Augen. … Den vorderen Theil des Saales nahmen
die Gegner ein, fast ohne Ausnahme starke, kräftige, oft
grosse Gestalten, von sehr gesundem Aussehen, im hinteren
Theil des Saales und auf den Galerien standen Arbeiter
und Kleinbürger, zu neunzehntel Weber, meist kleine,
dünne, schmalbrüstige, bleichwangige Gestalten, denen
Kummer und Noth aus dem Gesichte sah.“
Bebel beschuldigt die äusseren Lebensbedingungen
ausschliesslich. Hiergegen hat man aber den Unterschied
in der Grösse und sonstigen Beschaffenheit der Köpfe in’s
Feld geführt.
Wohlhabende scheinen durchschnittlich grössere Köpfe
zu haben, was auf grössere Gehirne nnd deshalb höhere
geistige Functionen zurückschliessen lässt.
Ammon Ammon. a. a. O. S. 252 u. ff. maass in Karlsruhe die Köpfe von
30 Männern, die dem wohlhabenden Stande angehörten
und zum grössten Theil Gelehrte, Techniker und Künstler
waren. Unter diesen Köpfen fanden sich so viele lange
Köpfe über 19 cm, wie sonst in keiner anderen von ihm
gemessenen Gruppe. Kein einziger Kopf maass unter
18 cm Länge. Nach dem Verhältniss der Wehrpflichtigen
(25,2 $%$ unter 18 cm Länge) müssten unter der gemessenen
Gruppe 8—9 Köpfe unter 18 cm haben. Doch bildet
hier die etwaige Übung und Auslese der Intelligenz einen
Factor, der den Vergleich stört.
Nach den Messungen der Tarnowskaja Lombroso, C. und Ferrero. Das Weib als Verbrecherin
und Prostituirte. Deutsch von Kurella. Hamburg 1894. S. 309 u. 312. war die
berechnete durchschnittliche Schädelcapacität bei 150 Pro-
stituirten (also fast ausschliesslich Armen) 1452 ccm, bei
100 Diebinnen (ebenfalls meist Armen) 1462 ccm, bei
100 russischen Bäuerinnen 1465 ccm und bei 50 gebildeten
Stadtfrauen, die wohl meist wohlhabend waren, 1467 ccm.
Der französische Anthropologe Le Bon Variations du volume du cerveau. Revue d’Anthropol. Paris
1879. VIII. Jahrg. 2. Ser. 2. Theil. S. 27. maass bei
1200 normalen Franzosen verschiedener Lebensstellungen
den Kopfumfang, ein Maass, das sowohl nach seinen wie
Welcker’s Untersuchungen bei grösserem Betrage der
Fälle dem Hirngewicht annähernd proportional ist, und
fand in Procentzahlen einen
Bei den Bauern der Beauce, die Le Bon maass,
war das Verhältniss noch ungünstiger, die Kopfumfänge
schwankten im Grossen und Ganzen zwischen 54 und 56 cm.
Die Wissenschaftler könnten also nach obiger Tabelle den
Anspruch erheben, dass sie als Stand das grösste Geistes-
organ besitzen, dann folgen die Bürger, dann der Adel,
schliesslich die Bedienten und die Landbauern.
Diese mageren Angaben — bessere habe ich nicht
auftreiben können — geben natürlich ganz und gar nicht
einen festen Anhalt für eine niedrigere Organisations-Stufe
der Armen. Meine Beobachtungen, die während der Aus-
übung der ärztlichen Praxis zum grössten Theil schätzungs-
weise gemacht wurden, und deren exacter Theil zu einer
Veröffentlichung noch zu geringfügig ist, haben mich aller-
dings auch zu der Annahme gebracht, dass die Wohl-
habenden im Grossen und Ganzen wohl etwas grössere
Köpfe haben. Allein solche und ähnliche Schätzungen
trügen zu sehr; genügend umfangreiches beweisendes
Material ist nicht vorhanden.
Bär Bär, A. Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung.
Leipzig 1893. S. 155. spricht sich ganz im Allgemeinen dahin aus:
„Erscheinungen degenerativer Natur finden sich bei Indivi-
duen aller Classen der menschlichen Gesellschaft, häufiger
aber in den niederen Schichten der Bevölkerung als Stigma
der Inferiorität ihrer Organisation“.
Blaschko gesteht zu: „Es wäre thöricht, läugnen zu
wollen, dass oft ein gutes Theil angeborener höherer
geistiger Leistungsfähigkeit vorhanden ist (nämlich bei den
oberen Classen) und äusserlich sichtbar zu Tage tritt, wenn
das auch noch nicht in feste anthropologische und anato-
mische Formeln zu fassen ist“. Blaschko, A. Natürliche Auslese und Klassentheilung.
Neue Zeit, Stuttgart 1894/95. XIII. Jahrg. 1. Bd. S. 620.
Überall würde ausserdem die Frage eine Hauptrolle
spielen (also auch bei der Kopfgrösse), was von den Unter-
schieden zwischen Armen und Wohlhabenden ist nur der
Anlage und was nur den äusseren Wirkungen auf
dieselbe zuzuschreiben. Die sichere Entscheidung dieser
Frage im Einzelfall wird meist unmöglich sein. Und was
die Beurtheilung ganzer Bevölkerungs-Schichten anlangt, so
sind Männer wie Buckle und viele Socialisten, die von
Unterschieden der Anlagen bei Wohlhabenden und Armen
nichts wissen wollen, grade so sehr dem Vorwurf der Ein-
seitigkeit ausgesetzt, als diejenigen bürgerlichen Darwinianer,
die gegen die Wirkungen der Umgebung auf die Menschen
im Lauf ihres Individuallebens halb blind sind und alles
auf Anlage zurückführen.
Von diesem Standpunkt aus müssen auch die ein-
gehenden Untersuchungen Ammon’s über die Verschiebung
des hellen und dunklen Typus in Deutschland betrachtet
werden. Ammon, a. a. O. bes. Zusammenfassung S. 312 u. ff.
Nach Ammon gehören die Wohlhabenden, wie über-
haupt der bessere Theil der Nation, mehr einem blonden,
langköpfigen, den alten Germanen ähnlichem Typus an,
während die Armen, die im Kampf um’s Dasein wenigstens
in den Städten Unterliegenden, mehr einem kleineren
dunkleren, rundköpfigen Typus angehören. Folgende Aeusserung von Hölder wird auch von Ammon
S. 257 herangezogen: „Leicht kann sich Jedermann überzeugen, dass
im Allgemeinen die brachycephale (kurzköpfige) Schädelform unter
der niederen Volksklasse überall im Lande am häufigsten vorkommt.
Die besitzenden, höher stehenden Klassen, so namentlich der ältere
Adel, stehen dem unvermischten germanischen Typus viel näher
als jene.“ Im Alterthum
und im Mittelalter hätten zahlreiche Mischungen der beiden
Typen stattgefunden. Nebenher sei auf der einen Seite
eine Auslese des hellen Typs gegangen, der die besseren
geistigen und Charakter-Anlagen hätte, allein auf der
anderen Seite wäre durch eine Reihe von Factoren eine so
starke Schädigung dieses hellen Typs erfolgt, dass er heut-
zutage gegen früher in die Minderzahl gerathen wäre und
noch fortdauernd weiter abnähme. Diese Abnahme des
hellen, besseren Typs erfolge einerseits durch seine grössere
Befähigung zum Kriegsdienst, andererseits durch den folgenden
Mechanismus. Die vom Lande in die Städte Einwandernden
begreifen in sich mehr helle Langköpfe als die in dem ge-
sunden Landleben Zurückbleibenden. In den Städten nun
hat der helle Langkopf es anfangs gut, er kommt rascher
fort als der dunkle Typ, so dass die Stadtgeschlechter um
so mehr helle Langschädel unter sich zählen, einer je
späteren Generation sie angehören. Nun sterben aber der
Erfahrung nach die Geschlechter um so rascher aus, je
länger sie in der Stadt wohnen. Hierdurch wird das ger-
manische Element wieder zerstört, und da die vom Land
in die Städte Wandernden dem Lande relativ mehr helle
Langköpfe entziehen als sie zurücklassen, so wird durch
diesen Process der Bestand der Nation an hellen Lang-
schädeln beständig vermindert.
Ammon steht nicht an, diesem Vorgang ein Nieder-
gehen des deutschen Geistes in der letzten Zeit zuzu-
schreiben.
Die ganze Beweisführung Ammon’s stützt sich auf
ein ziemlich grosses Beobachtungsmaterial. Allein ein wesent-
licher Punkt ist nicht genügend berücksichtigt, das ist der
Einfluss der geistigen Übung auf ihr Organ, das Gehirn.
Wenn das Gehirn sich wie andere Organe verhält,
also bei starker Übung wächst, so ist es möglich, dass bei
der Stadtjugend in Folge der stärkeren geistigen An-
strengung ein Druck auf die in ihren Nähten noch nicht
völlig verwachsene Schädelkapsel ausgeübt wird. Ist dies
der Fall, so wäre es bei der verschiedenen Dicke der
Schädelwand, einmal vorn und hinten, das zweite Mal an
12
den Seiten, durchaus nicht so unwahrscheinlich — oder
unerhört, wie Ammon sagt, wohl im Bewusstsein des
wunden Punktes — dass der Schädel sich in verschiedener
Weise in die Länge und in die Quere ausdehnt, so dass
das ursprüngliche Verhältniss dieser beiden Maasse sich
verschieben könnte. So lange dieser Punkt nicht durch
gründliche Untersuchungen klar gelegt worden ist, ist eine
Verwerthung des Theils der Ammon’schen Resultate, der
besagt, dass die Armen einen durchschnittlich niederern
Typ repräsentirten, nicht zulässig. Vgl. ausserdem die beachtenswerthen Einwürfe Blaschko’s
a. a. O.
Einen anderen Einwand, der besonders gegen die
Ausdehnung der Ammon’schen Folgerungen auf ganz
Deutschland spricht, liefert die Thatsache, dass in Berlin
eine Auslese des germanischen Typus, die Ammon für
die Städte behauptet, nicht vor sich geht.
In Berlin waren 1875 nur 29,5 $%$ der Kinder von
rein blondem Typus, d. h. hatten helle Haut, blonde Haare
und blaue Augen, in ganz Norddeutschland dagegen 33,5
bis 43,3 $%$. Zeitschrift des Kgl. Preuss. statist. Bureaus. 33. Jahrg.
Berlin 1893. S. 197 ff. Man könnte meinen, dass vielleicht an dem
Aufbau der Berliner Bevölkerung die Einwanderung aus
den polnischen Landestheilen Preussens oder aus anderen,
brünetten Gegenden stark betheiligt wäre, so dass sich
dadurch der geringe Procentsatz des blonden Typus erklären
würde. Diese Muthmassung findet aber in der Berliner
Statistik keine Begründung. Statist. Jahrbuch der Stadt Berlin. 1893. S. 20.
Von 1876—1890 sind 936143 Fremde in Berlin ein-
gewandert. Von dieser Summe stammen 34426 aus Süd-
deutschland und aus fremden Staaten mit Ausnahme des
stark blonden Skandinaviens, Englands, Hollands und der
amerikanischen Union, so dass wir diese Quelle von
Brünettheit nur sehr gering veranschlagen dürfen, um so
mehr, als ja auch in Süddeutschland und Oesterreich, die
bei Weitem den grössten Theil dieser 34426 Fremden
ausmachen, beträchtliche Mengen blonder Elemente vor-
handen sind.
Von der anderen, der grossen Hauptmasse der Fremden,
901717, stammten 895750, also mit geringer Ausnahme alle
aus Norddeutschland. Von diesen 895750 Norddeutschen
kamen aus Landestheilen mit muthmasslich wenig germani-
schem Typus, d. h. aus Posen, Schlesien, Ost- und West-
preussen und der Rheinprovinz 343267. Sehen wir uns
nun diesen Theil Norddeutschlands auf die Zahl seiner rein
blonden Typen hier näher an, so finden wir, dass unter je
100 Kindern rein blond waren in
Ostpreussen 39,6—39,9
Westpreussen 39,7—39,8
Posen 36,2
Mittel- und Niederschlesien 30,1—31,3
Oberschlesien 27,3
Rheinprovinz (ohne Trier und Aachen) 30,7—32,3
Rg.-Bezirke Trier und Aachen 24—25,9
Stadtkreis Berlin 29,5.
Von allen norddeutschen Quellen der Berliner Be-
völkerung weisen also nur Oberschlesien und der Südwesten
der Rheinprovinz eine geringere Zahl rein blonder Elemente
auf als die Stadt Berlin. Die Einwanderung von diesen
kleinen Gebietstheilen fällt um so weniger in’s Gewicht, als
die Hauptmasse der einwandernden Fremden, 477270, die
aus den 4 Provinzen Brandenburg, Pommern, Sachsen und
Hannover stammen, das Mittel Norddeutschlands in Bezug
auf Blondheit weit überragen.
Es waren nämlich blond in
Brandenburg 36,2—38,9 $%$
Pommern 42,6 „
12*
Sachsen 36,2 $%$
Hannover 41,0 „
Aehnliche Verhältnisse zeigen sich, wenn wir nun auch
den Antheil der Brünetten an der Bevölkerung Berlins mit
dem an der Bevölkerung der näheren und weiteren Um-
gebung vergleichen.
Die rein Brünetten machten aus in
Berlin 16,4 $%$
Brandenburg mit Berlin 12,1 „
Norddeutschland 7—11,2 „
dem ganzen Deutschen Reich 14,1 „
Berlin hat also mehr reine Brünette als sein Nährboden.
Das sieht nicht nach einer Einwanderung germanischer
Elemente in die Stadt und ihrem Siege dort aus.
In dem Originalbericht Virchow, R. Gesammtbericht über die von der deutschen
anthropol. Ges. veranlassten Erhebungen über die Farbe der Haut,
Haare und Augen der Schulkinder in Deutschland. Arch. f. Anthrop.
Bd. XVI. 1886. S. 320. über diese Verhältnisse con-
statirt Virchow: „Ungemein zahlreich sind die grösseren
und mittleren Städte, welche eigene Verwaltungsbezirke
besitzen, in denen die Verhältnisszahl der Brünetten grösser
ist als in den benachbarten ländlichen Bezirken ....
Grade die mehr sesshafte Bevölkerung des Landes und
der kleinen Städte ist die Trägerin der typischen Eigen-
schaften, der brünetten so gut wie der blonden“.
Alle diese Thatsachen lassen die Verallgemeinerung
der Schlussfolgerungen Ammon’s nicht zu, dass die in
die Städte Einwandernden mehr germanische Elemente in
sich schlössen, als die auf dem Land Zurückbleibenden,
und dass für den städtischen Kampf um’s Dasein diese
germanischen Elemente besser geeignet seien. Dass bei
unserem vorgebrachtem Einwand die Langköpfigkeit nicht
direct berücksichtigt ist, braucht ihn nicht abzustumpfen, da
erstens Langköpfigkeit bei dem rein blonden Typ öfter als
beim braunen vorkommt, und da zweitens nach Ranke
die Langköpfigkeit keineswegs zu den nothwendigen Eigen-
schaften eines Germanen gehört, weil so rein germanische
Stämme wie die Friesen stark zur Kurzköpfigkeit neigen
(12 $%$ Lang-, 51 $%$ Mittel- und 31 $%$ Kurzköpfe).
Dass die Armen durchgehends die Schlechteren
seien, behauptet natürlich auch Ammon nicht, da ja die
Bauernbevölkerung sowohl, wie die verhältnissmässig armen
in die Städte Eingewanderten auch diejenigen umfassen, die
später die aufsteigenden Stadtgeschlechter hervorbringen.
Nach ihm schliessen also jedenfalls die Armen ausser den
bereits im Ausjäte-Process Begriffenen auch
eine grosse Menge der besten Convarianten in
sich, und zwar grade diejenigen, deren Abkömmlinge
später in den Städten die geistige Elite der Nation reprä-
sentiren werden.
Wie übrigens Ammon nach Darlegung seines ver-
meintlichen Processes der Verarmung der Nation an ihren
germanischen Elementen, für welch letztere er gradezu
begeistert ist, Sympathie für die wirthschaftlichen Formen
aufbringen kann, die den Process doch bedingen, ist mir
unerfindlich.
Nach unseren früheren Darlegungen wäre der ganze
Vorgang, falls er in Wirklichkeit existirte, ein grossartiges
contraselectorisches Phänomen, eine fortwährende Ver-
nichtung guter Convarianten, eine Schädigung unseres
Volkes und der Rasse, zu der wir gehören. Die wirth-
schaftliche Ordnung, die diese Contraselection gestattet,
sollte mindestens nicht vertheidigt werden, wie Ammon
es in seiner Abhandlung über die Socialdemokratie thut.
Aus allen diesen Bemerkungen über die ökonomische
Ausmerzung scheint es somit keineswegs ohne Weiteres klar,
dass die Reichen im Kampf um’s Dasein, d. h. um Eigen-
erhaltung und Nachwuchs über die Armen den Sieg
davon tragen, also in stärkerem Grade beim Aufbau der
folgenden Generation betheiligt sind. Die Reichen haben
geringe Sterblichkeit, aber auch wenig Geburten, die
Armen haben grosse Sterblichkeit, aber viel Geburten.
Erst der relative Geburten-Überschuss in beiden Classen
würde uns zeigen, welche sich stärker vermehrt. Ziffern
hierüber sind schwer erhältlich. Soviel scheint festzustehen,
dass sowohl die reichsten Geschlechter wie die ärmsten
Proletarier einer Entartung und allmählichen Ausmerzung
verfallen. Wie dagegen das Verhältniss sich stellt nicht
zwischen Reichsten und Ärmsten, sondern zwischen einer
wohlhabenderen und ärmeren Hälfte, das bleibt dahin-
gestellt, schon weil die heutige langsame Zerbröckelung des
Mittelstandes durch nonselectorische wirthschaftliche Factoren
das Erkennen der selectorischen Verschiebung verhüllt. Und
doch wäre die Entscheidung dieser Frage von so grosser
Wichtigkeit für den Fall, dass die ärmeren Classen durch-
schnittlich ein schlechteres Menschenmaterial umfassten.
Darwin und Hiram Stanley neigen, wie aus den von
mir weiter unten angeführten Citaten hervorgeht, mehr
zu der Annahme, dass durch die starke Contraselection
bei den Wohlhabenden die ärmere Hälfte es ist, die die
Continuität der Rasse hauptsächlich bewirkt. Auch ich
kann mich unter dem Eindruck vieler Thatsachen nicht
erwehren, an den generativen Ersatz unserer Cultur-Rassen
durch ihre ärmere Hälfte zu glauben.
Die grösste Rolle spielt die ökonomische Ausmerzung
jedenfalls innerhalb der verschiedenen Gesell-
schaftsclassen selbst, hauptsächlich bedingt durch
das zähe Festhalten der Menschen an der Stufe ihrer
gewohnten Lebenshaltung, das bei wirthschaftlicher Be-
drängniss zur Vermeidung der Ehe und zu Einschränkung
der für die Gesundheit nothwendigen Ausgaben zu Gunsten
von Äusserlichkeiten tendirt.
Werfen wir nun einen Blick auf das Verhältniss der
Armuth zum Rassenprocess zurück, so erscheint als fest-
stehend, dass ein Theil der Armuth die ökonomische
Ausjäte repräsentirt, dass aber auch ein sehr beträchtlicher
Theil der Armuth die Folge nonselectorischer Einwirkungen
wie Krisen und anderer Erscheinungen des capitalistischen
Systems ist. Da dieser nonselectorische Theil dieselben
schlechten Folgen für die Gesundheit der betroffenen
Individuen und der von ihnen erzeugten Kinder hat, wie
der selectorische Theil der Armuth, so liegt im Gegensatz
zu letzterem sein bedeutender Schaden für den Rassen-
process durch die bewirkte Erzeugung vieler schlechten
Devarianten auf der Hand. Das heutige capitalistische
System ist also durchaus nicht mit den reinen rassen-
hygienischen Forderungen in Übereinstimmung, wie uns so
manche Darwinianer glauben machen wollen.
Fahren wir nun in dem Vergleich unserer heutigen
Zustände mit der rassenhygienischen Utopie fort. Wir sind
durch die Erwähnung der Ammon’schen Ausführungen
auf die Contraselection gekommen, und wollen diese weiter
verfolgen.